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wenn ich an uns denke … kommt's mir vor, als ob das ... - Burgtheater

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Was m<strong>ich</strong> <strong>an</strong> dem Medea-Mythos interessiert,<br />

ist, <strong>das</strong>s wir über Kräfte verfügen,<br />

die <strong>uns</strong> selbst n<strong>ich</strong>t bewusst sind. <strong>das</strong><br />

heißt, wir sind fähig zu g<strong>an</strong>z radikalen<br />

Taten, <strong>wenn</strong> die Umstände es bedingen.<br />

Interess<strong>an</strong>terweise wird Medea erst bei<br />

Euripides, <strong>als</strong>o durch einen Dramatiker,<br />

zu dem, was m<strong>an</strong> bis heute mit ihrem<br />

Namen assoziiert – zur Mörderin ihrer<br />

eigenen Kinder. Die Figur und ihre Tat<br />

beschäftigen bis heute zahllose Künstler.<br />

So gibt es über 20 dramatische Bearbeitungen<br />

des Stoffes und Filme u.a. von<br />

Pier Paolo Pasolini, Lars von Trier und<br />

Theo v<strong>an</strong> Gogh. Aber auch viele bildende<br />

Künstler haben s<strong>ich</strong> mit Medea ausein<strong>an</strong>dergesetzt.<br />

Was fasziniert Sie <strong>an</strong> dieser<br />

Mutter, die ihre Kinder umbringt?<br />

Wenn m<strong>an</strong> <strong>an</strong> die eigene arbeit denkt,<br />

würde m<strong>an</strong> gerne die Kinder verschonen;<br />

<strong>wenn</strong> m<strong>an</strong> s<strong>ich</strong> l<strong>an</strong>ge mit dem Mythos beschäftigt,<br />

so gel<strong>an</strong>gt m<strong>an</strong> hier <strong>an</strong> <strong>das</strong> Ende<br />

der eigenen Vorstellungskraft. Und <strong>das</strong> ist<br />

genau die Kraft dieses dramas, weil es unbegreifl<strong>ich</strong><br />

bleibt. Genau der Mord ist der<br />

Punkt, den <strong>ich</strong> <strong>mir</strong> unmögl<strong>ich</strong> <strong>vor</strong>stellen<br />

k<strong>an</strong>n, und <strong>das</strong> fasziniert m<strong>ich</strong> sehr.<br />

Alle dramatischen Bearbeitungen des<br />

Mythos setzen unterschiedl<strong>ich</strong>e Schwerpunkte.<br />

Und Medea ist eine <strong>an</strong>dere bei<br />

Euripides oder Seneca oder Fr<strong>an</strong>z Grillparzer<br />

oder H<strong>an</strong>s Henny Jahnn. Warum<br />

wollten Sie gemeinsam mit dem jungen<br />

polnischen Dramatiker M<strong>ich</strong>ał Walczak<br />

eine neue Medea schreiben?<br />

die meisten Bearbeitungen beschäftigen<br />

s<strong>ich</strong> mit dem politischen Kontext des dramas,<br />

wie zum Beispiel die Verfilmung von<br />

Theo v<strong>an</strong> Gogh, oder mit den äußeren<br />

Umständen, in die Medea verstrickt ist.<br />

M<strong>ich</strong> interessiert am meisten <strong>das</strong> Psychogramm<br />

einer Mörderin. Ich will sie weder<br />

beurteilen, noch entschuldigen, sondern<br />

<strong>ich</strong> will untersuchen, was im Inneren<br />

des Menschen <strong>vor</strong>geht, der s<strong>ich</strong> plötzl<strong>ich</strong><br />

in einem dunklen Tunnel befindet oder<br />

am abgrund steht. Was ist der auslöser,<br />

was befähigt <strong>uns</strong>, die verborgene, ungeahnte<br />

Grenze zu überschreiten? Ich glaube,<br />

es passiert einfach, m<strong>an</strong> geht Schritt<br />

für Schritt in diesen Tunnel hinein und<br />

steht von dunkelheit umgeben, völlig ver-<br />

Saison 2006/2007<br />

loren da. Ich will erforschen – wertfrei erforschen,<br />

unabhängig von äußeren und<br />

politischen Umständen – und zeigen, <strong>das</strong>s<br />

jeder von <strong>uns</strong> fähig ist zu töten.<br />

Bei allen <strong>an</strong>deren Bearbeitungen des Mythos<br />

kamen <strong>mir</strong> die Frauen n<strong>ich</strong>t nah genug,<br />

sie waren n<strong>ich</strong>t modern, n<strong>ich</strong>t heutig<br />

genug. Ich war n<strong>ich</strong>t in der Lage, diese<br />

Figur <strong>an</strong>zufassen. Ich will <strong>mir</strong> <strong>vor</strong>stellen<br />

können, <strong>das</strong>s diese Medea meine Frau sein<br />

könnte oder jem<strong>an</strong>d, der <strong>mir</strong> sehr nahe<br />

steht. Euripides z.B. zeigt <strong>uns</strong> <strong>das</strong> Motiv<br />

der Rache und <strong>das</strong> Einwirken der äußeren<br />

Kräfte, <strong>ich</strong> aber möchte ein unmittelbarer<br />

Zeuge des Veränderungsprozesses sein. Es<br />

muss m<strong>ich</strong> betreffen.<br />

Medea soll <strong>uns</strong>ere Zeitgenossin sein?<br />

Ja, unbedingt.<br />

Das Theater braucht zeitgenössische<br />

Texte, um <strong>uns</strong>ere Zeit zu reflektieren. Das<br />

ist ein Punkt. Auf der <strong>an</strong>deren Seite heißt<br />

es aber auch, <strong>das</strong>s ein Mythos, je öfter<br />

m<strong>an</strong> ihn wiedererzählt, auch verblasst, er<br />

seine Kraft einbüßt <strong>…</strong><br />

Mein St<strong>an</strong>dpunkt ist, <strong>das</strong>s m<strong>an</strong> den Mythos<br />

nur in einem Mitmenschen aufspüren<br />

k<strong>an</strong>n. Es ist doch immer schwer, s<strong>ich</strong><br />

in die Verg<strong>an</strong>genheit zu versetzen und –<br />

speziell in der <strong>an</strong>tiken Mythologie – die<br />

religiösen Motive in die heutige Welt zu<br />

tr<strong>an</strong>sferieren. Es bleibt <strong>als</strong>o nur ein Weg:<br />

Einen konkreten Menschen zu untersuchen,<br />

besser gesagt, ihn sinnl<strong>ich</strong> zu erfassen.<br />

M<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n n<strong>ich</strong>t nur die inneren<br />

Parameter des Mythos übertragen – und<br />

deshalb verwischt s<strong>ich</strong> dieser Mythos auch<br />

für m<strong>ich</strong>, sondern <strong>ich</strong> will eine Figur r<strong>ich</strong>tig<br />

erspüren. Ich will mit dieser Mörderin<br />

tägl<strong>ich</strong> zusammen sein. Ich will m<strong>ich</strong> ihrer<br />

Tat mit allen Sinnen nähern.<br />

Wenn Sie sagen, es sei auch <strong>das</strong> Psychogramm<br />

einer Mörderin, d<strong>an</strong>n wirft <strong>das</strong><br />

die Frage auf: Welche Moral steht hinter<br />

Ihrer Bearbeitung? Für wen ergreifen Sie<br />

Partei?<br />

Kasino<br />

Wie <strong>ich</strong> bereits gesagt habe, es ist <strong>mir</strong><br />

w<strong>ich</strong>tig, sie n<strong>ich</strong>t zu beurteilen. Und <strong>ich</strong><br />

maße <strong>mir</strong> kein moralisches Urteil <strong>an</strong>. Ich<br />

hoffe, <strong>das</strong>s es <strong>mir</strong> gelingt, sie so zu durchleuchten<br />

und zu <strong>an</strong>alysieren, <strong>das</strong>s <strong>ich</strong> sie<br />

am Ende verstehen k<strong>an</strong>n. Vielle<strong>ich</strong>t wird<br />

d<strong>an</strong>n die nächste Katastrophe zu vermeiden<br />

sein.<br />

Ich will mit dieser Mörderin tägl<strong>ich</strong> zusammen sein.<br />

Ich will m<strong>ich</strong> ihrer Tat mit allen Sinnen nähern.<br />

K<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> Medea überhaupt verstehen?<br />

M<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n ihre Situation verstehen, s<strong>ich</strong> in<br />

ihre Lage hineinversetzen. M<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n aber<br />

mit der Tat n<strong>ich</strong>t einverst<strong>an</strong>den sein, auch<br />

n<strong>ich</strong>t, <strong>wenn</strong> m<strong>an</strong> die letzte Konsequenz in<br />

der Entwicklung der Gesch<strong>ich</strong>te rationell<br />

nachvollziehen k<strong>an</strong>n. da sind wir wieder<br />

am <strong>an</strong>f<strong>an</strong>g: <strong>an</strong> diesem Punkt beginnt <strong>das</strong><br />

Unbegreifl<strong>ich</strong>e, <strong>das</strong> abscheul<strong>ich</strong>e.<br />

Sie würden sagen, <strong>das</strong>s Medea unter <strong>uns</strong><br />

lebt?<br />

Ja, sie ist unter <strong>uns</strong>.<br />

Würden Sie Ihre Tochter »Medea« nennen?<br />

Nein, meine Tochter würde <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t<br />

Medea nennen. aber in Georgien gibt es<br />

Frauen und Mädchen, die diesen Namen<br />

tragen.<br />

Das Gespräch führte Andreas Beck, Übersetzung<br />

aus dem Polnischen: Rita Czapka.<br />

Ein MEDEA-Projekt<br />

von Grzegorz Jarzyna<br />

Mitarbeit: M<strong>ich</strong>ał Walczak<br />

deutsch von Olaf Kühl<br />

Regie: Grzegorz Jarzyna<br />

ausstattung: Magda Maciejewska<br />

Video: Bartek Macias<br />

L<strong>ich</strong>t: Jaqueline S<strong>ob</strong>iszewska<br />

Musik: Jacek Grudzien, Piotr domnski<br />

Mit Barbara Petritsch, Sylvie Rohrer,<br />

Mareike Sedl; M<strong>ich</strong>ael Gempart, Ronald K.<br />

Hein, Rol<strong>an</strong>d Koch, Wolfg<strong>an</strong>g M<strong>ich</strong>ael<br />

H Premiere / Uraufführung<br />

am 30. dezember 2006 im KaSINO<br />

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