Das Volk: eine furchtbare Abstraktion (pdf) - Neoprene
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Nach und nach haben sich alle konkurrierenden Interessengruppen, die im bürgerlichen<br />
Gemeinwesen <strong>eine</strong> wichtige Rolle spielen, als Parteien organisiert und ihren Anteil an<br />
der Gestaltung des Gemeinwohls durch die Staatsgewalt erstritten. In dem Maße, wie<br />
ihnen das gelungen ist, haben nicht zuletzt die Aktivisten dieses politischen Pluralismus<br />
selber die Forderung aufgebracht, alle Fraktionen des <strong>Volk</strong>es müssten sich<br />
untereinander über alles Trennende hinweg in ihrem gemeinsamen Staatswillen<br />
unbedingt einig werden. Die Parteienvielfalt hat sich durch umso mehr gewusste und<br />
gewollte Einigkeit der passiv wie aktiv Wahlberechtigten zu rechtfertigen − steht also<br />
unter Verdacht, dieses kostbare Gut zu gefährden; der Dialektik ihres Herrschaftssystems:<br />
der politischen Anerkennung divergierender Interessen und unzufriedener Meinungen als<br />
Methode ihrer politischen Befriedung und Einbindung, trauen Demokraten auch heute<br />
nicht hundertprozentig. <strong>Das</strong> entsprechende Misstrauen richtet sich seit jeher vor allem<br />
gegen linke Parteien, die sich programmatisch für die besonderen, partikularen<br />
Bedürfnisse <strong>eine</strong>r Klasse einsetzen, die eindeutig das schlechteste Los in der<br />
<strong>Volk</strong>sgemeinschaft gezogen hat, also alle Gründe zur Ablehnung der herrschenden<br />
Ordnung hätte und anfangs ja auch ziemlich starke Tendenzen in dieser Richtung gezeigt<br />
hat. <strong>Das</strong>s die Sozialdemokratie mit ihrem Einsatz für politische Gleichberechtigung und<br />
soziale Betreuung der ,Unterprivilegierten’ <strong>eine</strong>n entscheidenden Beitrag zur Einbindung<br />
dieser Leute in die ,<strong>Volk</strong>sgemeinschaft’, in der sie den Platz der Unterschicht besetzen<br />
dürfen, und zum Erfolg des demokratisch verfassten Klassenstaats leistet, stand noch nicht<br />
einmal für alle Sozialdemokraten gleich außer Zweifel; für ihre politischen Gegner war<br />
sofort klar, dass ihre Politik dazu angetan oder sogar darauf angelegt wäre, brav und<br />
genügsam arbeitendes <strong>Volk</strong> s<strong>eine</strong>r Bestimmung zu entfremden, es mit der Erzeugung<br />
<strong>eine</strong>s − „künstlichen!“ − Klassenbewusstseins in <strong>eine</strong>n Gegensatz zum Gemeinwesen und<br />
dessen besseren Ständen hineinzumanövrieren, ,Sozialneid’ zu wecken − der Vorwurf<br />
trifft bekanntlich noch heute jeden, dem es nicht auf Anhieb gefällt, dass die Reichen<br />
immer reicher und Arme immer ärmer werden − und so die nationale Gemeinschaft zu<br />
zersetzen.<br />
Den Verdacht, es würden, statt die Reihen des <strong>Volk</strong>es hinter s<strong>eine</strong>r Führung zu<br />
schließen, lauter Sonderinteressen gefördert, Entzweiung zugelassen, ,Politikverdrossenheit’<br />
produziert und andere dem nationalen Gemeinsinn abträgliche Haltungen freigesetzt,<br />
pflegen patriotische Gemüter und kritische Anwälte <strong>eine</strong>r durchsetzungsfähigen<br />
Staatsgewalt auf die Demokratie insgesamt − auf die Lizenz, Interessen politisch zu<br />
organisieren, und auf die Institution freier Wahlen − auszudehnen, sobald sie <strong>eine</strong>n Anlass<br />
zu ernsterer Sorge finden. Wenn <strong>eine</strong> gewählte Regierung nach der anderen ihnen zu<br />
schwach vorkommt, die Opposition zu frech, die Nation zu erfolglos, das <strong>Volk</strong> zu<br />
zerstritten, dann erteilen sie nicht bloß den gerade amtierenden Amtsträgern <strong>eine</strong> Absage,<br />
sondern erklären ihr Misstrauen gegen das ganze System: Staatsführer, die um die Gunst<br />
<strong>eine</strong>r Mehrheit des egalitär wahlberechtigten <strong>Volk</strong>es „buhlen“ müssen, nähmen viel zu<br />
viel Rücksicht auf einzelne Gruppen und vor allem auf die problematischen Bedürfnisse<br />
der Massen; Parteimenschen wären im Grunde überhaupt nicht geeignet, das <strong>Volk</strong> zu<br />
<strong>eine</strong>n und zu neuen nationalen Erfolgen zu führen.5) Wenn es ganz schlimm kommt, ist<br />
5) Demokratische <strong>Volk</strong>serzieher fragen sich in so zugespitzter Lage dann besorgt, ob womöglich nur bei politischem<br />
,Schönwetter’, also bloß so lange demokratisch funktioniert, wie ihm härtere Bewährungsproben erspart bleiben, in<br />
Krisenzeiten jedoch die harte Hand <strong>eine</strong>s Diktators spüren möchte. Demokratische Politiker konkurrieren derweil um das<br />
Mandat für den praktischen Beweis, dass sie ein solches <strong>Volk</strong>sbedürfnis gut verstehen können, vorauseilend zu bedienen<br />
vermögen und <strong>eine</strong> von ihnen gemanagte ,wehrhafte’ „Allwetter“-Demokratie locker hinkriegt, was ihre misstrauischen<br />
Kritiker nur <strong>eine</strong>r über alle demokratischen Prozeduren erhabenen Führerfigur zutrauen.