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Die Beneš-Dekrete und die Vertreibung der Deutschen im ...

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Manfred Kittel/Horst Möller: <strong>Die</strong> Benesˇ-<strong>Dekrete</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Vertreibung</strong> 565<br />

hatten sich noch zwei Jahre nach <strong>der</strong> „Machtergreifung“ <strong>im</strong> Reich über <strong>die</strong> wahre<br />

Natur des Nationalsozialismus massiv getäuscht. Bei dem Plebiszit von 1935<br />

votierten nur 8,8 Prozent für <strong>die</strong> Beibehaltung des Status quo unter Völkerb<strong>und</strong>sverwaltung,<br />

während eine überwältigende Mehrheit von 90 Prozent aus nationaler<br />

Überzeugung für <strong>die</strong> „He<strong>im</strong>kehr“ nach Deutschland st<strong>im</strong>mte.<br />

Auch <strong>die</strong> Sympathisanten <strong>der</strong> elsässischen Autonomiebewegung <strong>der</strong> Zwischenkriegszeit,<br />

<strong>die</strong> sich selbst als nationale bzw. ethnische Min<strong>der</strong>heit in Frankreich<br />

definierten 120 <strong>und</strong> nach 1940 teilweise mit dem Dritten Reich kollaboriert hatten,<br />

wurden 1945 nicht kollektiv ausgewiesen. Das nicht am Volk, son<strong>der</strong>n am Staat orientierte<br />

französische Verständnis von Nation sah in Elsässern <strong>und</strong> Ost-Lothringern<br />

selbstverständlich „citoyens français“, <strong>die</strong> bei Verstoß gegen <strong>die</strong> Prinzipien <strong>der</strong><br />

„république une et indivisible“ allenfalls individuell nach Maßgabe ihres Vergehens<br />

bestraft werden konnten. Im Rahmen <strong>der</strong> sogenannten épuration judiciaire wurden<br />

beispielsweise <strong>im</strong> Elsaß (bei einer Gesamtbevölkerungszahl von etwa einer Million<br />

Menschen) 8 000 Personen verurteilt, überwiegend zu Zwangsarbeit, Gefängnisstrafen<br />

o<strong>der</strong> dem Entzug bürgerlicher Ehrenrechte, in einigen Dutzend Fällen, von<br />

denen <strong>der</strong> Prozeß gegen Jean-Pierre Mourer (alias Hans-Peter Murer) <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e<br />

NS-Kreisleiter <strong>der</strong> spektakulärste war, auch zum Tode 121 . Hinzu kamen etwa tausend<br />

Fälle von Amtsenthebung <strong>und</strong> Berufsverbot gegen kollaborierende Staatsbeamte<br />

<strong>und</strong> Angestellte <strong>im</strong> Rahmen <strong>der</strong> épuration administrative sowie Aufenthaltsverbote<br />

(<strong>im</strong> Département Bas-Rhin gegen etwa 800 Personen). Mit Handgepäck unter<br />

Sequestrierung des Besitzes nach Deutschland ausgewiesen wurden – ähnlich wie<br />

1919 – nur <strong>die</strong> in den Jahren 1940 bis 1944 aus dem Reich nach Elsaß <strong>und</strong> Lothringen<br />

zugezogenen deutschen Staatsangehörigen, sofern sie sich nichts Beson<strong>der</strong>es<br />

hatten zuschulden kommen lassen. Hauptschuldigen wie dem aus Baden kommenden<br />

Gauleiter Robert Wagner o<strong>der</strong> Mitarbeitern <strong>der</strong> Straßburger Gestapo machte<br />

man dagegen den Prozeß. Da infolge <strong>der</strong> brutalen deutschen Besatzung in Elsaß-<br />

Lothringen <strong>die</strong> Affinität zu Frankreich auch dort wie<strong>der</strong> gewachsen war, wo sie<br />

infolge <strong>der</strong> Pariser Politik nach 1918 schwer gelitten hatte, lag <strong>die</strong> Zahl <strong>der</strong> Einhe<strong>im</strong>ischen,<br />

<strong>die</strong> sich als Fünfte Kolonne Berlins betätigt hatten <strong>und</strong> potentiell zu „säubern“<br />

waren, recht niedrig.<br />

Doch auch in den an<strong>der</strong>en westlichen Län<strong>der</strong>n, in denen das deutsche Minoritätenproblem<br />

eine schärfere Kontur hatte, nahm <strong>die</strong> politische Abrechnung 1945<br />

nicht den Charakter einer „ethnischen Säuberung“ an. Selbst in Belgien, das mit<br />

dem Ausbürgerungsgesetz vom Juni 1945 am massivsten gegen „führende Funktionäre“<br />

<strong>und</strong> „aktive Propagandisten“ des Dritten Reiches in Eupen-Malmedy vorging,<br />

wurde nur 1335 Personen – mit Familien waren <strong>die</strong>s siebeneinhalb Prozent<br />

<strong>der</strong> regionalen Bevölkerung – <strong>die</strong> Staatsbürgerschaft aberkannt. Da <strong>die</strong> Durchführung<br />

<strong>der</strong> Ausweisung indes von den Briten verhin<strong>der</strong>t wurde, beschränkte<br />

sich <strong>die</strong>se Maßnahme letztlich auf einige h<strong>und</strong>ert Personen, <strong>die</strong> sich damals aus<br />

Furcht vor Strafverfolgung bereits in Deutschland aufhielten. Ihnen verweigerte<br />

120 Vgl. Kohser-Spohn, Staatliche Gewalt, in: Ther/S<strong>und</strong>haussen (Hrsg.), Nationalitätenkonflikte,<br />

S. 199.<br />

121 Vgl. Patrick Schaeffer, L’Alsace et l’Allemagne de 1945 à 1949, Metz 1976, S. 123.<br />

VfZ 4/2006

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