VIERTELJAHRSHEFTE FÜR ZEITGESCHICHTE - Institut für ...
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Ursprung und Verbreitung des alldeutschen Annexionismus 121<br />
bewahren. Eine <strong>für</strong> das in diesem Punkt konservative Denken Delbrücks charakteristische<br />
Unter Schätzung der Vehemenz moderner Massenbewegungen!<br />
Fand innerhalb der Hochschullehrerschaft die alldeutsch-industrielle Interessengruppe<br />
in Hans Delbrück ihren Hauptwidersacher, so übernahm der Berliner Vertreter<br />
<strong>für</strong> osteuropäische Geschichte Otto Hoetzsch die Rolle des Warnenden gegenüber<br />
den Wünschen vieler seiner baltendeutschen Kollegen, aber auch allen Plänen<br />
<strong>für</strong> eine „Befreiung" Polens. Er tat dies zum ersten Male in einer Denkschrift „Vorläufige<br />
Gedanken zur polnischen Frage", die er Ende Dezember 1914 dem Reichskanzler<br />
zugehen ließ 69 .<br />
Ausgangspunkt seiner Überlegungen war einmal eine sehr realistische Einschätzung<br />
der Macht des russischen Reiches, die Deutschland nie völlig eliminieren<br />
können würde und die die deutsche Politik zwang, stets auf die Sicherheit seiner<br />
Ostgrenze bedacht zu sein. Eine solche Sicherheit aber war <strong>für</strong> Deutschland am ehesten<br />
durch die Wiedererweckung der alten russisch-preußischen Allianz zu erlangen.<br />
Es war also der von einigen Konservativen auch noch zu Anfang des Weltkrieges<br />
vertretene Gedanke einer Ostorientierung der zukünftigen deutschen Politik, der<br />
Hoetzsch sein zweites Hauptargument lieferte 70 .<br />
Aus diesen Prämissen ergab sich logisch, daß Deutschland nicht auf ausgedehnten<br />
Annexionen im Osten bestehen durfte, wenn es zu einem positiven Verhältnis zu<br />
Rußland gelangen wollte. Das bedeutete weitgehend die Aufgabe der baltischen<br />
Wünsche, aber auch den Verzicht auf eine Änderung des Status quo in der polnischen<br />
Frage. Hoetzsch warnte eindringlich vor dem Aufkommen einer polnischen<br />
Irredenta in den deutschen Ostprovinzen, die sich nur schwer unterdrücken lassen<br />
würde, wenn die polnischen Wünsche erst einmal an einer Stelle verwirklicht wären.<br />
Er hatte damit an den eigentlichen schwachen Punkt der Polenpläne Delbrücks gerührt.<br />
Alle diese Argumente hinderten nun aber Hoetzsch nicht daran, in 1 - wie er<br />
meinte — engem Rahmen doch Grenzverbesserungen im Osten zu be<strong>für</strong>worten.-<br />
Das Gouvernement Kurland, Teile von Kowno, Suwalki, Grodno und die „russischpolnische<br />
Fortsetzung des oberschlesischen Kohlenbeckens" - dies als Kriegsentschädigung!<br />
- m. a. W.: die Annexion eines polnischen Grenzstreifens 71 , dessen Um-<br />
89 O. Hoetzsch, Vorläufige Gedanken zur polnischen Frage, o. D., Anschreiben Hoetzsch<br />
an Minister?, 22. XII. 1914 (Überreichung der Denkschrift), in: Akten des Ausw. Amtes,<br />
Weltkrieg 15, Bd. 1.<br />
70 Dieser Gedanke besonders deutlich auch in einer zweiten Denkschrift Hoetzschs von Anfang<br />
Dez. 1914 (Gedanken über die politischen Ziele des Krieges, DZA Potsdam, Reichskanzlei,<br />
Gr. Hauptquartier, Vorbereitung des Friedensschlusses, Weltkrieg 21, Bd. 1, Reichsarch.<br />
2476, Bl. 215 ff.) Hoetzsch hielt einen „modus vivendi" mit Rußland <strong>für</strong> wichtiger als die Verwirklichung<br />
von Plänen, die von der „Gemeinsamkeit von Sprache und Kultur" mit der<br />
„dünnen" baltischen „Herrschaftsschicht" ausgingen (Bl. 227ff.). Zwangsweise Bevölkerungsverschiebungen<br />
betrachtete er als „nicht diskutabel" (Bl. 224). Denkschr. erwähnt bei Basler,<br />
a. a. O., S. 31.<br />
71 Vgl. dazu die Arbeit von I. Geiss, Der polnische Grenzstreifen 1914-1918, Lübeck 1960.<br />
Hoetzsch (a. a. O., Bl. 219) setzte sich auch energisch <strong>für</strong> die Herstellung eines „ Schutzstaat"-<br />
Verhältnisses von Belgien zum Reich ein.<br />
Vierteljahrshefte 2/2