Die Beneš-Dekrete und die Vertreibung der Deutschen im ...
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Manfred Kittel/Horst Möller: <strong>Die</strong> Benesˇ-<strong>Dekrete</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Vertreibung</strong> 549<br />
<strong>Die</strong>se Problematik wurde durch mehrere Faktoren noch verschärft. Zum einen<br />
setzte sich <strong>die</strong> Tradition <strong>der</strong> nach Osten eher offensiven, nach Westen stärker<br />
defensiven deutschen Politik auch während <strong>der</strong> We<strong>im</strong>arer Republik fort <strong>und</strong><br />
fand ihren logischen Ausdruck in den Locarno-Verträgen von 1925. Im Westen<br />
vor allem darum bemüht, eine dauerhafte Einschränkung deutscher Souveränitätsrechte<br />
in den Rheinlanden zu verhin<strong>der</strong>n, rang sich <strong>die</strong> Republik unter dem<br />
Einfluß Gustav Stresemanns sogar dazu durch, <strong>die</strong> Versailler Westgrenzen anzuerkennen;<br />
damit verband sich aber gleichzeitig <strong>die</strong> Erwartung, auf <strong>die</strong>se Weise den<br />
Rücken freizubekommen, um langfristig eine Korrektur <strong>der</strong> Ostgrenzen zu erreichen.<br />
Der parteienübergreifende Konsens des We<strong>im</strong>arer Revisionismus, sich<br />
nicht auf ein Ostlocarno einzulassen 34 , bedeutete eine zusätzliche Erschwernis<br />
für das Verhältnis <strong>der</strong> deutschen Min<strong>der</strong>heiten zu den Mehrheitsvölkern ihrer<br />
Staaten.<br />
Ohnehin zeigten sich <strong>die</strong> neu geschaffenen parlamentarisch-demokratischen<br />
Strukturen in Ostmitteleuropa dem politisch-ökonomischen Krisendruck <strong>der</strong> Zwischenkriegszeit<br />
– außer in <strong>der</strong> CSR – nicht gewachsen. In einem „authoritarian<br />
turn“ entstanden so bereits ab Mitte <strong>der</strong> 1920er Jahre in mehreren Schüben Präsidial-,<br />
Offiziers- o<strong>der</strong> Königsdiktaturen 35 . Von den hier als westlich typisierten deutschen<br />
Sprachmin<strong>der</strong>heiten gerieten dagegen nur <strong>die</strong> Südtiroler schon früh (1922)<br />
in einen nicht nur autoritären, son<strong>der</strong>n faschistischen Staat. Das Italien Mussolinis<br />
begann eine Politik gegen das Deutschtum nördlich <strong>der</strong> Salurner Klause, <strong>die</strong> alle<br />
Repressalien kultur- <strong>und</strong> wirtschaftspolitischer Art übertraf, denen <strong>die</strong> <strong>Deutschen</strong><br />
in Ostmitteleuropa während <strong>die</strong>ser Jahre ausgesetzt waren. Hingegen profitierten<br />
<strong>die</strong> deutschsprachigen Min<strong>der</strong>heiten in den westlichen Staaten Belgien, Dänemark<br />
<strong>und</strong> Frankreich zumindest tendenziell von den dort herrschenden liberalen Traditionen<br />
parlamentarischen Konfliktaustrags; auch wenn sich vor allem in Elsaß-<br />
Lothringen gegen <strong>die</strong> von Paris 1919 eingeleitete Politik des „Purifier, centraliser,<br />
ass<strong>im</strong>iler“ bei weitem nicht alle sprachpolitischen For<strong>der</strong>ungen durchsetzen ließen.<br />
Noch 1919 wurden 150 000 Personen – Deutsche, <strong>die</strong> nach 1871 eingewan<strong>der</strong>t<br />
waren, mitsamt Familien – unter Verlust ihres Besitzes mit nur wenig Handgepäck<br />
ausgewiesen 36 . In <strong>der</strong> Folgezeit bekämpfte <strong>die</strong> Pariser Zentralregierung eine wachsende<br />
Autonomiebewegung in <strong>der</strong> Region mit teils sehr fragwürdigen Mitteln – bis<br />
hin zum sogenannten „Blutsonntag von Colmar“ (1926) 37 <strong>und</strong> einem politischen<br />
Prozeß gegen angebliche „Separatisten“ <strong>im</strong> Jahr 1928.<br />
34 Vgl. Christian Höltje, <strong>Die</strong> We<strong>im</strong>arer Republik <strong>und</strong> das Ostlocarno-Problem 1919–1934. Revision<br />
o<strong>der</strong> Garantie <strong>der</strong> deutschen Ostgrenze von 1919, Würzburg 1958.<br />
35 Vgl. Möller, Europa, sowie Manfred Kittel, Zwischenkriegszeit, in: Horst Möller/Udo Wengst,<br />
Einführung in <strong>die</strong> Zeitgeschichte, München 2003, S. 52–99, hier S. 80. Vertiefend hierzu<br />
Erwin Oberlän<strong>der</strong> (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit Rolf Ahmann, Hans Lemberg <strong>und</strong> Holm<br />
S<strong>und</strong>haussen, Autoritäre Reg<strong>im</strong>e in Ostmittel- <strong>und</strong> Südosteuropa 1919–1944, Pa<strong>der</strong>born u. a.<br />
2001.<br />
36 Vgl. Karl-Heinz Rothenberger, <strong>Die</strong> elsaß-lothringische He<strong>im</strong>at- <strong>und</strong> Autonomiebewegung<br />
zwischen den beiden Weltkriegen, Frankfurt a. M. 1975, S. 37 f.<br />
37 Als <strong>die</strong> Autonomisten auf einer K<strong>und</strong>gebung in <strong>der</strong> elsässischen Stadt Berufsverbote gegen<br />
ihre führenden Politiker anprangerten, kam es während einer Gegendemonstration französi-<br />
VfZ 4/2006