Die Beneš-Dekrete und die Vertreibung der Deutschen im ...
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Manfred Kittel/Horst Möller: <strong>Die</strong> Benesˇ-<strong>Dekrete</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Vertreibung</strong> 567<br />
falls berücksichtigt – ist <strong>der</strong> Gegensatz zum Schicksal <strong>der</strong> deutschen Sprachmin<strong>der</strong>heiten<br />
in Ostmitteleuropa frappierend: 1945 fand südlich des Brenner keine<br />
Zwangsaussiedlung statt, vielmehr kam es sogar zur freiwilligen Rücksiedlung<br />
zehntausen<strong>der</strong> Menschen, <strong>die</strong> infolge des verbrecherischen Paktes zwischen Hitler<br />
<strong>und</strong> Mussolini bereits aus ihrer He<strong>im</strong>at vertrieben worden waren.<br />
Wenn <strong>im</strong> Westen Europas darauf verzichtet wurde, ganze deutsche Volksgruppen<br />
aus ihrer angestammten He<strong>im</strong>at zu vertreiben, <strong>und</strong> es <strong>im</strong> wesentlichen bei <strong>der</strong><br />
individuellen Bestrafung wirklich belasteter NS-Kollaborateure blieb, so entsprach<br />
<strong>die</strong>s in gewisser Weise auch <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> Westmächte <strong>im</strong> besetzten Deutschland.<br />
Radikale Pläne wie <strong>der</strong> des US-Finanzministers Henry Morgenthau zur Umwandlung<br />
Deutschlands in einen reinen Agrarstaat, denen Vorstellungen von deutscher<br />
Kollektivschuld zugr<strong>und</strong>e lagen, wurden bekanntlich nicht realisiert. Zwar gab es<br />
bei den Anglo-Amerikanern eine Rhetorik <strong>der</strong> Kollektivschuld in bezug auf das<br />
deutsche Volk 126 , aber keine Kollektivschuldpraxis. Selbst <strong>die</strong> strenge US-Besatzungsdirektive<br />
JCS 1067 von Ende April 1945 zur „Ausschaltung des Nazismus <strong>und</strong><br />
Militarismus“ richtete sich ausschließlich gegen <strong>die</strong> „nicht nur nominellen“, son<strong>der</strong>n<br />
aktiven NSDAP-Parteigenossen, d. h. also gerade nicht kollektiv gegen das<br />
deutsche Volk 127 . Im Geist <strong>der</strong> Direktive JCS 1067 <strong>und</strong> <strong>der</strong> Alliierten Kontrollratsdirektive<br />
vom 12. Januar 1946 wurden in <strong>der</strong> amerikanischen Zone 120000 Personen<br />
verhaftet <strong>und</strong> teils für mehrere Jahre interniert; in sämtlichen Besatzungszonen<br />
(einschließlich <strong>der</strong> sowjetischen) waren es nahezu 300 000 Menschen – was etwa<br />
einem halben Prozent <strong>der</strong> deutschen Gesamtbevölkerung von 60 Millionen entsprach.<br />
In den Westzonen wurden zudem von 806 Todesurteilen gegen führende<br />
Repräsentanten <strong>der</strong> NS-Diktatur (aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Rechtsprechung des Internationalen<br />
Militärgerichtshof in Nürnberg <strong>und</strong> <strong>der</strong> sogenannten Nachfolgeprozesse) 486<br />
vollstreckt. Dabei ging es <strong>im</strong> Kern ebenso um <strong>die</strong> Ermittlung <strong>und</strong> Ahndung individueller<br />
Schuld wie <strong>im</strong> Rahmen <strong>der</strong> Massenentnazifizierung nach dem (nicht ohne<br />
Druck <strong>der</strong> Amerikaner bereits von deutschen Behörden erlassenen) „Befreiungsgesetz“<br />
von 1946, das also keineswegs Element einer alliierten Kollektivschuldpolitik<br />
war. Vor <strong>die</strong>sem Hintergr<strong>und</strong> hatte auch ein sicherheitspolitisch motivierter Vorschlag<br />
des französischen Außenministers Georges Bidault auf <strong>der</strong> Moskauer Konferenz<br />
1947 keine Chance, durch eine „gelenkte“ Aussiedlung <strong>und</strong> Massenass<strong>im</strong>ilation<br />
<strong>die</strong> – demographisch bedenklich große – Zahl <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> in Mitteleuropa<br />
deutlich zu reduzieren 128 .<br />
126 Jan Friedmann/Jörg Später, Britische <strong>und</strong> deutsche Kollektivschuld-Debatte, in: Ulrich Herbert<br />
(Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung<br />
1945–1980, Göttingen 2002, S. 53–90. <strong>Die</strong>se Kollektivschuldrhetorik schlug sich etwa auch in<br />
Äußerungen Thomas Manns nie<strong>der</strong>, <strong>der</strong> 1945 von einer „furchtbaren, nationalen Gesamtschuld“<br />
<strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> sprach. Stephan Stachorski (Hrsg.), Thomas Mann. Fragile Republik:<br />
Thomas Mann <strong>und</strong> Nachkriegsdeutschland, Frankfurt a.M. 1999, S. 39.<br />
127 Vgl. Cornelia Wilhelm, <strong>Die</strong> alliierte Entnazifizierungspolitik in Deutschland als Modell?<br />
in: Kittel/Möller/Pesˇek/Tu˚ ma (Hrsg.), Deutschsprachige Min<strong>der</strong>heiten 1945, S. 347–371, hier<br />
S. 347 f.<br />
128 „Sehr mutig <strong>und</strong> ingeniös“ fand Thomas Mann in einem Brief an seinen Sohn Klaus den<br />
Vorschlag Bidaults, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Presse zusammen mit <strong>der</strong> französischen Bereitschaft erörtert<br />
VfZ 4/2006