30.10.2013 Aufrufe

Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts - Unilibrary

Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts - Unilibrary

Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts - Unilibrary

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

115 Das Erbe der alten Welt. Hellenische Kunst und Philosophie.<br />

<strong>Die</strong> Ergebnisse der Anthropologie und Ethnographie erlauben<br />

es, glaube ich, zwischen Aberglauben und Religion zu<br />

unterscheiden. Den Aberglauben finden wir überall, auf der<br />

ganzen Erde, und zwar in bestimmten, in allen Orten und bei den<br />

verschiedensten Menschenstämmen sehr ähnlichen, einem<br />

nachweisbaren Entwickelungsgesetze unterworfenen Formen; im<br />

Grunde genommen ist er unausrottbar. <strong>Die</strong> Religion dagegen, als<br />

ein der Phantasie vorschweben<strong>des</strong> Gesamtbild der Weltordnung,<br />

wechselt unendlich mit den Zeiten und den Völkern; manche<br />

Stämme (z. B. die Chinesen) haben wenig oder gar kein religiöses<br />

Bedürfnis, andere ein sehr ausgesprochenes; die Religion kann<br />

metaphysisch, materialistisch, symbolistisch sein, immer — auch<br />

wo ihre Elemente alle erborgt sind — tritt sie, je nach Zeit und<br />

Land, in einer durchaus neuen, individuellen Erscheinung auf,<br />

und eine jede ihrer Erscheinungen ist, wie die Geschichte lehrt,<br />

durchaus vergänglich. <strong>Die</strong> Religion hat etwas Passives an sich, sie<br />

spiegelt (so lange sie lebendig ist) einen Kulturzustand wieder;<br />

zugleich enthält sie willkürliche Momente von unabsehbarer<br />

Tragweite; wie viel Freiheit bekundeten die hellenischen Poeten in<br />

ihrer Behandlung <strong>des</strong> Glaubensstoffes! Wie sehr hingen die<br />

Beschlüsse <strong>des</strong> Tridentinischen Konzils über das, was die<br />

Christenheit glauben oder nicht glauben sollte, von<br />

diplomatischen Schachzügen und von Waffenglück ab! Von dem<br />

Aberglauben kann das nicht behauptet werden; an seiner Gewalt<br />

bricht sich die Gewalt <strong>des</strong> Papstes und der Poeten; er schleicht auf<br />

tausend verborgenen Wegen, schlummert unbewusst in jeder<br />

Brust und ist alle Augenblicke bereit, aufzuflammen; er besitzt,<br />

wie Lippert sagt: „eine Lebenszähigkeit, die er vor jeder Religion<br />

voraus hat“; 1 ) er ist zugleich ein Kitt für jede neue Religion und<br />

ein stets lauernder Feind jeder alten. An seiner Religion zweifelt<br />

—————<br />

ein offenbarer Rückschritt, noch immer aber zu grossartig symbolisch, um bei<br />

irgend einem Rationalisten Gnade zu finden.<br />

1) Christentum, Volksglaube und Volksbrauch, S. 379. In dem zweiten teil<br />

dieses Buches findet man eine lehrreiche Zusammenstellung der in Europa<br />

noch bestehenden Gebräuche und Aberglauben aus vorchristlicher Zeit.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!