Grundlagentexte aus der Aufbauphase 2008/2009
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HILFE BEI DEMENZ<br />
66<br />
4.3. WAS MENSCHEN<br />
MIT DEMENZ GEBEN KÖNNEN –<br />
UND WAS SIE VON UNS<br />
BRAUCHEN<br />
Gabriele Scholz-Weinrich<br />
Sozialgerontologin, Bad Vilbel<br />
Gekürztes Redemanuskript zum Start<br />
<strong>der</strong> Demenzbegleitung-Fortbildungsreihe<br />
in Ludwigsburg, Frühsommer <strong>2009</strong><br />
Demenz ist ein umfassendes und komplexes Thema,<br />
das unter sehr vielschichtigen Gesichtspunkten<br />
erörtert werden kann. Im folgenden werden<br />
daher einige wenige Aspekte aufgegriffen. Beim<br />
Definieren des Begriffs „Demenz“ lässt sich zunächst<br />
ein Feld <strong>der</strong> Assoziationen aufspannen, in<br />
dem <strong>der</strong> Begriff meist wahr genommen wird. Negative<br />
und positive Konnotationen können hier<br />
gegenübergestellt werden:<br />
DEPRESSION VS. SOLIDARITÄT<br />
ALLEIN VS. ENGAGEMENT<br />
UNMUT VS. GEMEINSCHAFT<br />
DURCHEINANDER VS. FREIWILLIG<br />
ANGST VS. HERAUSFORDERUNG<br />
ZIELLOS VS. ZUSAMMEN<br />
Demenz gilt in <strong>der</strong> öffentlichen Wahrnehmung<br />
fast immer als <strong>der</strong> Begriff für ein negativ, defizitär<br />
o<strong>der</strong> auch angstbesetztes Krankheitsbild und wird<br />
meist lediglich unter medizinischen und/ o<strong>der</strong> finanziellen<br />
Aspekten erörtert. In Deutschland leben<br />
ca. 1,2 Millionen Menschen mit Demenz, ca.<br />
70% davon werden in häuslichem Umfeld betreut<br />
- vor allem in den ländlichen Gebieten sind sie in<br />
familiären Strukturen eingebunden. Jedoch fehlt<br />
dieser häuslichen Pflege oft die ergänzende Unterstützung.<br />
Die restlichen 30% leben in Einrichtungen<br />
<strong>der</strong> Altenhilfe, meist in Alten-Pflegeheimen,<br />
da alternative Wohn- und Lebensformen bisher<br />
noch eine eher untergeordnete Rolle spielen, diese<br />
erst langsam entstehen.<br />
Aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Einrichtungen <strong>der</strong> Altenhilfe<br />
sind ca. 50 - 70% <strong>der</strong> Bewohner dem Personenkreis<br />
<strong>der</strong> an Demenz erkrankten Personen zuzuordnen<br />
und eine demenzielle Erkrankung gilt<br />
zwischenzeitlich als häufigster Grund für eine<br />
Heimübersiedlung.<br />
Demenz ist <strong>der</strong> Oberbegriff für Erkrankungsbil<strong>der</strong>,<br />
die mit einem Verlust <strong>der</strong> geistigen Funktionen<br />
wie Denken, Erinnern, Orientieren und Verknüpfen<br />
von Denkinhalten einhergehen. Menschen mit<br />
Demenz erleben im Verlauf ihrer Erkrankung vielschichtige<br />
Beeinträchtigungen, letztendlich bedeutet<br />
an einer Demenz zu erkranken, perspektivisch<br />
an <strong>der</strong> Bewältigung des Alltags zu scheitern.<br />
Allerdings muss immer bedacht werden, dass<br />
Menschen mit Demenz natürlich keine homogene<br />
Gruppe bilden. Sie unterscheiden sich u.a. durch<br />
die Art <strong>der</strong> Demenz, das Stadium <strong>der</strong> Erkrankung,<br />
die Ausprägung <strong>der</strong> Symptome, den Grad <strong>der</strong> Mobilität<br />
und <strong>der</strong> Persönlichkeitsstruktur. Für alle<br />
Menschen mit Demenz ist wichtig, die Selbstachtung<br />
und -bestimmung zu erhalten, mithin ein positives<br />
Fremdbild zu erfahren. Daher reagieren viele<br />
Betroffene zunächst mit Bagatellisierung <strong>der</strong><br />
Krankheit, mit Verleugnung, Projektion, Angst<br />
und Scham, sozialem Rückzug, Depressionen und<br />
Verzweiflung.<br />
Dies zeigt deutlich, dass die kognitiven und intellektuellen<br />
Kompetenzen <strong>der</strong> Menschen zwar zunehmend<br />
eingeschränkt sind, die emotionalen<br />
und sozialen Kompetenzen aber nach wie vor uneingeschränkt<br />
präsent sind. Dar<strong>aus</strong> leitet sich die<br />
Frage ab, was Menschen mit Demenz brauchen,<br />
welche Hilfsangebote für sie wirksam sein können.<br />
Grundsätzlich sollten die verschiedenen Möglichkeiten<br />
und Inhalte <strong>der</strong> Betreuung, Begleitung und<br />
Versorgung jeweils an den jeweiligen Menschen<br />
und dessen Bedarfslage orientiert sein. Insgesamt<br />
geht es bei <strong>der</strong> Begleitung und Pflege von Menschen<br />
mit Demenz darum, eine „neue Kultur des<br />
Helfens“ zu entwickeln, Verantwortung zu übernehmen<br />
und dafür die entsprechenden Vor<strong>aus</strong>setzungen<br />
zu schaffen – immer auf <strong>der</strong> Grundlage einer<br />
ethischen und akzeptierenden Grundhaltung.<br />
Denn eine Definition bzw. Wahrnehmung <strong>der</strong><br />
Menschen mit Demenz <strong>aus</strong>schließlich über das<br />
Krankheitsbild ist ethisch und fachlich inakzeptabel.<br />
Um den unterschiedlichen Lebensstilen und<br />
Bedürfnissen Rechnung zu tragen, sind entsprechende,<br />
angemessene Unterstützungsformen zu<br />
entwickeln, jeweils im Zusammenspiel von pflegerischen<br />
/ therapeutischen/ medizinischen Fachkräften,Angehörigen<br />
und freiwillig bzw. bürgerschaftlich<br />
Tätigen. Die Begleitung von Menschen mit<br />
Demenz sollte nicht kritiklos nur den so genannten<br />
Spezialisten überlassen bleiben, auch Angehörige<br />
und Freiwillige sind als Experten einzubinden.<br />
Gemeinsam kann dann auf die jeweiligen Bedürfnisse<br />
<strong>der</strong> Menschen mit Demenz eingegangen<br />
werden, bspw. dem Bedürfnis nach Bewahrung<br />
<strong>der</strong> Identität, nach Zuwendung und Geborgenheit,<br />
Sicherheit und Schutz, aber auch nach sozialer<br />
Anerkennung und Einbindung, nach Erfolgserlebnissen<br />
und Anerkennung und ebenso nach<br />
Spaß und Freude – auch danach, Sexualität zu leben.<br />
Generell geht es um die Befriedigung <strong>der</strong><br />
Grundbedürfnisse. In allen Kontakten und Begegnungen<br />
ist immer zu berücksichtigen, dass nicht<br />
die Defizite im Vor<strong>der</strong>grund stehen, son<strong>der</strong>n die<br />
Erhaltung <strong>der</strong> Individualität und die Wahrnehmung<br />
<strong>der</strong> Fähigkeiten und Kompetenzen eines jeden<br />
Einzelnen.<br />
Auf <strong>der</strong> Handlungsebene kann dies bedeuten,<br />
dass eine wertschätzende Grundhaltung angenommen<br />
und bspw. auch auf eine angemessene<br />
Kommunikation geachtet wird. Generell sollte den<br />
Menschen mit Demenz eine größtmögliche Selbständigkeit<br />
z.B. bei Körperpflege o<strong>der</strong> Nahrungs-<br />
aufnahme eingeräumt und die „Beschäftigung“<br />
den persönlichen Interessen angepasst werden.<br />
Wie bei jedem Menschen ist eine positive Verstärkung<br />
und die Vermittlung von Interesse und Zuneigung<br />
wichtig, das Unterstreichen <strong>der</strong> liebenswerten<br />
und nicht <strong>der</strong> her<strong>aus</strong>for<strong>der</strong>nden Verhaltensweisen.<br />
Für die begleitenden Menschen bedeutet dies<br />
nicht nur, sich (neuen) Her<strong>aus</strong>for<strong>der</strong>ungen zu stellen,<br />
son<strong>der</strong>n auch, den Zugang zu einer an<strong>der</strong>en<br />
Realität zu bekommen, die eigenen Grenzen zu<br />
erkennen und wenn möglich zu überschreiten.<br />
Dies bedeutet auch, nicht in Aktionismus zu verfallen,<br />
son<strong>der</strong>n individuell sich auf das Tempo und<br />
die emotionalen und sozialen Gegebenheiten <strong>der</strong><br />
Menschen mit Demenz einzulassen. Dabei wird<br />
die eigene Beziehungsfähigkeit gefor<strong>der</strong>t und geför<strong>der</strong>t,<br />
das eigene kommunikative Verhalten<br />
muss reflektiert werden – und zusätzlich bietet<br />
dies für die begleitende Person die Möglichkeit, an<br />
<strong>der</strong> Lebensgeschichte und dem Erfahrungswissen<br />
des Menschen mit Demenz zu partizipieren.<br />
Menschen mit Demenz sind jedoch nicht nur von<br />
einer (individuellen) angemessenen Beziehungsgestaltung<br />
abhängig, son<strong>der</strong>n auch von gesellschaftlichen<br />
und sozialpolitischen Rahmenbedingungen.<br />
Großer Handlungsbedarf besteht vor allem darin,<br />
Verän<strong>der</strong>ungen anzustoßen, und das Thema Demenz<br />
in den Kommunen und <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />
transparent zu machen, diese zu sensibilisieren<br />
und den Menschen mit Demenz so eine Teilhabe<br />
am Leben in <strong>der</strong> Kommune bzw. <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
zu ermöglichen. Menschen mit Demenz müssen in<br />
erster Linie als Mitbürger und nicht als Kranke<br />
wahrgenommen werden. Dann kann auch ein<br />
besseres Miteinan<strong>der</strong> und ein größeres Interesse<br />
an nachbarschaftlicher Hilfe bzw. bürgerschaftlichem<br />
Engagement angeregt werden. Nicht zuletzt<br />
können dann auch Versorgungslücken aufgezeigt<br />
und zu <strong>der</strong>en Beseitigung beigetragen werden.<br />
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