VIERTELJAHRSHEFTE FÜR ZEITGESCHICHTE - Institut für ...
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112 Klaus Schwabe<br />
deutlichsten ihre Schatten voraus. Dennoch: Konkrete Annexionen - und zwar<br />
nicht nur im Sinne einer „Abgliederung", sondern als Eroberungsziele — verlangte<br />
zu diesem Zeitpunkt nur eine Gruppe baltischer Professoren, wie Th. Schiemann,<br />
R. Seeberg, J. Haller und F. Lezius 30 . In vertraulichen Äußerungen ist außerdem<br />
bisweilen noch die Rede von einer Änderung des Status quo in der polnischen Frage 31 .<br />
Von westlichen Annexionen - etwa dem später so behebten Plan einer Angliederung<br />
des Erzbeckens von Briey und Longwy — hört man so gut wie nichts 32 . Solchen<br />
Plänen stand bei den Professoren zu dieser Zeit noch die immer wieder geäußerte<br />
Hoffnung auf einen Sonderfrieden mit Frankreich und die damit verbundene Wiederbelebung<br />
alter Kontinentalbundvorstellungen im Wege — wie vieles von den sog.<br />
„Ideen von 1914" auch dies ein vorwiegend gefühlsmäßig begründetes Phänomen:<br />
Frankreichs „Revanche" konnte niemanden überraschen und rief deshalb nicht<br />
eine so empörte Reaktion hervor wie Englands Bündnis mit den russischen „Barbaren"<br />
33 . Bei dieser Haltung wurde auch der Wunsch nach einer Annexion Belgiens<br />
kaum öffentlich und nur selten in privaten Briefen laut 34 . Doch wurde ihm immerhin<br />
der Weg geebnet, indem man schon sehr früh Belgien selbst wegen seiner angeblich<br />
unneutralen Haltung die Schuld <strong>für</strong> sein Schicksal zusprach und sich daran<br />
gewöhnte, dieses „Kunstprodukt der Diplomatie" als zukünftige Außenposition der<br />
Entente zu betrachten 36 . Auch die Sache der Flamen wurde von einzelnen Gelehrten<br />
(z. B. G. Roethe) ziemlich früh entdeckt 36 .<br />
80<br />
Th. Schiemann, Deutschland und die große Politik anno 1914, 1915, S. 288 (Äußerung<br />
v. Nov. 1914); über die von ihm an die Reichskanzlei weitergeleitete Denkschrift vgl. unten<br />
S. 116, Anm. 52; R. Seeberg, Das sittliche Recht des Krieges, 7. IX. 1914, IMW, Jg. IX,<br />
Sp. 173; J. Haller, Gedanken eines Balten, SMhh, Sept. 1914, S. 813; Lezius an Kropatschek,<br />
17. X. 1914, SK, und an Seeberg, 13. VIII. 1914, ebd. Für A. v. Harnack, vgl. S. 131<br />
Anm. 113.<br />
31<br />
Delbrück an Lenz, 9. VIII. 1914, DB: . . . „Man gedenkt hier, in irgend einer Form ein<br />
unabhängiges Polen wiederherzustellen. Aber wie gefährlich ist ein solches Staatswesen <strong>für</strong><br />
den Frieden der Zukunft ..." Ähnlich an Lenz 24. VIII. 1914, ebd. Fester-Tagebuch, FK,<br />
unter 6. VIII. 1914; dagegen: O. Hoetzsch, Zeitgesch. Rückblick v. Okt. 1914, WMhh,<br />
Bd. 29, I, S. 301.<br />
32<br />
S. u. S. 113 ff. <strong>für</strong> die wenigen Ausnahmen!<br />
83<br />
Meinecke an Dove, 1. XI. 1914 (in: Ausgew. Briefe, S. 45): Er, Hintze u. Schäfer seien<br />
sich in diesem Gedanken einig gewesen. Auch Lenz an Delbrück, 31. VIII. 1914, DB; u.<br />
O. Hoetzsch, Pol. Wochenrückblick, 30. XII. 1914, in: Der Krieg und die große Politik, Bd. I,<br />
S. 39.<br />
84<br />
Z. B. v. R. Seeberg lt. F. Lezius an Seeberg, 10. IX. 1914, SK, u. M, Spahn, An der<br />
Pforte des Weltkrieges, S. 26.<br />
35<br />
H. Oncken, Deutschland oder England, SMhh, Sept. 1914, S. 807; U. v. Wilamowitz,<br />
Krieges Anfang, in: Reden aus der Kriegszeit, 1. Heft, 1915, S. 9; E. Meyer, Deutschland<br />
und der Krieg, S. 14. Sehr frühe Verbindung dieser Argumente mit dem Annexionsverlangen<br />
bei M. Spahn, An der Pforte, S. 26: „. . . Belgien kann sich nach dem, was wir von ihm zu<br />
leiden hatten, nicht mehr durch die Hergabe des Kongo . . . und die Vollendung unseres mittelafrikanischen<br />
Kolonialreiches, des bescheidenen Traumes unserer matten letzten Jahre, loskaufen<br />
. . ." Volle „Verfügungsgewalt" des Reiches über Belgien sei nötig.<br />
86<br />
G. Roethe, Wir Deutschen und der Krieg, 3. XI. 1914, in: Deutsche Reden in schwerer<br />
Zeit, 1914, S. 17f.