Die Beneš-Dekrete und die Vertreibung der Deutschen im ...
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548 Aufsätze<br />
ben <strong>der</strong> Tschechen zeitweilig mit dem defensiven Verlangen nach ethnisch-administrativer<br />
Landesteilung begegnet waren, sich von einem Sieg <strong>der</strong> Mittelmächte <strong>im</strong><br />
Weltkrieg aber auch <strong>die</strong> Zurückgewinnung ihrer politischen Dominanz erwarten<br />
konnten, traf <strong>die</strong> Herabstufung zu einer bloßen Min<strong>der</strong>heit <strong>im</strong> neuen tschechoslowakischen<br />
Nationalstaat infolge des Vertrages von St. Germain beson<strong>der</strong>s hart.<br />
Ebenso stark waren <strong>die</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> bald litauisch beherrschten Memelland o<strong>der</strong><br />
in den polnisch gewordenen Gebieten Preußens betroffen, wo sich nicht zuletzt<br />
unter dem Einfluß des Ostmarkenvereins <strong>die</strong> Vorstellung einer kulturellen Überlegenheit<br />
gegenüber „den“ Polen verbreitet hatte 30 .<br />
<strong>Die</strong> W<strong>und</strong>en, <strong>die</strong> den slawischen <strong>und</strong> baltischen Völkern in den langen Jahren<br />
preußischer, österreichischer (o<strong>der</strong> auch russischer bzw. osmanischer) Vorherrschaft<br />
zugefügt worden waren, brannten heftig. So setzten <strong>die</strong>se Nationen nach<br />
ihrer Staatsbildung 1918/19 in einem gleichsam nachholenden nationalistischen<br />
Akt eine mehr o<strong>der</strong> weniger repressive Politik gegen <strong>die</strong> deutschen – <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e<br />
– Min<strong>der</strong>heiten ins Werk. Kennzeichnend für den Geist, in dem <strong>die</strong>s vielleicht<br />
mit Ausnahme Estlands 31 tendenziell überall geschah, ist eine Aussage des polnischen<br />
Nationaldemokraten <strong>und</strong> späteren Ministers Stanisław Grabski aus dem<br />
Jahr 1919: „Das fremde Element wird sich umsehen müssen, ob es nicht<br />
an<strong>der</strong>swo besser aufgehoben ist.“ 32 Da ein nationalistischer Kurs in Ostmitteleuropa<br />
von vornherein zu befürchten stand, muß es als Gr<strong>und</strong>problem <strong>der</strong> Pariser<br />
Friedensordnung angesehen werden, daß sie es dem polnischen, tschechischen<br />
<strong>und</strong> großserbisch-jugoslawischen Staat erlaubte, weit über <strong>die</strong> Grenzen des nationalen<br />
Siedlungsgebietes hinauszugreifen – wofür es vor allem <strong>im</strong> Fall Böhmens<br />
<strong>und</strong> Mährens historische <strong>und</strong> wirtschaftliche Gründe gab, – ohne sie gleichzeitig<br />
dazu zu veranlassen, statt eines Nationalstaates einen Nationalitätenstaat mit autonomen<br />
Rechten für <strong>die</strong> einzelnen Volksgruppen zu bilden. Das galt um so mehr,<br />
als sich <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heitenschutz durch den neu geschaffenen Völkerb<strong>und</strong> trotz<br />
einiger Erfolge insgesamt als unzureichend erwies 33 .<br />
30 Vgl. Rogall, Land <strong>der</strong> großen Ströme, S. 380; Jens Oldenburg, Der deutsche Ostmarkenverein<br />
1894–1934, Berlin 2002.<br />
31 Zum vorbildlichen estnischen Gesetz von 1925 über <strong>die</strong> kulturelle Selbstverwaltung <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heiten<br />
vgl. vor allem Gert von Pistohlkors, Baltische Län<strong>der</strong> (Deutsche Geschichte <strong>im</strong> Osten<br />
Europas, Bd. 4), Berlin 1994, S. 498 ff. u. S. 525 f.<br />
32 Christian Jansen/Arno Weckbecker, Der „Volksdeutsche Selbstschutz“ in Polen 1939/40, München<br />
1992, S. 18. Auch auf <strong>der</strong> deutschen Seite waren während des Ersten Weltkriegs seitens <strong>der</strong><br />
Kriegszielbewegung <strong>und</strong> schließlich auch <strong>der</strong> 3. Obersten Heeresleitung bereits radikale Varianten<br />
einer umfassenden „völkischen Flurbereinigung“ ins Auge gefaßt worden. <strong>Die</strong> „zivile“ Reichsleitung<br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong> preußische Beamtenschaft standen <strong>der</strong> Idee einer Zwangsumsiedlung von Polen<br />
<strong>und</strong> polnischen Juden aus dem sogenannten „polnischen Grenzstreifen“ aber überwiegend reserviert<br />
gegenüber. Wolfgang J. Mommsen, Anfänge des ethnic cleansing <strong>und</strong> <strong>der</strong> Umsiedlungspolitik<br />
<strong>im</strong> Ersten Weltkrieg, in: Eduard Mühle (Hrsg.), Mentalitäten – Nationen – Spannungsfel<strong>der</strong>.<br />
Stu<strong>die</strong>n zu Mittel- <strong>und</strong> Osteuropa <strong>im</strong> 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert. Beiträge eines Kolloquiums zum<br />
65. Geburtstag von Hans Lemberg, Marburg 2001, S. 147–162, hier S. 160.<br />
33 Vgl. Horst Möller, Europa zwischen den Weltkriegen, München 22000, sowie Martin Scheuermann,<br />
Min<strong>der</strong>heitenschutz kontra Konfliktverhütung? <strong>Die</strong> Min<strong>der</strong>heitenpolitik des Völkerb<strong>und</strong>es<br />
in den zwanziger Jahren, Marburg 2000.<br />
VfZ 4/2006