Kannetzky Cartesianische Prämissen
Kannetzky Cartesianische Prämissen
Kannetzky Cartesianische Prämissen
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
132<br />
Frank <strong>Kannetzky</strong><br />
nur wenn der Geist als Summe je individueller Bewusstseinszustände und<br />
-ereignisse gefasst wird, ist es möglich, ihn mit Vorgängen und Ereignissen der<br />
physischen Welt zu korrelieren. Und nur unter dieser Grundannahme erscheint<br />
eine über die Feststellung physiologischer Bedingungen des Bewusstseins und<br />
seiner Pathologien hinausgehende naturwissenschaftliche Untersuchung des<br />
Geistes in objektivierender, d.h. vom hermeutischen und normativen Blick des<br />
Teilnehmers gemeinsamer Praxen abgekoppelten Perspektive sinnvoll, ebenso<br />
wie die Unterstellung, dass ein Verständnis des Geistes letztlich nur durch dessen<br />
Rückführung auf objektive Vorgänge der Körperwelt möglich und dass das<br />
Geist-Welt-Problem folglich in das Leib-Seele- bzw. Gehirn-Geist-Problem zu<br />
transformieren ist.<br />
Damit bleibt das naturalistische Forschungsprogramm den <strong>Prämissen</strong> cartesianischen<br />
Philosophierens verhaftet, unter denen das Bewusstsein zum Rätsel<br />
werden muss. Denn der Wesenszug der cartesianischen Philosophie ist der Rückzug<br />
nicht auf den Geist (als Gesamtheit der humanen Lebensformen und ihrer<br />
Möglichkeiten), sondern auf die Seele qua je eigenes Bewusstsein. Nur dessen<br />
Gehalte können mir unmittelbar gewiss sein. Die Außenwelt, und damit auch das<br />
Bewusstsein anderer, ist dagegen nur vermittelt zugänglich und damit anfällig für<br />
Täuschungen. Die generelle Möglichkeit solcher Täuschungen führt zum Zweifel<br />
an der Existenz einer vom Denken unabhängigen Außenwelt. Diesen radikalen<br />
Zweifel meint Descartes nur dadurch überwinden zu können, dass er die Existenz<br />
Gottes beweist, der uns nicht täuscht, d.h. der die Übereinstimmung von innerer<br />
und äußerer Welt garantiert. 60 Für Descartes ist es Gott, der beide Welten zusammenhält<br />
und garantiert, dass unseren Ideen etwas in der Welt entspricht und,<br />
so muss man ergänzen, dass wir handelnd Ziele erreichen können. Gott wird zur<br />
erkenntnis- und handlungstheoretisch notwendigen Hypothese. Gerät diese<br />
Hypothese ins Wanken, dann führt der Dualismus in unlösbare Probleme, weil er<br />
Geist und Welt begrifflich auseinanderreißt. Will man gegen den Skeptiker und<br />
den Solipsisten dennoch an der Möglichkeit von Erkenntnis und Handlung festhalten,<br />
dann scheint die einzige Lösung ein Monismus zu sein, und wenn der I-<br />
dealismus in Misskredit kommt, dann bleibt nur der Materialismus, der, gegeben<br />
den cartesianischen Problemrahmen, nun vor der Aufgabe steht, die kategorial<br />
getrennten Sphären von Geist und Welt in der res extensa, dem Bereich naturgesetzlicher<br />
Zusammenhänge, zusammenzuführen (Physikalismus, Funktionalismus,<br />
Epiphenomenalismus, Emergenz- und Supervinienztheorie etc.). Der Naturalismus<br />
als Programm der Erklärung bzw. Rückführung des Geistes und seiner<br />
Gehalte durch bzw. auf Materielles ist kein Cartesianismus, aber er hat seine<br />
60 In neueren Lesarten Descartes’ wird die zentrale systematische Rolle der ersten Substanz und damit<br />
der Gottesbeweise häufig übersehen oder kleingeredet. Ich halte das für falsch, weil dann unterstellt<br />
werden müsste, dass Descartes die teils absurden Konsequenzen seines Dualismus ignoriert<br />
oder diesen – gewissermaßen in einem vorweggenommenen linguistic turn – statt als ontische als<br />
ontologische (und ontisch neutrale) Unterscheidung zweier inkompatibler Redebereiche konzipiert<br />
hätte. In beiden Fällen ist aber nicht verständlich zu machen, warum Descartes den Gottesbegriff<br />
überhaupt bemüht.