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wenn ich an uns denke … kommt's mir vor, als ob das ... - Burgtheater

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gierte Quarto-Erstdruck von 1600. Es ist<br />

Shakespeares Inszenierung der Uraufführung,<br />

um 1596, von der wir n<strong>ich</strong>ts wissen.<br />

Wer war der Uraufführungs-Antonio seinem<br />

Bass<strong>an</strong>io: ein edler, generöser Freund<br />

oder ein verzweifelt todessüchtiger Liebhaber?<br />

Pl<strong>an</strong>te der Uraufführungs-Shylock aus<br />

berechnendem Christenhass von Anf<strong>an</strong>g<br />

<strong>an</strong>, Antonio zu morden – oder trieb es ihn<br />

erst, seit Antonios Kump<strong>an</strong>e seine Juwelen<br />

geraubt, seine Tochter entführt hatten, s<strong>ich</strong><br />

rasend zu rächen? Der Text lässt beides zu.<br />

Doch <strong>das</strong> Stück wurde, je nach Regie-Entscheidung<br />

von 1596, ein radikal <strong>an</strong>deres.<br />

Wir kennen Shakespeares Entscheidungen<br />

n<strong>ich</strong>t. Als Dramatiker hat er die Zweideutigkeit<br />

von Text und H<strong>an</strong>dlung oft listig bewerkstelligt,<br />

oft überklar exhibiert. Wollte<br />

er <strong>als</strong> Regisseur <strong>an</strong>dere künftige Entscheidungen<br />

von <strong>an</strong>deren, künftigen Regisseuren<br />

ausschließen oder herausfordern?<br />

»Der Kaufm<strong>an</strong>n von Venedig« redet<br />

mit zwei Zungen. Schon sein erster seriöser<br />

Herausgeber N<strong>ich</strong>olas Rowe str<strong>an</strong>dete<br />

1709 in Zweifeln: »Obwohl wir <strong>das</strong><br />

Stück <strong>als</strong> Komödie gespielt und die Rolle<br />

des Juden von einem prachtvollen Komödi<strong>an</strong>ten<br />

gespielt sahen, meine <strong>ich</strong>, <strong>das</strong>s<br />

der Autor es <strong>als</strong> Tragödie entwarf.« N<strong>ich</strong>t<br />

nur die Welt besteht – mit Venedig und<br />

Belmont – aus zwei Welten; n<strong>ich</strong>t nur Venedig<br />

selbst hat – mit dem Kaufherrn und<br />

dem Wucherer – zweierlei Ges<strong>ich</strong>ter. Doppeldeutig<br />

gerieten vielmehr alle Protagonisten:<br />

Bass<strong>an</strong>io ein Held oder Mitgiftjäger,<br />

Antonio ein Helfer oder Höriger,<br />

Shylock ein Bösew<strong>ich</strong>t oder Verfolgter.<br />

Ihre Worte widersprechen s<strong>ich</strong> – und werden<br />

verspottet von ihren Taten.<br />

Hat Shakespeare mithin seine Geschöpfe,<br />

le<strong>ich</strong>tfertig bis zum Verrat, der<br />

Willkür jedes hergelaufenen Deuters ausgeliefert?<br />

Oder hat er sie voller K<strong>uns</strong>tabs<strong>ich</strong>t<br />

und Weisheit mehrdeutig, <strong>das</strong> heißt,<br />

deutbar geformt? Wir glauben <strong>an</strong> ihre Existenz<br />

n<strong>ich</strong>t allein, weil sie mit so re<strong>ich</strong>en,<br />

realen Zügen ausgestattet sind. Wir glauben<br />

<strong>an</strong> sie, weil wir ihnen genau so begegnen,<br />

wie wir vom Kindergarten bis zum<br />

Sterbebett, am Stammtisch oder bei einem<br />

Raubüberfall jedem realen fremden Menschen<br />

begegnen: mit dem lust- oder <strong>an</strong>gstvollen<br />

Versuch, seine Mehrdeutigkeit zu<br />

deuten, Vorsätze hinter seinen Haltungen<br />

Saison 2006/2007<br />

zu erkennen, sein Wesen zu erraten. Selbst<br />

Hamlet wird erst durch <strong>uns</strong>ere Vermutungsarbeit<br />

im Zuschauerraum, die er erzwingt,<br />

groß und wirkl<strong>ich</strong>.<br />

Authentizität lebt nur in der Interpretation.<br />

Große Inszenierungen verfallen<br />

dem Vergängnis gerade durch ihre Bestimmtheit<br />

– große Dramen entgehen ihm<br />

d<strong>an</strong>k ihrer Mehrdeutigkeit.<br />

Der Große Regisseur trat um 1880-<br />

1900 im Gefolge des Großen Dramatikers<br />

auf. Ihr Pakt veränderte Spielart und<br />

Hierarchien des europäischen Theaters.<br />

– Vom Dionysos-Theater in Athen wissen<br />

wir: Aischylos und Sophokles studier-<br />

ten selber ihre Tragödien ein. In Shakespeares<br />

und Molières Truppen waren<br />

Autor, Pr<strong>ob</strong>enleiter, Darsteller, Theaterunternehmer<br />

ein und dieselbe Person.<br />

Diese Einheit schw<strong>an</strong>d spät aber unver-<br />

meidl<strong>ich</strong>: Wir müssen <strong>uns</strong>ere Begriffe<br />

ändern. Aischylos und Sophokles, Shakespeare<br />

und Molière verschafften ihren<br />

Werken n<strong>ich</strong>t »Interpretation« – sondern<br />

»Verwirkl<strong>ich</strong>ung«. Das Theaterstück war<br />

zusammengewachsen mit seiner (Ur-)Aufführung,<br />

schien nur um ihretwillen da zu<br />

sein. Erst nach Aischylos’ Tod durfte in<br />

Athen ein »altes« Stück wiederaufgeführt<br />

werden; über hundert Jahre später wurde<br />

die Staatsausgabe seiner Werke <strong>an</strong>gefertigt.<br />

N<strong>ich</strong>t allein im Agon des Dionysos-Festes,<br />

auch im Wettkampf zwischen<br />

drei oder vier Londoner, Pariser Truppen<br />

um Kommerzerfolg und königl<strong>ich</strong>es<br />

Patronat fehlte dem D<strong>ich</strong>ter die Muße,<br />

s<strong>ich</strong> <strong>als</strong> Klassiker <strong>vor</strong>zukommen: Abgott<br />

oder Opfer künftiger Interpreten.<br />

»Interpretation« <strong>als</strong> sinnvolles Denk-<br />

und Arbeitsmodell hat zwei Bedingungen:<br />

Wiederholbarkeit und Vergle<strong>ich</strong>barkeit<br />

des theatralen Produkts. Einen fast unglaubl<strong>ich</strong>en<br />

Sprung bewirkten die Ausweitung<br />

des bürgerl<strong>ich</strong>en Publikums,<br />

die Beschleunigung der Kommunikation<br />

und die maschinelle Vervielfältigung der<br />

Dramentexte <strong>vor</strong> dem Ende des 19. Jahrhunderts.<br />

Jetzt schienen Figur und Funktion des<br />

Inszenators-<strong>als</strong>-Innovators vollends erfunden.<br />

Der Regisseur wuchs zum Alter<br />

ego des Dramatikers: zu dessen unentbehrl<strong>ich</strong>em<br />

Spiegel- oder Zerrbild auf der<br />

<strong>an</strong>deren Seite der Rampe.<br />

Drama und Theater<br />

– Von Shakespeare bis Jelinek<br />

Iv<strong>an</strong> Nagel präsentiert sein neues Buch<br />

Leitartikel<br />

Iv<strong>an</strong> Nagel hat seine Analysen und Ans<strong>ich</strong>ten<br />

zu Drama und Theater gesammelt.<br />

An Stück<strong>an</strong>alysen wie Shakespeares »Troilus<br />

und Cressida«, <strong>an</strong> großen Klassiker-Inszenierungen<br />

wie Kortners »Emilia Galotti«, <strong>an</strong><br />

Porträts von Autoren, Theatermachern und<br />

Schauspielern arbeitet er exemplarisch die<br />

ästhetischen Beziehungen zwischen Drama<br />

und Theater, Text und Aufführung heraus.<br />

Iv<strong>an</strong> Nagel, 1931 in Budapest geboren,<br />

studierte in Paris und Heidelberg Germ<strong>an</strong>istik,<br />

Philosophie und Soziologie, ab 1954 bei<br />

Adorno in Fr<strong>an</strong>kfurt. Von 1962 bis 1969 arbeitete<br />

er <strong>als</strong> Chefdramaturg <strong>an</strong> den Münchner<br />

Kammerspielen, von 1971 bis 1979 <strong>als</strong><br />

Intend<strong>an</strong>t des Deutschen Schauspielhauses in<br />

Hamburg. Er begründete <strong>das</strong> Festival »Theater<br />

der Welt«. Als Theater- und Musikkritiker<br />

schrieb er für die Süddeutsche Zeitung,<br />

<strong>als</strong> Kulturkorrespondent in New York für<br />

die Fr<strong>an</strong>kfurter Allgemeine Zeitung. Von<br />

1989 bis 1996 lehrte Nagel <strong>als</strong> Professor für<br />

Gesch<strong>ich</strong>te und Ästhetik der darstellenden<br />

Künste <strong>an</strong> der Hochschule der Künste in Berlin.<br />

Er verfasste Bücher über Mozart, Goya<br />

und über heutiges Theater sowie eine Reihe<br />

von »Streitschriften« zur Politik und Kulturpolitik.<br />

Nagel lebt in Berlin und lehrt <strong>an</strong> der<br />

Central Europe<strong>an</strong> University in Budapest.<br />

Am 13. Dezember 2006 im KASINO<br />

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