Das Auge und die Rückkehr des Verdrängten in Stanley Kubricks ...

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22 6. Die Selbstreferentialität in Kubricks Filmen 6.1 2001 – ein neuer Kontinent des Schauens Über das tödliche Auge HALs sagt Kilb: „Nie zuvor hatte die Filmkamera so lange in das Auge einer Maschine geblickt. Und noch niemals hatte eine Maschine diesen Blick so schamlos erwidert. Durch das Auge von HAL, ein launisches, gieriges, am Ende gar mörderisches Auge, schaute, so schien es, das Kino sich selber an.“ 43 2001 erzählt von dem Wesen der Kinematographie selbst. “To convolute McLuhan, in 2001 the message is the medium.” 44 Er handelt damit von den Bedingungen der filmischen Wahrnehmung, und zwar als Exkurs über den Raum. Gerade im Kino sind räumliche und zeitliche Grenzen oft streng gezogen, in 2001 werden die räumlichen Grenzen aufgehoben. Durch die Kinoleinwand hindurch blickt dieser Film in Räume, die zuvor niemand gesehen hat. „Kubricks Film war ein neuer Kontinent des Schauens, eine Offenbarung in Bildern.“ 45 Die riesige Raumstation, die zu Strauß` Donauwalzer über den Bildschirm rotiert, der Todeskampf Pooles, der in den stillen Sphären des unendlichen Alls verschwindet, oder die Pupille Bowmans, in der sich der Farbenstrom spiegelt. Besonders einprägsam ist aber das rot leuchtende Auge HALS. „Der jeweilige Umschlag vom göttlichen ins rationalistische und dann ins dämonisch-panoptische Auge ist an HAL exemplifiziert, dessen eines Auge zugleich unmissverständlich als Kamera kodiert ist.“ 46 In der Szene, in der Bowman durch den „Lichttunnel“ stürzt, erleben wir eine weitere Transformation des Augenmotivs. Jeder Wechsel der gebrauchten Farbeintönung zeigt sich zunächst in der Iris Bowmans. Bowman scheint – wie der Zuschauer auch - ganz zu einem Auge zu werden, das sich genauso lustvoll wie beängstigt dem Anblick des Raumes hingibt. Während der zwanzigminütigen Schluss-Sequenz wird kein Wort gesprochen, und so sagt Kubrick selbst: “2001 is a nonverbal experience.” 47 Hier wird der Übergang von einer begrifflichen zu einer visuell orientierten Welt vollzogen. Der Zuschauer wird in die Illusion versetzt, selbst durch das Weltall zu fliegen. „Tribut an die Lust am Körpergefühl; Kino, das man spüren 43 Andreas Kilb: Der Herr des Auges: In: Stanley Kubrick. Red. Dieter Bertz. Berlin, Seite 19 44 Eric Nordern: Playboy Interview: Stanley Kubrick. In: Stanley Kubrick Interviews. Gene D. Phillips. New York 2001, Seite 47 45 Andreas Kilb: Der Herr des Auges, Seite 17 46 Kay Kirchmann: Das Schweigen der Bilder, Seite 170 47 Eric Nordern: Playboy Interview: Stanley Kubrick, Seite 47
23 kann.“ 48 Wahrscheinlich ist dies die längste Sequenz der Filmgeschichte, die mit Leuchtfarben operiert. „Kubrick ermöglicht den Eindruck von so etwas wie einer tatsächlichen Begegnung mit einer fremden Welt.“ 49 Aber nicht nur Bowman scheint in der führungslos dahinrasenden Raumkapsel zu sitzen, sondern auch die Zuschauer, vor denen sich ein Meer von Farben eröffnet. Für diese Szene ließ Kubrick eine Helikopterkamera über die zerklüftete Inselwelt der Neuen Hebriden und über die großartige Felsenlandschaft von Monument Valley fliegen. Danach wurden die Landschaftsteile in einer Kopieranstalt mit falschen und spektralreinen Farben versehen. Mikunda sieht die Wirkung dieser Szene darin, dass der Zuschauer eine „unmittelbare Erfahrung“ 50 erlebe, so dass er sich fallen lassen könne. Jegliche Inhaltssignale seien vermieden worden, die eine emotionale Bewertung der Farbaktivierung zulassen würden. Außerdem können in einem solchen Kontext die irrealen Farbverschiebungen durchaus als realistisch gelten. „Grelles Gelb, Blau, Grün, sind in dieser metaphysischen Gegenwelt, wie es scheint, vollkommen integriert.“ 51 Analog zu einem Drogenrausch und den daraus resultierenden Halluzinationen erlebt der Zuschauer ein psychedelisches Farbenmeer. Induzierte Bewegungsempfindungen und die Farbaktivierung vermitteln eine große Sinnlichkeit der Bilder. Eine irreale Welt öffnet sich hingegen vor den Augen Bowmans, kurz nachdem er durch den Lichtkorridor des Sternentores gestürzt ist. „Am Ende dieser Fahrt begegnet der 2001-Mensch seiner Ur-Zeit, also dem Jahrhundert der Aufklärung, Symbolzeit der modernen Intelligenz mit dem durchdringenden Blick, und zwar in einem Zimmer, einer `camera´.“ 52 Der erste Blick Bowmans aus dem augenähnlichen Fenster seiner dunklen Raumgondel in das helle Zimmer verstärkt die Assoziation der Kamera mit dem Auge. Bowman durchlebt eine Metamorphose bis hin zum alten Mann mit ständig wechselnder Kleidung, und gleichzeitig ändert sich das Inventar des Raumes mit jedem Bildschnitt. Jeder Blick bewirkt letztlich eine neue Inkarnation, bis Bowman schließlich als sterbender Greis auf dem Bett liegt. In der jeweiligen Inkarnationsstufe fixiert er einen imaginären Punkt 48 Christian Mikunda: Kino spüren. Strategien der emotionalen Filmgestaltung. Wien 2002, Seite 11 49 Ebd., Seite 252 f. 50 Ebd., Seite 252 51 Ebd., Seite 252 52 Hans-Thies Lehmann zitiert nach Kay Kirchmann: Das Schweigen der Bilder, Seite 172
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