Das Volk: eine furchtbare Abstraktion (pdf) - Neoprene
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bis zum nächsten Wahltermin, zu dem er korrigiert werden kann, wird fast schon zu<br />
lang, und die Sympathie der enttäuschten Machthaber und -aspiranten für ihre Basis leidet,<br />
wenn ein nennenswerter, nämlich irgendwie wahlwirksamer Protest gegen sozialpolitische<br />
oder auch andere Fortschritte des Gemeinwesens laut wird, die von den <strong>Volk</strong>sparteien<br />
ansonsten einvernehmlich für fällig erachtet und durchgesetzt werden. Und mit <strong>eine</strong>m<br />
Widerstand, der über <strong>eine</strong> letztlich folgenlose Proteststimme hinausgeht, macht das <strong>Volk</strong><br />
sich schon arg unbeliebt.<br />
In <strong>eine</strong>m solchen Fall − gottlob <strong>eine</strong> Ausnahme in funktionierenden Demokratien mit<br />
wohlerzogenen Wählern − gestaltet sich der herrschaftsfreie Diskurs, den die<br />
Verantwortlichen mit ihren für nichts verantwortlichen Bürgern führen, etwas ruppig.<br />
Gegen die protestierende Basis wird mit dem Verdikt ,Realitätsverweigerung’ zugeschlagen:<br />
Ohne jeden weiteren gedanklichen Zwischenschritt, ohne jedes noch so verkehrte<br />
Argument wird die traurige Wirklichkeit, gegen die der Protest sich richtet und zu der<br />
von den Machthabern Alternativen erbeten werden, als Beweis für die Unmöglichkeit<br />
jeglicher Alternative und Instanz gegen jede sachliche Berechtigung des Protestes<br />
geltend gemacht. Der Gegensatz zwischen der praktizierten Staatsräson und der Bedürfnislage<br />
der Massen wird, sobald die sich störend zu Wort melden, umstandslos den<br />
,Störern’ als grobe Dummheit und die Dummheit als böse Absicht: als ,Verweigerung’ zur<br />
Last gelegt. Friedfertige Demonstranten werden aus der Bürgerschaft ausgegrenzt, die in<br />
Gestalt ihrer Obrigkeit sich selbst beherrscht; gelten als ,die Straße’, der gewählte Mandatsträger<br />
schon deswegen nicht nachgeben dürfen, weil sie damit den wahren <strong>Volk</strong>swillen verraten<br />
würden, der sich in ihrer Wahl verbindlich manifestiert hat. Demokratische Parteien haben die<br />
Pflicht, gegen jede Unzufriedenheit von unten, die sich mit den gebotenen Wahlalternativen<br />
nicht bedient findet, immun zu bleiben und gegen widerspenstige Opfer <strong>eine</strong>r für alternativlos<br />
befundenen Politik unnachsichtig vorzugehen. Politiker, die <strong>eine</strong> derart geächtete Aufgeregtheit<br />
des <strong>Volk</strong>es für sich auszunutzen suchen, werden von ihren realitätstüchtigen Kollegen und<br />
<strong>eine</strong>r empörten Öffentlichkeit als ,Rattenfänger’ entlarvt: <strong>eine</strong> Bezichtigung, die einiges von der<br />
Verachtung verrät, die die herrschende Elite in der Demokratie für den Teil des <strong>Volk</strong>es hegt, der,<br />
aus welchen Gründen und mit welchen Anliegen auch immer, mit der geltenden Staatsräson in<br />
Konflikt gerät, also weder zu den Besserverdienenden gehört, deren notorischer Ärger über<br />
Steuern und Bürokratie voll in Ordnung geht, noch zu den Idealbildern der modernen<br />
,Zivilgesellschaft’, den „genussfreudigen Citoyens“, die mit ihrer Obrigkeit ganz locker auf<br />
gutem Fuß stehen, weil sie sich durch die nirgends wirklich eingeschränkt finden auf ihrem<br />
höchstpersönlichen Erfolgsweg. Freilich sollen sich die ärmeren Leute, auch wenn sie mal<br />
verdrießlich sind und für ,Protestparteien’ votieren, k<strong>eine</strong>swegs als Ratten beschimpft fühlen;<br />
solange jedenfalls nicht, wie sie für <strong>eine</strong> der <strong>Volk</strong>sparteien, die jeweils auf ihrer Seite im<br />
politischen Spektrum ,die Ränder abdecken’, noch ,erreichbar’ sind. Sie sollen nur daran erinnert<br />
werden, dass es rattenmäßig verkehrt und verwerflich ist, Demagogen nachzulaufen − das heißt<br />
wörtlich zwar nur „<strong>Volk</strong>sführer“, meint aber die falschen, die ohne Lizenz durch den Konsens<br />
der ausgewiesenen Demokraten, und macht deutlich, dass ehrliche Anti-Demagogen ihr <strong>Volk</strong> für<br />
<strong>eine</strong>n unmündigen, leicht manipulierbaren Haufen halten, der eben deswegen unbedingt von<br />
den Richtigen geführt werden muss, um nicht von den Falschen verführt zu werden.<br />
Die elitäre Verachtung des gem<strong>eine</strong>n <strong>Volk</strong>es durch s<strong>eine</strong> politischen Repräsentanten hat<br />
ihren Grund allemal in dem Befund, dass dessen rohe Bedürfnisse, auch wenn sie im Prinzip<br />
schon politisiert sind, also so gut es geht am Gemeinwohl Maß nehmen, von sich aus nie<br />
wirklich hundertprozentig zu den Erfordernissen <strong>eine</strong>s erfolgreichen Kapitalstandorts und