Grundlagentexte aus der Aufbauphase 2008/2009
Grundlagentexte aus der Aufbauphase 2008/2009
Grundlagentexte aus der Aufbauphase 2008/2009
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Aktuell greifen Wissmann und Gronemeyer diese<br />
Kritik auf und ergänzen sie um einen wichtigen<br />
Punkt:<br />
„Der aufblühende Sozialstaat hat Abhängigkeiten<br />
geschaffen, die nun - da es zu viele Abhängigkeiten<br />
gibt, die (angeblich) nicht mehr bezahlbar sind<br />
– ein Gefühl erzeugen, wie es <strong>der</strong> Säugling hat,<br />
dem die Mutterbrust entzogen wird. Eine zunehmend<br />
von neoliberalen Ideen infizierte Sozialpolitik<br />
verweist den Einzelnen auf seine Eigeninitiative<br />
– er soll selbst für sein Alter vorsorgen, soll sich<br />
den Gesundheitsimperativen beugen (Bewegung,<br />
gesundes Essen etc.) und sich ehrenamtlich-freiwillig<br />
betätigen, um die entstandenen Löcher im<br />
sozialen Netz selbst zu flicken.“ 12<br />
Dieser Interpretation zufolge ist bürgerschaftliches<br />
Engagement zum einen ein wichtiges Korrektiv<br />
gegen die „Industrialisierung des Sozialen“, gerade<br />
weil es nicht in <strong>der</strong> Logik von Professionen<br />
denkt und handelt, son<strong>der</strong>n für eine Beachtung<br />
von informellen Netzwerken, für eine bürgerschaftliche<br />
Verantwortung vor Ort und für die Beachtung<br />
<strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Generalisten und<br />
Praktiker des Alltags steht. Zweitens steht ein Engagement<br />
für die Zivilgesellschaft immer in einer<br />
Ambivalenz – zwischen <strong>der</strong> Notwendigkeit und<br />
<strong>der</strong> „Schönheit“ des zivilgesellschaftlichen Engagements<br />
und dem Missbrauch als billige Arbeitskraft<br />
im Kontext einer neoliberalen Wirtschaftsund<br />
Sozialpolitik.<br />
3. BELA III STELLT EINE GEGEN-<br />
ÖFFENTLICHKEIT DAR<br />
In <strong>der</strong> öffentlichen Debatte stehen häufig die<br />
Mängel, Skandale und Missstände in <strong>der</strong> stationären<br />
Altenhilfe, beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Pflege, im Mittelpunkt.<br />
Interessant für die Medien sind Negativberichte:<br />
„Betroffene“ werden vor die Kameras gebracht,<br />
<strong>der</strong>en subjektive Perspektive öffentlich<br />
inszeniert. Eine seriöse Analyse <strong>der</strong> Ursachen,<br />
Hintergründe und Bedingungen unterbleibt. Viel<br />
zu wenig werden positive Beispiele öffentlichkeitswirksam<br />
wahrgenommen, Reformansätze diskutiert,<br />
wird Engagement zur Verbesserung <strong>der</strong> Lebensqualität<br />
von alten Menschen gewürdigt. Gerade<br />
dieses „Zurechtrücken“ <strong>der</strong> Einseitigkeit (und<br />
damit auch Falschheit) <strong>der</strong> öffentlichen Berichterstattung<br />
ist eine wichtige Aufgabe <strong>der</strong> bürgerschaftlich<br />
Engagierten. Sie sind direkt in das<br />
„wirkliche“ Leben vor Ort involviert, können <strong>aus</strong><br />
ihrer Sicht die Dinge darstellen und leisten einen<br />
wichtigen Beitrag wie<strong>der</strong>um zur Korrektur – diesmal<br />
allerdings einer medial verzerrten Darstellung<br />
<strong>der</strong> Realität in Heimen.<br />
4. BELA III IST EIN BEITRAG ZUR<br />
ÖFFNUNG DER HEIME<br />
Die Öffnung <strong>der</strong> Heime von innen und von außen<br />
steht an. Die Öffnung von außen meint, dass <strong>der</strong><br />
Kontakt zur Bürgergesellschaft intensiviert wird,<br />
Besuchsdienste regelmäßig ins H<strong>aus</strong> kommen, eine<br />
Perspektive von außen in die Einrichtung hineingetragen<br />
wird. Dazu gehört auch die Beteiligung<br />
<strong>der</strong> politischen Gemeinde. Ergänzt, erweitert<br />
und unterstützt werden muss diese<br />
Öffnung von außen durch eine Öffnung von innen.<br />
Dies bedeutet eine nachhaltige Än<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> Organisationen, bei <strong>der</strong> die Logik <strong>der</strong> „Totalversorgung“<br />
und Institutionalisierung unterbrochen<br />
wird. Es geht darum, dass Heime sich (auch)<br />
als ein Angebot für das Wohnquartier bzw. das<br />
Wohnumfeld sehen. Nicht allein die Pflege und<br />
die Versorgung, son<strong>der</strong>n z.B. die Bereitstellung<br />
von Räumen, etwa für ein Bürgerbüro, für Kulturund<br />
Bildungsaktivitäten ist möglich, so dass sich<br />
das Heim stärker als integraler Bestandteil eines<br />
größeren Ganzen, eingebettet in kommunale Verantwortlichkeiten<br />
definiert. Damit verbunden ist<br />
letztlich eine Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Leitenden;<br />
im Kern geht es um Kooperation und<br />
Kommunikation verschiedener Einrichtungen.<br />
5. BELA III BIETET DIE CHANCE<br />
FÜR EINE „FAIRE“ KOOPERATION<br />
ALS GRUNDLAGE DER ALTEN-<br />
ARBEIT<br />
Nach Bettmer 13 gibt es zwei Aspekte, die für eine<br />
faire Kooperation zu bedenken sind (s.o.): die<br />
verschiedenen Ausgangsbedingungen <strong>der</strong> bürgerschaftlich<br />
Engagierten und <strong>der</strong> Profis sowie die<br />
Eigenlogik <strong>der</strong> Organisationen. Organisationen<br />
sollen die internen Bedingungen für die Kooperation<br />
bereitstellen, indem sie organisationsexternen<br />
Personen Möglichkeiten zur Partizipation und Beteiligung<br />
eröffnen. Beide Aspekte sind nur dann<br />
(relativ) konfliktfrei zu lösen, wenn die Öffnung<br />
<strong>der</strong> Organisationen für bürgerschaftliches Engagement<br />
einen so genannten Mehrwert für die<br />
Organisationen selbst verspricht. Ein entsprechendes<br />
Modell dafür kann man – wie im vorigen Text<br />
erwähnt – <strong>der</strong> „Theorie <strong>der</strong> Gerechtigkeit“ des<br />
großen amerikanischen Philosophen John Rawls<br />
(1975) entnehmen.<br />
FAZIT<br />
BELA III verän<strong>der</strong>t vieles. Der wesentliche Punkt<br />
dabei ist, dass BELA III einen wichtigen Beitrag<br />
zum Pflege-Mix darstellt. Die Pflege <strong>der</strong> Zukunft<br />
(aber auch schon <strong>der</strong> Gegenwart) kann nur im Zusammenwirken<br />
von Professionellen und bürgerschaftlich<br />
Engagierten gelingen: die Perspektiven<br />
müssen und sollen sich ergänzen. Das Leben ist<br />
vielfältig, BELA III ist es auch. Und insofern leistet<br />
BELA III einen Beitrag zum Wandel <strong>der</strong> Pflegekultur<br />
in Deutschland – einfach ist das nicht, aber –<br />
alternativlos.<br />
LITERATUR:<br />
Bettmer, Franz: „Faire Kooperation“<br />
als Grundlage bürgerschaftlichen Engagements.<br />
Baltmannsweiler <strong>2008</strong><br />
Förstl, Hans: „Demenzen in Theorie und Praxis.<br />
Von <strong>der</strong> Anthropologie zur Therapie“<br />
In: Wetzstein, Verena (Hg.): Ertrunken im Meer<br />
des Vergessens? Alzheimer-Demenz im Spiegel<br />
von Ethik, Medizin und Pflege. Freiburg 2005.<br />
S. 31 – 40<br />
Höhmann, Ulrike: „Vor<strong>aus</strong>setzungen und<br />
Möglichkeiten berufs- und einrichtungsübergreifen<strong>der</strong><br />
Kooperation zur Verbesserung <strong>der</strong><br />
Versorgungsqualität pflegebedürftiger<br />
Menschen“ In: Stemmer, Renate (Hg.): Qualität<br />
in <strong>der</strong> Pflege – trotz knapper Ressourcen.<br />
Hannover <strong>2009</strong>. S. 11 – 28<br />
Höhmann, Ulrike/ Müller-Mundt, Gabriele/<br />
Schulz, Brigitte: Qualität durch Kooperation.<br />
Frankfurt 1998<br />
Huber, Josef: Die verlorene Unschuld <strong>der</strong><br />
Ökologie. Frankfurt am Main 1982<br />
Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt<br />
am Main 2003<br />
Rawls, John:<br />
Eine Theorie <strong>der</strong> Gerechtigkeit. Frankfurt am<br />
Main 1979<br />
Wissmann, Peter/ Gronemeyer, Reimer:<br />
Demenz und Zivilgesellschaft – eine Streitschrift.<br />
Frankfurt <strong>2008</strong><br />
38 39