Das Volk: eine furchtbare Abstraktion (pdf) - Neoprene
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Die alltägliche Gewöhnung an <strong>eine</strong>n parteilich voreingenommenen vaterländischen<br />
Blick auf die Welt reicht den Advokaten <strong>eine</strong>s echten Patriotismus allerdings noch lange<br />
nicht; zumal sie in der Vielfalt besorgter Auffassungen gleich schon wieder Interessen-<br />
Partikularismus am Werk sehen und Entzweiung befürchten. Sie möchten <strong>eine</strong> fraglos<br />
selbstverständliche und zugleich ausdrückliche Identifizierung des <strong>Volk</strong>es mit der<br />
nationalen Sache haben, <strong>eine</strong> explizite Parteinahme für das nie in Frage gestellte, jeder<br />
Parteinahme zugrunde liegende nationale „Wir“. Der Widerspruch in diesem Verlangen<br />
stört sie nicht: Sie setzen ihn methodisch in die Tat um, indem sie für ein entschlossenes<br />
Bekenntnis zu naturwüchsiger Vaterlandsliebe werben und Gelegenheiten dafür<br />
inszenieren. Dabei greifen ausgewiesene Demokraten zielstrebig zu den Mitteln, die<br />
schon immer und überall in Gebrauch sind, wo <strong>eine</strong> Herrschaft ihre Identität mit ihren<br />
Untertanen beschwört. Sie präsentieren dem <strong>Volk</strong> den höchsten Amtsträger des Staates,<br />
gerne <strong>eine</strong> Symbolfigur außerhalb und oberhalb jeden Parteienzwistes, als<br />
Repräsentanten des allgem<strong>eine</strong>n, tief im <strong>Volk</strong> selbst verwurzelten Staatswillens und<br />
treiben um die Person <strong>eine</strong>n Kult, den <strong>eine</strong> allzeit zu Kritik aufgelegte Öffentlichkeit im<br />
Falle mangelnder Überzeugungskraft sowie in fremden Ländern als ,Personenkult’<br />
durchschaut und verachtet; zum Beispiel lassen sie die Spitzenfigur an hohen Festtagen<br />
Reden halten, die sie schon vorher für ,groß’ erklären, Bauwerke von nationaler<br />
Bedeutung ihrer Bestimmung übergeben, Orden verteilen, mit denen das Gemeinwesen<br />
bewährte Bürger und in diesen sich selber ehrt, usw. So verschaffen die Hüter der rechten<br />
Gesinnung der Macht <strong>eine</strong>n ,Sympathieträger’; etliche moderne Demokratien halten sich<br />
für diesen Zweck sogar eigens <strong>eine</strong> Monarchie mit <strong>eine</strong>r unendlichen Familiengeschichte,<br />
in deren Höhen und Tiefen das bürgerliche Familientier sein eigenes Privatleben in<br />
gehobener, zur Staatsaffäre verallgem<strong>eine</strong>rter Fassung wiederentdecken und die<br />
Herrschaft menschlich und sogar liebenswert finden kann. An nationalen Feiertagen,<br />
<strong>eine</strong>m unentbehrlichen Requisit patriotischer <strong>Volk</strong>sbildung, werden große Stunden der<br />
nationalen Geschichte, vorzugsweise bedeutende Siege, zu Gegenständen kollektiver<br />
Erinnerung aufbereitet, so als hätte das Publikum sie als eigenes Schicksal miterlebt. Der<br />
Opfer wird gedacht wie eigener Vertrauter; so fungieren sie als Beweisstücke für die<br />
Großartigkeit des Vaterlands, für das sie nicht geopfert wurden, sondern sich geopfert<br />
haben und das man als Nachfahre schon deswegen, um der opferbereiten Vorfahren<br />
willen, in höchsten Ehren zu halten hat. Nach der in der Praxis doch recht wirksamen<br />
volkspädagogischen Maxime, dass der demonstrative Vollzug ehrerbietiger Rituale −<br />
solange niemand lacht − auf die Gesinnung abfärbt und für ehrerbietige Gefühle sorgt,<br />
wird bei solchen und anderen Gelegenheiten ein immer gleiches Loblied auf die Nation<br />
intoniert und ein unverwechselbar buntes Tuch verglimpft: lauter Dinge, mit denen man<br />
gar nicht früh genug anfangen kann, damit sich schon im Stadium kindlicher Befangenheit,<br />
wenn die Kl<strong>eine</strong>n sich an alles Mögliche gewöhnen müssen, ohne die Gründe dafür<br />
zu kapieren, die richtige Einstellung herausbildet, in der der Mensch dann auch als<br />
Erwachsener befangen bleibt.<br />
Wirkungen bleiben nicht aus. Es bleibt nicht dabei, dass die Bürger sich an ihre<br />
Subsumtion unter <strong>eine</strong> nationale Staatsmacht gewöhnen und mit den dadurch gesetzten<br />
Lebensbedingungen gewohnheitsmäßig affirmativ umgehen. Die „Prägung“, die sie so<br />
erfahren und die ihnen zur ,zweiten Natur’ wird, erkennen sie als ihr kollektives<br />
volksgemeinschaftliches „Wesen“ und Teil ihrer Persönlichkeit an. Sie verstehen sich als<br />
besonderer, durch Geschichte und Landschaft, Sprache und Tradition und anderes mehr<br />
verbundener und herausgehobener Menschenschlag, ganz jenseits ihrer alles andere als<br />
gemeinschaftsdienlichen wirklichen sozialen Verhältnisse. Darin bekommt das <strong>Volk</strong> von s<strong>eine</strong>r