Die Beneš-Dekrete und die Vertreibung der Deutschen im ...
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578 Aufsätze<br />
o<strong>der</strong> zu den Partisanen gezwungen“ 174 worden waren. In <strong>der</strong> <strong>Vertreibung</strong>spraxis<br />
aber „waren <strong>die</strong> Tschechen“, wie Norman M. Na<strong>im</strong>ark resümiert hat, 1945/46<br />
„überraschen<strong>der</strong>weise“ „um keinen Deut weniger brutal“ 175 . Nun läßt sich darüber<br />
streiten, ob das wirklich so überraschend war <strong>und</strong> ob Na<strong>im</strong>arks Bemerkung<br />
in <strong>der</strong> Sache weiterführt. Denn offensichtlich war <strong>die</strong> deutsche Besatzungspolitik<br />
in dem zum „Protektorat“ erniedrigten Tschechien allemal schrecklich genug,<br />
um auch dort das Gefühl auszulösen, nur mit knapper Not davon gekommen zu<br />
sein. <strong>Die</strong> Gesamtzahl <strong>der</strong> tschechoslowakischen Opfer während <strong>der</strong> NS-Diktatur<br />
hat Pavel Sˇkorpil mit ca. 340 000 beziffert, wobei <strong>der</strong> größte Teil – 265 000 Menschen<br />
– <strong>im</strong> Rahmen <strong>der</strong> sogenannten Endlösung <strong>der</strong> Judenfrage ermordet<br />
wurde. Von den an<strong>der</strong>en 75000 Personen fielen 8500 Hinrichtungen zum Opfer,<br />
20 000 starben in Konzentrationslagern <strong>und</strong> Gefängnissen, 8000 kosteten bewaffnete<br />
Zusammenstöße mit <strong>der</strong> Besatzungsmacht das Leben, 6800 starben als Soldaten<br />
<strong>der</strong> Auslandsarmee, 4000 bei Luftangriffen, 3000 als Zwangsarbeiter 176 .<br />
Welch schreckliche Bilanz <strong>die</strong>s für ein kleines Land wie <strong>die</strong> CSR bedeutete, mag<br />
aus dem vergleichenden Blick auf das viel größere Frankreich erhellen.<br />
Pieter Lagrou schätzt <strong>die</strong> französischen Todesopfer auf 400 000 Menschen,<br />
davon 150 000 Soldaten, „weniger als 150 000“ Deportierte (darunter 75 000<br />
Juden, aber auch bis zu 20 000 Zwangsarbeiter <strong>und</strong> ungefähr 20000 an<strong>der</strong>e Franzosen,<br />
<strong>die</strong> in deutschen Gefängnissen <strong>und</strong> Konzentrationslagern umkamen)<br />
sowie 100 000 Zivilisten, darunter etwa 10 000 standrechtlich Erschossene 177 . Das<br />
Argument, Frankreich habe proportional weniger unter dem NS-Terror gelitten<br />
als <strong>die</strong> CSR, wäre indes ebenso problematisch wie <strong>der</strong> erwähnte polnisch-tschechische<br />
Vergleich, zumindest wenn daraus eine größere bzw. geringere moralische<br />
Legit<strong>im</strong>ation zur späteren <strong>Vertreibung</strong> deutschsprachiger Min<strong>der</strong>heiten abgeleitet<br />
würde. Auch <strong>im</strong> französischen o<strong>der</strong> belgischen Fall war <strong>der</strong> objektive <strong>und</strong> subjektive<br />
Leidensdruck jedenfalls so groß, daß er zum Verlangen nach Rache <strong>und</strong><br />
kollektiver Bestrafung <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> führen konnte. All <strong>die</strong>s spricht dafür, <strong>die</strong><br />
Frage <strong>der</strong> tatsächlichen D<strong>im</strong>ension des nationalsozialistischen Terrors als Erklärungsfaktor<br />
für <strong>die</strong> Politik <strong>der</strong> <strong>Vertreibung</strong> o<strong>der</strong> Nicht-<strong>Vertreibung</strong> mit Vorsicht<br />
zu behandeln 178 . Wichtiger war wohl auch hier ein psychologisches Moment: Zu<br />
den Hauptelementen <strong>der</strong> NS-Besatzungspolitik <strong>im</strong> Osten hatte an<strong>der</strong>s als <strong>im</strong><br />
174 Václav Kural, Tschechen, Deutsche <strong>und</strong> <strong>die</strong> sudetendeutsche Frage während des Zweiten<br />
Weltkrieges, in: Brandes u.a. (Hrsg.), Erzwungene Trennung, S. 73–99, hier S. 80.<br />
175 Na<strong>im</strong>ark, Das Problem <strong>der</strong> ethnischen Säuberung, S. 330 u. S. 322.<br />
176 Hinzu kamen etwa 7000 Roma-Angehörige <strong>und</strong> 15000 bis 19000 Opfer, <strong>die</strong> „<strong>der</strong> Terror <strong>der</strong><br />
Nazis <strong>und</strong> <strong>der</strong> Slowakischen Volkspartei in <strong>der</strong> Slowakei“ dort nach dem Ausbruch des Nationalaufstandes<br />
kostete. Pavel Sˇkorpil, Probleme bei <strong>der</strong> Berechnung <strong>der</strong> tschechoslowakischen<br />
Todesopfer des nationalsozialistischen Deutschlands, in: Brandes/Kural, Der Weg in <strong>die</strong> Katastrophe,<br />
S. 161–164, hier S. 163.<br />
177 Pieter Lagrou, Les guerres, les morts et le deuil: bilan chiffré de la Seconde Guerre mondiale,<br />
in: La violence de guerre 1914–1945, hrsg. von Stéphane Rouzeau, Annette Becker, Christian<br />
Ingrao <strong>und</strong> Henry Rousso, Brüssel 2002, S. 313–327, hier S. 320.<br />
178 Daß es den Polen noch deutlich schlechter ging, war für einen Tschechen <strong>im</strong> Jahr 1942<br />
ebenso irrelevant wie für einen Sudetendeutschen vor 1938 <strong>der</strong> Hinweis gewesen wäre, daß es<br />
seine Volksgruppe <strong>im</strong> Vergleich zu den nationalen Min<strong>der</strong>heiten in umliegenden Län<strong>der</strong>n am<br />
VfZ 4/2006