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Die Beneš-Dekrete und die Vertreibung der Deutschen im ...

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Manfred Kittel/Horst Möller: <strong>Die</strong> Benesˇ-<strong>Dekrete</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Vertreibung</strong> 569<br />

<strong>Die</strong> politischen Prämissen <strong>und</strong> <strong>die</strong> juristischen Gr<strong>und</strong>lagen, auf denen <strong>der</strong> Akt<br />

<strong>der</strong> <strong>Vertreibung</strong> durch <strong>die</strong> Staaten Ostmitteleuropas beruhte, ähnelten sich. An<strong>der</strong>s<br />

als <strong>im</strong> Westen hatte <strong>die</strong> individuelle strafrechtliche Verfolgung nur eine untergeordnete,<br />

teilweise instrumentell wirkende Funktion <strong>im</strong> Gesamtprozeß <strong>der</strong> „ethnischen<br />

Säuberung“, in dem praktisch von einer kollektiven Schuld <strong>der</strong> Angehörigen<br />

<strong>der</strong> deutschen Volksgruppe für den „Hitler-Faschismus“ <strong>und</strong> dessen Verbrechen<br />

ausgegangen wurde. So kam etwa das vom Lubliner Komitee am 31. August 1944<br />

erlassene Dekret zur „Bestrafung <strong>der</strong> faschistisch-hitleristischen Verbrecher [. . .]<br />

sowie <strong>der</strong> Verräter des polnischen Volkes“ 134 , in dem über <strong>die</strong> Volkszugehörigkeit<br />

<strong>der</strong> Täter nichts ausgesagt war, zwar nicht nur, aber ganz überwiegend als Maßnahme<br />

politischer Kollektivbestrafung gegen Deutsche zur Anwendung.<br />

In <strong>der</strong> CSR regelte vor allem das sogenannte „Große Retributionsdekret“<br />

(Benesˇ-Dekret Nr. 16) vom 19. Juni 1945 <strong>die</strong> Bestrafung von „Nazi-Kriegsverbrechern“<br />

ebenso wie von tschechischen Kollaborateuren – rückwirkend für <strong>die</strong> Zeit<br />

ab Mai 1938 135 . Auf <strong>die</strong>ser rechtlichen Basis wurden bei den Son<strong>der</strong>-Volksgerichten<br />

über 130 000 Strafanzeigen gestellt <strong>und</strong> 475 Todesurteile gegen Deutsche,<br />

aber auch 234 gegen Tschechen verhängt, so daß das Dekret nicht per se als<br />

national diskr<strong>im</strong>inierend gelten kann. Wie sich <strong>die</strong> Retributionsmaßnahmen mit<br />

<strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> „ethnischen Säuberung“ verbanden, erhellt sich daraus, daß in<br />

den 38316 verhandelten Fällen 14879 mal von <strong>der</strong> Verfolgung abgesehen wurde,<br />

um <strong>die</strong> Abschiebung <strong>der</strong> Betroffenen nach Deutschland nicht zu verzögern, <strong>die</strong><br />

offensichtlich dem Ziel einer individuellen Bestrafung übergeordnet war. Vor<br />

allem in <strong>die</strong>sem Punkt wich das Benesˇ-Dekret, das formal den Gesetzen des Alliierten<br />

Kontrollrats <strong>und</strong> an<strong>der</strong>er europäischer Staaten zur Ahndung von Kriegsverbrechen<br />

<strong>und</strong> nationalsozialistischer bzw. faschistischer Betätigung ähnelte, von<br />

<strong>der</strong>en Retributionspolitik in <strong>der</strong> Praxis entscheidend ab 136 .<br />

Von <strong>der</strong> Annahme einer kollektiven Schuld deutscher Volkszugehöriger gingen<br />

in <strong>der</strong> Tschechoslowakei <strong>und</strong> den an<strong>der</strong>en Staaten Ostmitteleuropas – deutlicher<br />

noch als bei den Bestrafungsmaßnahmen <strong>im</strong> engeren Sinne – auch jene <strong>Dekrete</strong><br />

aus, <strong>die</strong> mit <strong>der</strong> Zwangsaussiedlung selbst zusammenhingen. Im polnischen Machtbereich<br />

ist dabei zu trennen zwischen <strong>der</strong> Behandlung <strong>der</strong> Reichsdeutschen in den<br />

O<strong>der</strong>-Neiße-Gebieten, für <strong>die</strong> erst per Dekret vom 13. November 1945 „über <strong>die</strong><br />

Verwaltung <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>gewonnenen Gebiete“ <strong>die</strong> Geltung polnischen Rechts verfügt<br />

wurde, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Gesetzgebung, <strong>die</strong> sich auf <strong>die</strong> Volksdeutschen in Vorkriegspo-<br />

134 Ebenda, S. 457.<br />

135 Vgl. Karel Jech (Hrsg.), <strong>Die</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>und</strong> Magyaren in den <strong>Dekrete</strong>n des Präsidenten <strong>der</strong><br />

Republik. Stu<strong>die</strong>n <strong>und</strong> Dokumente 1940–1945, Brünn 2003, S. 443 ff.<br />

136 Zudem erfolgte <strong>die</strong> Aburteilung durch Volksgerichte, gegen <strong>der</strong>en Urteile kein ordentliches<br />

Rechtsmittel zugelassen war. Gnadengesuche hatten keine aufschiebende Wirkung, <strong>die</strong> Todesstrafe<br />

war innerhalb von zwei St<strong>und</strong>en nach <strong>der</strong> Urteilsverkündung zu vollstrecken. <strong>Die</strong>se Regelungen<br />

standen zweifelsfrei <strong>im</strong> Gegensatz zu rechtsstaatlichen Verfahren <strong>und</strong> führten zur europaweit<br />

höchsten Vollstreckungsquote von nahezu 95 %. Vgl. Benjamin Frommer, National<br />

Cleansing. Retribution against Nazi Collaborateurs in Postwar Czechoslovakia, Cambridge<br />

2005, S. 90, sowie Helmut Slapnicka, <strong>Die</strong> rechtlichen Gr<strong>und</strong>lagen für <strong>die</strong> Behandlung <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong><br />

<strong>und</strong> Magyaren in <strong>der</strong> Tschechoslowakei 1945–1948, Wien 1997, S. 27 f.<br />

VfZ 4/2006

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