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Das Volk: eine furchtbare Abstraktion (pdf) - Neoprene

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intellektuellen Elite auch voll Recht und erfährt Ermunterung und umfassende Anleitung. Die<br />

Geistesgrößen der Nation attestieren ihm <strong>eine</strong>n Charakter, der sich in allerlei spezifischen<br />

Tugenden, aber auch Untugenden äußert und in <strong>eine</strong>r ganz eigenen Lebensart verwirklicht. Sich<br />

selbst begreifen und stilisieren sie als die kritisch reflektierenden Repräsentanten der nationalen<br />

Kultur; <strong>eine</strong>rseits voll „verwurzelt“ im Heimatlichen, in der heimischen Sprache vor allem, deren<br />

unübersetzbare Tiefsinnigkeiten niemand so herauszufühlen vermag wie sie, und überhaupt in der<br />

Kontinuität wie den tragischen Diskontinuitäten der geistigen Tradition ihres <strong>Volk</strong>es. Die Distanz zu<br />

den Massen kommt dabei andererseits nicht zu kurz: All die großmütigen Wortzusammensetzungen<br />

von der <strong>Volk</strong>shochschule bis zum <strong>Volk</strong>stanz, von den <strong>Volk</strong>sbräuchen bis zum <strong>Volk</strong>stheater und<br />

vom <strong>Volk</strong>sbad bis zur <strong>Volk</strong>sbank machen schon im Sprachgebrauch deutlich, dass es sich beim<br />

<strong>Volk</strong> eben doch nicht einfach um die <strong>eine</strong>, alle <strong>Volk</strong>sgenossen ver<strong>eine</strong>nde große Sippschaft handelt,<br />

sondern, Demokratie hin oder her, um die niedere Basis <strong>eine</strong>s Herrschaftssystems. Soweit diese sich<br />

aber ihre Indienstnahme nicht nur gefallen lässt, sondern als ihre <strong>Volk</strong>snatur akzeptiert, wird ihr alle<br />

Ehre zuteil. Ihre volkstümlichen Sitten werden nicht bloß im <strong>Volk</strong>skundemuseum ausgestellt,<br />

sondern ebenso wie im Aussterben begriffene Dialekte gepflegt − ungeachtet des kl<strong>eine</strong>n<br />

Widerspruchs, der nun einmal darin liegt, ein Brauchtum zu inszenieren, um es zu erhalten. Je<br />

weniger die nationale Klassengesellschaft noch mit <strong>eine</strong>r ,Ethnie’ zu tun hat − nicht einmal<br />

Ethnologen würden dieses Etikett ganz im Ernst auf <strong>eine</strong> moderne ,Zivilgesellschaft’ anwenden −,<br />

umso intensiver bemüht sich die tonangebende Elite um <strong>eine</strong> <strong>Volk</strong>skultur: den Schein urwüchsiger<br />

Zusammengehörigkeit des <strong>Volk</strong>skörpers.<br />

Und beim bloßen Schein bleibt es nicht. Die Staatsgewalt höchstselbst belässt es nicht bei der<br />

Forderung nach <strong>eine</strong>r volkseigenen ,Leitkultur’ und deren Pflege. Sie betrachtet und behandelt ihre<br />

Eingeborenen als ihre „geborene“ Basis; nicht nur im Sinne der gesetzlichen Festlegung,<br />

dass die Abkömmlinge von Staatsangehörigen oder auf ihrem Staatsgebiet zur Welt<br />

gekommene Kinder per se dazugehören und nicht erst extra eingebürgert werden müssen. Auf<br />

nationalen Nachwuchs, auf <strong>eine</strong> Reproduktion ihres <strong>Volk</strong>skörpers aus eigener Aufzucht kommt<br />

es noch der modernsten Kapitalstandortverwaltung dermaßen an, dass sie beim Eintreffen<br />

problematischer Bevölkerungsstatistiken glatt um den Fortbestand ihres angestammten <strong>Volk</strong>es<br />

fürchtet und für <strong>eine</strong> ,aktive Bevölkerungspolitik’ sogar gutes „Geld in die Hand nimmt“, um<br />

es an werdende Mütter und gewordene Eltern zu verschenken. Ganz so, wie ein anständiges <strong>Volk</strong><br />

auf s<strong>eine</strong>r Herrschaft besteht, so besteht <strong>eine</strong> nationale Herrschaft auf ihrem <strong>Volk</strong>; gerade so, als<br />

könnte sie sich auf ihre Bürger nur dann hundertprozentig verlassen, wenn die per<br />

Geschlechtsverkehr zwischen Landeskindern zustande gekommen sind. 9) Auch der bürgerliche<br />

Staat des 21. Jahrhunderts will offenbar nicht bloß durch das gewohnheitsmäßige treue<br />

Mitmachen s<strong>eine</strong>r Leute tagaus tagein politisch und ökonomisch reproduziert werden, sondern<br />

auch biologisch durch deren Gebärverhalten und Familienleben; nicht bloß bestimmende<br />

Umwelt s<strong>eine</strong>s <strong>Volk</strong>es, sondern in dessen Genen verankert sein. In diesem Sinne wirkt er<br />

jedenfalls auf s<strong>eine</strong> Massen ein: gesetzlich, finanziell, und agitatorisch sowieso.<br />

So kriegt der Bürger s<strong>eine</strong> nationale Identität. Und die fühlt er regelrecht spätestens dann,<br />

wenn er es mit Fremden zu tun bekommt.<br />

9) Wer zuwandern darf, muss dementsprechend vor s<strong>eine</strong>r Einbürgerung <strong>eine</strong> Gesinnungsprüfung überstehen. Deren lächerlicher Charakter<br />

unterstreicht nur das Prinzip, das da zur Anwendung gelangt.

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