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Die Beneš-Dekrete und die Vertreibung der Deutschen im ...

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Manfred Kittel/Horst Möller: <strong>Die</strong> Benesˇ-<strong>Dekrete</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Vertreibung</strong> 561<br />

zu unterschiedslosen <strong>und</strong> ungeregelten <strong>Vertreibung</strong>en anregen wollen. Im Fall<br />

des Sudetenlands war das US-Außenministerium davon ausgegangen, daß mindestens<br />

800 000 „Nazigegner“ von <strong>der</strong> <strong>Vertreibung</strong> ausgenommen würden; <strong>im</strong><br />

deutsch-polnischen Fall hatte <strong>die</strong> englische Regierung in Potsdam nur <strong>die</strong> „Ausweisung“<br />

ebenso vieler Deutscher gutgeheißen, wie Polen aus dem von <strong>der</strong><br />

Sowjetunion annektierten Gebiet östlich <strong>der</strong> sogenannten Curzon-Linie ausgesiedelt<br />

würden: zwei bis drei Millionen 97 . Selbst nach einer früheren Expertise des<br />

Foreign Office aus dem Jahr 1942 waren nur sieben Millionen Vertriebene – <strong>und</strong><br />

nicht etwa zwölf o<strong>der</strong> vierzehn – das Max<strong>im</strong>um dessen, was ein besiegtes <strong>und</strong><br />

stark zerstörtes Deutschland aufnehmen konnte 98 .<br />

Hinzu kommt, daß <strong>die</strong> organisierte <strong>Vertreibung</strong> schon viele Wochen vor dem<br />

Beginn <strong>der</strong> Potsdamer Konferenz (am 17. Juli 1945) <strong>im</strong> Gange war, entsprach doch<br />

<strong>der</strong> polnische <strong>und</strong> tschechoslowakische Wunsch, ihre deutsche Bevölkerung auszuweisen,<br />

wie ein russisches Delegationsmitglied in Potsdam bemerkte, „einer historischen<br />

Mission [. . .], welche <strong>die</strong> sowjetische Regierung keineswegs zu verhin<strong>der</strong>n<br />

suche“ 99 – <strong>und</strong> an <strong>der</strong> sie sich <strong>im</strong> nördlichen Ostpreußen <strong>und</strong> an<strong>der</strong>norts selbst<br />

beteiligte. So wurde bei <strong>der</strong> Annexion des Königsberger Gebietes durch <strong>die</strong> Sowjetunion<br />

das abenteuerliche Argument bemüht, das nördliche Ostpreußen sei<br />

„ursprünglich russisches Gebiet“. In Grußadressen <strong>der</strong> sowjetischen Werktätigen<br />

Kaliningrads an Stalin hieß es bald: „Wir alle kamen in <strong>die</strong> neue Oblast mit einem<br />

Gedanken, mit einem Ziel – <strong>die</strong> slawische Erde wie<strong>der</strong>erstehen zu lassen.“ 100<br />

Sowjetrußland unterstützte <strong>die</strong> <strong>Vertreibung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> also auch aus einer neu<br />

entflammten „panslawistischen Haltung heraus“ 101 . In eine ähnliche Richtung<br />

ging <strong>die</strong> Argumentation, mit <strong>der</strong> polnische Politiker auf Sitzungen <strong>der</strong> Außenminister<br />

sowie in Einzelgesprächen während <strong>der</strong> Potsdamer Konferenz ihre Territorialansprüche<br />

über das Vergeltungsmotiv hinaus historisch-politisch begründeten: Bis<br />

zur O<strong>der</strong> <strong>und</strong> Neiße habe, so hieß es, auch schon <strong>der</strong> mittelalterliche polnische<br />

Staat gereicht, „<strong>die</strong> Wiege <strong>der</strong> polnischen Nation“ 102 . Der Panslawismus von Mitglie<strong>der</strong>n<br />

<strong>der</strong> tschechischen Nachkriegsregierung erinnerte den Manchester Guardian<br />

<strong>im</strong> Juni 1945 gar an Hitlers Pangermanismus 103 . Selbst Benesˇ ließ während<br />

einer Rede in <strong>der</strong> einstigen Hussiten-Hochburg Tabor erkennen, daß be<strong>im</strong> Entschluß<br />

zur <strong>Vertreibung</strong> auch historisch tiefer liegende Motive des Nationalitätenkonflikts<br />

eine Rolle spielten: „Erinnert Euch dessen, was uns durch <strong>die</strong> Germanisierung<br />

über <strong>die</strong>se ganzen Jahrh<strong>und</strong>erte seit <strong>der</strong> Hussitenzeit geschehen ist.“ 104 <strong>Die</strong><br />

97 Ebenda, S. 106 f.<br />

98 Vgl. Henke, <strong>Die</strong> Alliierten, in: Benz (Hrsg.), <strong>Die</strong> <strong>Vertreibung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> aus dem Osten,<br />

S. 55.<br />

99 De Zayas, <strong>Die</strong> Anglo-Amerikaner, S. 102.<br />

100 Kossert, Ostpreußen, S. 339.<br />

101 Na<strong>im</strong>ark, Das Problem <strong>der</strong> ethnischen Säuberung, S. 336.<br />

102 Brandes, Der Weg zur <strong>Vertreibung</strong>, S. 407.<br />

103 Vgl. Wolfgang Brügel, Tschechen <strong>und</strong> Deutsche, Bd. 2: 1939–1946, München 1974, S. 155 f.<br />

104 Lidová Demokracie, 17. Juni 1945. Auch wenn für Benesˇ, wie <strong>der</strong> österreichische Historiker<br />

Niklas Perzi, <strong>Die</strong> Benesˇ-<strong>Dekrete</strong>. Eine europäische Tragö<strong>die</strong>, St. Pölten/Wien/Linz 2003, argumentiert,<br />

eine positivistisch-szientistische Motivation be<strong>im</strong> Entschluß zur <strong>Vertreibung</strong> eine<br />

VfZ 4/2006

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