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Das Volk: eine furchtbare Abstraktion (pdf) - Neoprene

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Ein <strong>Volk</strong> lebt also die Fiktion <strong>eine</strong>r gemeinsamen Sache, die den imperialistischen<br />

Belangen der Staatsmacht und den materiellen Interessen der Leute gleichermaßen Genüge<br />

täte; und es verfügt über Gesichtspunkte, sich dazu zu bekennen: über <strong>eine</strong><br />

Nationalideologie, die s<strong>eine</strong>m dienstbaren <strong>Das</strong>ein ein vorherbestimmtes Schicksal, <strong>eine</strong>n<br />

göttlichen Auftrag, <strong>eine</strong> rassische Auszeichnung − als „<strong>Volk</strong> der Dichter & Denker“ z.B.<br />

− oder sonst <strong>eine</strong>n tieferen Sinn nachsagt. In diesem Punkt haben es die modernen<br />

Völker, die mit <strong>eine</strong>r demokratischen ,Leitkultur’, zu <strong>eine</strong>r bemerkenswerten<br />

Errungenschaft gebracht: Sie glauben an die demokratische Methode der<br />

Ermächtigung der Regierenden durch „den Wähler“ als die − vielleicht nicht besonders<br />

gute, aber einzige und insofern − optimale Garantie dafür, dass staatliches Handeln und<br />

<strong>Volk</strong>es Wille zur Deckung kommen, so gut es überhaupt geht; also als das fundamentale<br />

Prinzip der „gemeinsamen Sache“, in der die materiellen Erfolge der Nation und die ihrer<br />

Insassen zusammenfallen. Sie verzichten deswegen nicht auf Legenden, die mehr das<br />

Gefühl ansprechen; aber jenseits aller derartigen Einbildungen beziehen Demokraten<br />

ihre Gewissheit, dass das, was sie von Staats wegen müssen, in letzter Instanz auch das<br />

ist, was sie im Grunde ihrer staatsbürgerlichen Vernunft wollen, aus ihrer<br />

systemeigenen Einbildung, sie wären mit der Wahl <strong>eine</strong>r herrschenden Figur oder Partei<br />

selber − irgendwie, letztlich... − Herr der Herrschaft geworden, die die Gewählten über sie<br />

ausüben. Durch ihr demokratisches Dogma lassen sie sich über ihre politischen<br />

Einsichten und Absichten belehren; dahingehend, dass sie in aller Freiheit so in etwa<br />

die Konkurrenzbemühungen in Auftrag gegeben haben, mit denen ihre Obrigkeit sie<br />

überrascht − wahrhaftig ein Geniestreich des abstrakten Denkens.<br />

So leben moderne, aufgeklärte Citoyens als <strong>Volk</strong> die radikale <strong>Abstraktion</strong> von ihren<br />

materiellen Lebensbedürfnissen und ihrer politischen Unzufriedenheit. Und das tun sie<br />

− wie alle Völker vor ihnen − bis zur letzten Konsequenz. Wenn ein Staat gegen <strong>eine</strong><br />

fremde Herrschaft losschlägt, weil er s<strong>eine</strong> „vitalen Interessen“ in Gefahr sieht, sich also<br />

am Leben und den Lebensmitteln fremder Untertanen vergreift, das Leben eigener Bürger<br />

aufs Spiel setzt und nationalen Reichtum opfert, dann „erkennt“ ein <strong>Volk</strong> in s<strong>eine</strong>r<br />

totalen Inanspruchnahme durch s<strong>eine</strong> höchsten Gewalten s<strong>eine</strong> Identität mit deren<br />

gewalttätigen Ansprüchen und will nichts weiter als den möglichst prompten<br />

„gemeinsamen“ Erfolg; und für die Gewissheit, dass es auf den auch ein abgrundtiefes<br />

Recht hat, bedient es sich nationaler Heldensagen, Kreuzzugsideen und dergleichen<br />

Sinnstiftungen mehr. Demokratische Völker krönen ihre Kriegsbereitschaft darüber<br />

hinaus mit der festen Überzeugung, als Missionare der einzig wahren Herrschaftsmethode<br />

unterwegs zu sein und den Völkern, die sie überfallen, nichts Geringeres als die<br />

Freiheit zu bringen. Dabei leisten sie sich neben und zusätzlich zu ihrer missionarischen<br />

Begeisterung den Luxus <strong>eine</strong>r peniblen Prüfung − hier tut sich <strong>eine</strong> kritische<br />

Öffentlichkeit gerne hervor −, ob die Regierenden bei ihren Kriegsentscheidungen auch<br />

den rechtlich vorgeschriebenen demokratischen Verfahrensweg eingehalten haben.<br />

Davon hängt es für ein demokratisch mündiges <strong>Volk</strong> nämlich ab, ob die Regierenden<br />

wirklich s<strong>eine</strong>n Kriegswillen vollstrecken, wenn sie es in ihrem Feldzug als Ressource<br />

einsetzen; ob, mit anderen Worten, das <strong>Volk</strong> wirklich in Auftrag gegeben hat, was s<strong>eine</strong><br />

Befehlshaber treiben und mit ihm anstellen – ob es also auch da tatsächlich will, was es muss. Am<br />

Ende entscheidet darüber natürlich auch in der Demokratie nichts weiter als der Sieg des Guten<br />

über das Böse. Und dafür schreckt ein demokratisches <strong>Volk</strong> vor k<strong>eine</strong>r Brutalität zurück, so<br />

wenig wie irgendein anderes oder irgendein „Selbstmord-Attentäter“.

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