Akademiereport 2-06.pmd - Akademie für Politische Bildung Tutzing
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Was heißt <strong>Bildung</strong> heute?<br />
von Prof. Dr. Walter Schweidler, Ruhr-Universität Bochum<br />
...Wie also sieht der Begriff aus, den<br />
<strong>Bildung</strong> erfüllen muss, wie sie ein gebildeter<br />
Mensch begreift? Es ist, in<br />
eine <strong>für</strong> unseren Zusammenhang notgedrungen<br />
kurze These gefasst, ein<br />
Begriff vom erfüllten, gelingenden<br />
menschlichen Leben. „Nicht <strong>für</strong> die<br />
Schule, <strong>für</strong> das Leben lernen wir“: die<br />
alte Devise, die jeder Willkür und Bodenlosigkeit<br />
in Auswahl des <strong>Bildung</strong>sstoffs<br />
entgegensteht, bezieht sich eben<br />
auf einen solchen Begriff des menschlichen<br />
Lebens, das den eigentlichen<br />
Horizont sinnvollen Lernens konstituiert.<br />
Wer sie zitiert oder nach ihr lebt<br />
„Man kann weder sich selbst<br />
noch andere <strong>für</strong> die<br />
Anstrengung der <strong>Bildung</strong><br />
motivieren, indem man nach<br />
den Zwecken sucht, zu denen<br />
sie ein Mittel sein soll.“<br />
oder nach ihr lehrt, ohne eine Antwort<br />
auf die Frage zu haben, was denn hier<br />
mit „Leben“ gemeint ist, pervertiert sie<br />
zum ideologischen Instrument, denn<br />
dann ist das, wo<strong>für</strong> die Schule da ist,<br />
mit dem identisch, was der Schulmeister<br />
von ihr verlangt. Wer sie gebraucht<br />
und wer nach ihr lehrt, muss die Frage,<br />
was ein erfülltes, gelingendes Leben<br />
ist, nicht nur beantworten können,<br />
sondern sie sogar bewusst wecken und<br />
aufwerfen, um in ihrer Erörterung seinen<br />
Begriff von <strong>Bildung</strong> und damit sein<br />
Gebildetsein zu bewahrheiten.<br />
Was aber ist das: ein „erfülltes“, „gelingendes“<br />
Leben? Zum Begriff eines<br />
erfüllten Lebens gehören, um uns in<br />
unserem Kontext auf die wesentlichsten<br />
Eckpunkte zu beschränken, mindestens<br />
drei Elemente: die Natur dessen,<br />
der es lebt, die Nähe zu den Menschen,<br />
mit denen er es lebt und die<br />
Grenze, die das Leben zu dem macht,<br />
das es ist, das heißt der Tod. <strong>Bildung</strong><br />
ist der Inbegriff des Wissens, das die<br />
Bedeutung, die wenigstens diese drei<br />
<strong>Akademie</strong>-Report 2/2006<br />
Elemente: Natur, Nähe und Grenze, <strong>für</strong><br />
ein erfülltes Leben haben, zu erschließen<br />
vermag.<br />
Um den Kern betrogen<br />
„Natur“ ist in diesem Zusammenhang<br />
selbstverständlich nicht auf eine biologistische,<br />
sondern auf eine biographische,<br />
narrative Sicht vom menschlichen<br />
Leben zu beziehen. Das Leben,<br />
das eine Natur hat, ist nicht das eines<br />
genetisch definierten Exemplars der<br />
Art Homo sapiens, sondern der bios,<br />
die Geschichte eines sich zu sich verhaltenden<br />
und zu sich<br />
gestaltenden Individuums,<br />
das um sein Ende<br />
und damit um die Kostbarkeit<br />
seiner Zeit und<br />
den Wahlcharakter des<br />
Lebens weiß.<br />
„Natur“ in diesem Sinne<br />
ist nicht durch das konstituiert,<br />
worauf sich der<br />
ursprüngliche, alte aristotelische<br />
Naturbegriff bezieht, also die<br />
Artbestimmtheit des Individuums, sondern<br />
sie ist im Sinne der Dimension,<br />
die Cicero neu und revolutionär dem<br />
Begriff hinzugefügt hat, die Natur dieses<br />
Individuums selbst, wie sie sich aus<br />
seinen es von allen anderen Individuen<br />
unterscheidenden Talenten und deren<br />
Entfaltungsmöglichkeiten ergibt,<br />
also jene Natur, von der Cicero sagt,<br />
dass man sie verfehlt, wenn man der<br />
Natur anderer mehr als der eigenen<br />
folgt.<br />
Das Wesen der <strong>Bildung</strong> und das Prinzip<br />
der Auswahl des Stoffs, der zu ihr<br />
gehört, besteht entscheidend in dem<br />
Aufschluss, dem sie einem jeden Gebildeten<br />
über diese Natur seiner eigenen<br />
Persönlichkeit gibt. Solchen Aufschluss<br />
zu verlangen, ist das grundlegende<br />
Recht des zu bildenden Menschen<br />
im Prozess seiner <strong>Bildung</strong>. Es<br />
gibt aber keine elementarere Grenze,<br />
von der her man Aufschluss über die<br />
eigene Persönlichkeit erhält, als die<br />
Grenze zwischen dem, was man kann<br />
Ein dickes philosophisches<br />
Brett gab der Bochumer<br />
Philosoph Walter Schweidler<br />
den Teilnehmern unserer<br />
schulpolitischen Fachtagung<br />
zum Bohren. Fernab kurzatmiger<br />
Reformdebatten setzte<br />
sich Schweidler grundsätzlich<br />
und prinzipiell mit dem<br />
<strong>Bildung</strong>sbegriff auseinander.<br />
In der Diskussion wurde aber<br />
deutlich, dass die deutsche<br />
Schullandschaft und -praxis<br />
Lichtjahre von seinen Forderungen<br />
entfernt ist. Wir<br />
dokumentieren den Vortrag,<br />
der auf begeisterte Resonanz<br />
stieß, in einer Kurzfassung.<br />
und was man nicht kann, wo<strong>für</strong> man<br />
geschaffen ist und wo<strong>für</strong> andere besser<br />
geeignet sind. Wer durch die ihn<br />
bildenden Menschen nicht darüber<br />
belehrt wird, wo<strong>für</strong> er geeignet und<br />
damit auch wo<strong>für</strong> er nicht geeignet ist,<br />
wem nicht klar und deutlich gesagt<br />
wird, dass er etwas schlecht und<br />
schlechter als andere und vielleicht<br />
niemals kann, der wird schon ex negativo<br />
um den Kern seiner <strong>Bildung</strong> betrogen,<br />
egal wie viele Kompensationsformeln<br />
man ihm verbal hinwirft. Darum<br />
ist die Note der Inbegriff zur <strong>Bildung</strong><br />
gehörender Erkenntnis, der Erkenntnis<br />
des zu bildenden durch den<br />
Gebildeten, und wer sich zur Note<br />
nicht bekennt, betrügt den anderen und<br />
sich selbst um diese Erkenntnis.<br />
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