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Praktische Theologie - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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privilegierten Teil - binnen weniger Jahrzehnte ein neues Lebensgefühl.<br />

Autonomie, Individualismus und Weltoffenheit sind Schlüsselwörter für das<br />

Verständnis der neuen Epoche. Von der jenseitigen Welt wendet sich der Blick<br />

ins Diesseits. Der Mensch mit seinen Empfindungen, seinen Fähigkeiten und<br />

seinen Möglichkeiten, rückt in den Mittelpunkt des Interesses. Daseinsfreude,<br />

Lebenslust, menschliche Kraft und Schönheit werden zu bestimmenden<br />

Motiven. Bocaccios "Decamerone" und andere Schriften, vor allem auch die<br />

Werke der bildenden Kunst jener Zeit, legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Die<br />

neuen Leitbegriffe heißen: "Persönlichkeit", "Stärke" und "Genie".<br />

"Originalität" ersetzt den mittelalterlichen Wert der "imitatio". Das überkommene<br />

Lebensideal des in seiner religiöser Bindung wurzelnden "Heiligen",<br />

der sich demütig und gehorsam dem Willen Gottes hingibt, wird abgelöst vom<br />

Leitbild des stolzen, in der Kraft seiner Fähigkeiten und Kenntnisse gegründeten<br />

"uomo universale", wie ihn wohl am reinsten Leonardo da Vinci verkörpert hat.<br />

Statt der Frömmigkeit gilt nun umfassende Bildung als der Weg, auf dem sich die<br />

Bestimmung des Menschen verwirklicht. So kündigen sich in der<br />

Renaissancezeit auch die ersten Vorboten jenes Prozesses an, der später wie kein<br />

anderer das Gesicht der Moderne zeichnen wird: der Säkularisation. Pico della<br />

Mirandola faßte das Bewußtsein seiner Zeit in Worte:<br />

"In die Mitte der Welt hat Gott den Menschen gesetzt, ohne festen Sitz, ohne eigene<br />

Gestaltung, ohne besondere Verrichtung, wie er sie allen anderen Geschöpfen zugeteilt<br />

hat. Nicht irdisch noch himmlisch ist der Mensch geschaffen; er kann zum Tier entarten,<br />

er kann zum Himmel aufsteigen; alles liegt einzig und allein an seinem Willen. Dem Menschen<br />

ist gegeben zu besitzen, was er sich wünscht, zu sein, was er will." 31<br />

Reformation<br />

Anders als der Humanismus, der letztlich doch nur eine Sache der Gelehrten und<br />

der gebildeten Oberschicht geblieben war, setzte die andere große geistige<br />

Strömung des 16. Jahrhunderts, die Reformation, binnen weniger Jahre das<br />

ganze Volk in Bewegung und brachte neben den religiösen auch die politischen<br />

und sozialen Fundamente der Zeit ins Wanken. Luthers Thesenanschlag an der<br />

Schloßkirche zu Wittenberg bildete den Auftakt zu einer rasch um sich<br />

greifenden, bald von niemand mehr zu kontrollierenden Entwicklung. Sie führte<br />

schließlich zum Zerbrechen der fast tausendjährigen europäischen<br />

Glaubenseinheit, zur Auflösung jahrhundertealter festgefügter sozialer und<br />

wirtschaftlicher Strukturen und zur Beendigung der uneingeschränkten<br />

Alleinherrschaft der römischen Kirche auf nahezu allen Gebieten des geistigen<br />

Lebens. Die Bedeutung der Reformation für die kulturelle, politische,<br />

wirtschaftliche und territoriale Umgestaltung Europas kann man nur schwer<br />

überschätzen.<br />

Es ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, das Wesen und die Auswirkungen<br />

der Reformation auch nur in Ansätzen hinreichend zu skizzieren. Angesichts der<br />

erschöpfenden Literatur zum Thema erscheint es jedoch problemlos, wenn wir<br />

uns hier auf einige andeutungsweise Bemerkungen beschränken.<br />

31 Zitiert bei Schmidt 1967, 264.<br />

31

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