wenn ich an uns denke … kommt's mir vor, als ob das ... - Burgtheater
wenn ich an uns denke … kommt's mir vor, als ob das ... - Burgtheater
wenn ich an uns denke … kommt's mir vor, als ob das ... - Burgtheater
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Leitartikel<br />
4<br />
Iv<strong>an</strong> Nagel über Regietheater und Shakespeare<br />
Der Shakespeare-Zyklus des <strong>Burgtheater</strong>s<br />
Das <strong>Burgtheater</strong> hat für diese Spielzeit fünf Shakespeare-Aufführungen <strong>an</strong>gekündigt. Nun<br />
kommt eine weitere hinzu: Statt »Wallenstein«, der aufgrund der Erkr<strong>an</strong>kung von Andrea<br />
Breth leider um ein Jahr versch<strong>ob</strong>en werden muss, pl<strong>an</strong>t <strong>das</strong> <strong>Burgtheater</strong> einen sechsten<br />
Shakespeare: den »Sommernachtstraum« – sechs Shakespeare-Stücke <strong>als</strong>o in einer Spielzeit,<br />
sechs Regieh<strong>an</strong>dschriften, sechs verschiedene S<strong>ich</strong>tweisen auf den Klassiker des Welt-<br />
theaters: von Regisseuren wie J<strong>an</strong> Bosse, Theu Boerm<strong>an</strong>s, Falk R<strong>ich</strong>ter, Karin Beier, Luc<br />
Bondy und Barbara Frey – ein einmaliges Unterf<strong>an</strong>gen. Der auf längere Zeit <strong>an</strong>gelegte<br />
Shakespeare-Zyklus wird auch in der nächsten Spielzeit fortgesetzt.<br />
Shakespeare ist u.a. deswegen so interess<strong>an</strong>t, weil er <strong>als</strong> Theaterkoloss der Renaiss<strong>an</strong>ce<br />
teilweise noch auf <strong>das</strong> Mittelalter zurück-, aber auch auf <strong>das</strong> Barock <strong>vor</strong>greift. Die Renaiss<strong>an</strong>ce<br />
ist bek<strong>an</strong>ntl<strong>ich</strong> die Wiege der neuzeitl<strong>ich</strong>en Kultur, die überall in Europa Großgestalten<br />
her<strong>vor</strong>brachte wie kaum eine <strong>an</strong>dere Epoche: von Fr<strong>an</strong>cis Bacon bis zu M<strong>ich</strong>el<strong>an</strong>gelo,<br />
Erasmus von Rotterdam oder Monteverdi, von Galilei, Kepler, Kolumbus, Luther<br />
bis zu Rembr<strong>an</strong>dt oder Cerv<strong>an</strong>tes, um nur einige zu nennen. M<strong>an</strong>che wie Galilei werden<br />
erst bei Brecht zum Gegenst<strong>an</strong>d des Theaters, <strong>an</strong>dere wie Dr. Heinr<strong>ich</strong> Faust oder wie<br />
Shakespeares Zeitgenosse Wallenstein werden schon bei den beiden Weimari<strong>an</strong>ern Schiller<br />
und Goethe zu Theaterstoffen.<br />
Die Renaiss<strong>an</strong>ce, die zeitversetzt in vielen Ländern stattf<strong>an</strong>d, hat dem europäischen Bild<br />
von Mensch, Politik, Natur und Wissenschaft ein völlig neues Ges<strong>ich</strong>t gegeben, wie später<br />
vielle<strong>ich</strong>t nur noch die fr<strong>an</strong>zösische Revolution. Der Spielpl<strong>an</strong> des <strong>Burgtheater</strong>s ist ein Angebot,<br />
Shakespeare neu zu sehen und s<strong>ich</strong> mit dem zentralen Paradox der Renaiss<strong>an</strong>ce zu<br />
beschäftigen: Eine der ersten Erkenntnisse des s<strong>ich</strong> seiner Kraft und Autonomie mehr und<br />
mehr bewusst werdenden Renaiss<strong>an</strong>ce-Menschen war bek<strong>an</strong>ntl<strong>ich</strong> die Eins<strong>ich</strong>t in die eigene<br />
Begrenztheit. Hierfür steht bis heute die bahnbrechende kopernik<strong>an</strong>ische Erkenntnis, <strong>das</strong>s<br />
der Mensch, <strong>an</strong>ders <strong>als</strong> jahrhundertel<strong>an</strong>g gedacht, n<strong>ich</strong>t im Zentrum des Kosmos steht.<br />
Auch Shakespeares Gestalten erzählen vom neuen Selbstbewusstsein des Menschen, der<br />
<strong>an</strong>fängt, die mittelalterl<strong>ich</strong>e Demut abzulegen und Erfahrungen mit seiner Autonomie, aber<br />
auch und <strong>vor</strong> allem seiner Gefährdung durch Hybris zu machen. So gesellen s<strong>ich</strong> in der Renaiss<strong>an</strong>ce<br />
zu den <strong>ob</strong>en gen<strong>an</strong>nten historischen Figuren Gestalten, die durch Shakespeare<br />
D<strong>ich</strong>tung wurden: Hamlet, Lear, Prospero u.a. – eine sp<strong>an</strong>nende Epoche, bei der es lohnt,<br />
s<strong>ich</strong> auch außerhalb des Theaters mit ihr zu beschäftigen. Wir beginnen <strong>uns</strong>eren Zyklus<br />
mit zwei Shakespeare-Komödien innerhalb von vier Wochen: »Viel Lärm um n<strong>ich</strong>ts« im<br />
Dezember und dem »Sommernachtstraum« im Jänner.<br />
Im Folgenden Iv<strong>an</strong> Nagel über die Vielfalt des modernen Regietheaters am Beispiel<br />
Shakespeare (Auszug aus seinem Buch »Drama und Theater«, <strong>das</strong> soeben im Carl<br />
H<strong>an</strong>ser Verlag erschienen ist).<br />
Joachim Lux<br />
01 Viel Lärm um n<strong>ich</strong>ts Jänner<br />
02 Ein Sommernachtstraum Jänner<br />
03 Julius Caesar März<br />
04 Maß für Maß April<br />
05 König Lear Mai<br />
06 Der Sturm Juni<br />
Die Eigenart des Dramas<br />
Seit hundert Jahren verbeißt s<strong>ich</strong> die Diskussion<br />
unter Kritikern wie Zuschauern in<br />
<strong>das</strong> Pr<strong>ob</strong>lem, dessen unglückl<strong>ich</strong>es Schlagwort-Schema<br />
heißt: Hie »Werktreue«, hie<br />
»Regietheater«! Das Pr<strong>ob</strong>lem selbst ist allerdings<br />
über zweitausend Jahre alt – seit hellenistische<br />
Bühnen in Kleinasien beg<strong>an</strong>nen,<br />
den »Klassiker« Euripides nachzuspielen.<br />
Der literarischen Gattung Drama, der<br />
darstellenden K<strong>uns</strong>t Theater ist eine Doppelfrage<br />
unauslöschl<strong>ich</strong> eingeschrieben. Ist eine<br />
theatrale Aufführung wesentl<strong>ich</strong> (oder ledigl<strong>ich</strong>):<br />
die Interpretation eines Textes? Oder<br />
ist ein dramatischer Text wesentl<strong>ich</strong> (oder ledigl<strong>ich</strong>):<br />
der Vorschlag für eine Aufführung?<br />
Unter ästhetischen Sprach-Werken ist <strong>das</strong><br />
Drama <strong>das</strong> einzige, <strong>das</strong> n<strong>ich</strong>t zu <strong>mir</strong>, sondern<br />
zu <strong>uns</strong> spr<strong>ich</strong>t. Es sucht s<strong>ich</strong>, statt intim einen<br />
Leser, publik ein Publikum. W<strong>ich</strong>tiger noch:<br />
Die wahre Stimme des Dramas gehört n<strong>ich</strong>t<br />
dem Dramatiker. N<strong>ich</strong>t nur bleibt diesem<br />
verwehrt, <strong>als</strong> »Ich« zu »Uns« zu reden. Authentisch<br />
überbringt <strong>uns</strong> niem<strong>als</strong> der Autor<br />
sein Wort – stets irgendein Zwischen-Träger.<br />
Wer Dramen schreibt, geht ein hohes Risiko<br />
ein. Er tritt die Verfügungsgewalt über <strong>das</strong>,<br />
was er schuf, <strong>an</strong> <strong>an</strong>dere ab: <strong>an</strong> die Schauspieler<br />
oder den Herrscher über alle Schauspieler,<br />
den Regisseur.<br />
Für jedes Drama gilt <strong>das</strong> Grundgesetz,<br />
<strong>das</strong> Grund-Paradoxon der Gattung:<br />
Das Werk überlebt in den tradierten, fest<br />
notierten Buchstaben des Autors – doch<br />
es lebt nur in Wort und Bewegung, Geist<br />
und Körper seiner rasch wechselnden Interpreten.<br />
Zum Beispiel: Shakespeare<br />
Von Shakespeares Tagen trennt <strong>uns</strong><br />
eine Kluft von vierhundert Jahren. Wenn<br />
wir Shakespeare bei allen Unterschieden<br />
der Lebensverhältnisse und Weltverständnisse<br />
spielen können, liegt <strong>das</strong> n<strong>ich</strong>t dar<strong>an</strong>,<br />
<strong>das</strong>s er für die Nachwelt oder die Ewigkeit<br />
schrieb. Sondern: Da er Dramen schrieb,<br />
schrieb er für seine Interpreten – von 1600<br />
oder 1800 oder 2000. Der Gemeinplatz,<br />
m<strong>an</strong> soll Theaterstücke spielen, »wie der<br />
D<strong>ich</strong>ter sie wollte«, ist sachfremd, weil<br />
k<strong>uns</strong>tfremd. Das Original des »Kaufm<strong>an</strong>n<br />
von Venedig« ist n<strong>ich</strong>t der redl<strong>ich</strong> redi-<br />
2006/2007 Saison