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Kannetzky Cartesianische Prämissen

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In: P. Grönert und F. <strong>Kannetzky</strong> (Hrsg.): Sprache und Praxisform.<br />

Leipzig: Universitätsverlag, 2005. S. 105-161<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong>.<br />

Überlegungen zur Reichweite des Privatsprachenarguments<br />

*<br />

Wenn man aber sagt: „Wie soll ich wissen,<br />

was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen“,<br />

so sage ich: „Wie soll er wissen, was er meint,<br />

er hat ja auch nur seine Zeichen.“<br />

(Wittgenstein: PU §504)<br />

1. Problemstellung.......................................................................................................... 105<br />

2. Das cartesianische Bild des Geistes............................................................................ 108<br />

2.1 Das cartesianische Subjekt .................................................................................... 108<br />

2.2 Das cartesianische Objekt...................................................................................... 110<br />

2.3 Innen und Außen, Privatheit des Geistes ............................................................... 112<br />

3. Das cartesianische Erbe.............................................................................................. 115<br />

3.1 Handlung und Interpretation, Unvermeidlichkeit des Solipsismus........................ 116<br />

3.2 Lockes Erweiterung des Cartesianismus ............................................................... 119<br />

3.3 Transformationen des Cartesianismus. Das Forschungsprogramm der<br />

Naturalisierung .................................................................................................... 128<br />

4. Das Privatsprachenargument und seine Folgen .......................................................... 138<br />

4.1 Zur Reichweite des Privatsprachenarguments ....................................................... 138<br />

4.2 Skizze des Privatsprachenargumentes ................................................................... 143<br />

4.3 Handlungstheoretische Deutung und Verallgemeinerung des<br />

Privatsprachenargumentes ................................................................................... 146<br />

4.4 Einige Konsequenzen ............................................................................................ 151<br />

1. Problemstellung<br />

Wozu soll noch eine Auseinandersetzung mit den „Privatsprachenargument“ genannten<br />

zentralen Passagen aus Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen<br />

gut sein? 1 Die Literatur dazu füllt Bände und es scheint müßig, den vielen Inter-<br />

* Für ihre Anregungen, Hinweise und Kritiken danke ich C. Henning und P. Stekeler-Weithofer. Mein<br />

Dank gilt auch der DFG, deren Förderung mir meine Arbeit ermöglicht hat.<br />

1 Üblicherweise werden die §§243ff. der Philosophischen Untersuchungen (im folgenden kurz PU)<br />

als Privatsprachenargument gelesen, ich glaube aber, dass Kripke (Wittgenstein über Regeln und<br />

Privatsprache. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987) darin recht hat, dass die dem Privatsprachenargument<br />

im engeren Sinne vorangehenden Überlegungen zum Regelfolgen unmittelbar zum Thema


106<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

pretationen eine neue hinzuzufügen. Das ist auch nicht meine Absicht. Was mir<br />

in der Diskussion fehlt, ist eine Übersicht über die philosophischen Probleme,<br />

die vom Privatsprachenargument mittelbar oder unmittelbar betroffen sind. Und<br />

in dieser Hinsicht scheint die Diskussion entweder zu eng oder wenigstens nicht<br />

explizit genug geführt: Es mangelt an einem Überblick über die <strong>Prämissen</strong>, vor<br />

allem aber über die Konsequenzen des Argumentes, am Bezug auf konkurrierende<br />

Ansichten, sofern diese nicht Behauptungen aufstellen, die denen Wittgensteins<br />

explizit zuwiderlaufen, und an Gesamtdeutungen des Argumentes, d.h.<br />

seiner Einordnung in die philosophische Landschaft – und hier gehört es an einen<br />

systematisch zentralen Platz. Es ist ein gutes halbes Jahrhundert her, dass<br />

Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“ einem breiten Publikum zugänglich<br />

wurden. Befasst man sich aber mit der neueren philosophischen Literatur<br />

zu dem Themenkreis, der mit den Stichworten Sprache, Bedeutung, Kommunikation,<br />

Geist, Intentionalität, Rationalität, Handlung und Kooperation grob<br />

umrissen werden kann, so lässt sich konstatieren, dass Wittgensteins Argumente<br />

über die Möglichkeit einer Privatsprache, das Regelfolgen und angrenzende Fragen<br />

mit Ausnahme bestimmter Richtungen der Sprachphilosophie in weiten Teilen<br />

des gegenwärtigen Philosophierens folgenlos geblieben sind, mitunter so folgenlos,<br />

als hätte es Wittgenstein nie gegeben. 2<br />

Dafür gibt es mehrere, eng zusammenhängende Gründe. Erstens wird aufgrund<br />

der oft aphoristischen, am konkreten Beispiel operierenden Argumentation<br />

Wittgensteins leicht übersehen, dass seine Argumente ganze Gruppen bzw. Typen<br />

von Theorien betreffen und dass er Beispiele wählt, die für den Aufbau dieser<br />

Theorien konstitutiv sind, auch wenn dies nicht immer auf der Hand liegt, etwa<br />

wenn voneinander anscheinend weit entfernte Bereiche wie Mathematik und<br />

Psychologie in unmittelbare begriffliche Nachbarschaft gerückt werden. Zweitens<br />

entsteht aufgrund der Argumentation Wittgensteins, die scheinbar nur Empfindungen,<br />

Empfindungsausdrücke und ostensive Definitionen betrifft, der falsche<br />

Eindruck, dass hier nur spezielle Probleme der Bedeutungstheorie verhandelt<br />

werden. Die Übereinstimmung der <strong>Prämissen</strong> des Privatsprachenargumentes<br />

mit den Grundannahmen, oder genauer: mit dem begrifflichen Rahmens eines<br />

breiten Spektrums älterer und neuerer Theorien wird zudem durch den Stil und<br />

die Sprache Wittgensteins verdeckt, die gemessen am terminologischen Apparat<br />

und den Differenzierungen (und Scheindifferenzierungen) ‘moderner’ Theorien,<br />

auf den ersten Blick eher arm erscheint. Das gleiche gilt, drittens, für die Konsequenzen<br />

des Privatsprachenargumentes. Wittgenstein benennt diese nicht immer<br />

explizit, z.T. aus therapeutischen Gründen, z.T. weil es die Theorien, gegen die<br />

sich seine Argumente richten, zwar dem Typus nach, aber selbstverständlich<br />

nicht in ihrer gegenwärtigen Form und Terminologie gab. Wird nicht erkannt,<br />

gehören, auch wenn Kripkes Formulierung des Problems als „skeptisches Paradox“ oder als „Paradox<br />

des Regelfolgens“, wenigstens mit Blick auf textexegetische Standards, irreführend ist.<br />

2 Gleiches gilt für die verwandten, wenngleich nicht im gleichen Maße rezipierten Untersuchungen<br />

von G. Ryle in Der Begriff des Geistes.


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 107<br />

dass es sich um dieselben oder wenigstens ähnliche <strong>Prämissen</strong> handelt, bleibt die<br />

Reichweite der Konsequenzen des Argumentes verborgen. Wird aber die Reichweite<br />

eines Argumentes nicht überblickt, dann bleibt es im Grunde unbegriffen.<br />

Mir scheint, dass dies beim Privatsprachenargument der Fall ist.<br />

Abgesehen davon gibt es in großen Teilen der gegenwärtigen Philosophie eine<br />

unausgesprochene, absichtlich oder jedenfalls nicht unabsichtlich in Ignoranz<br />

mündende Abstinenz gegenüber Wittgenstein: Seine Einlassungen seien rein destruktiv,<br />

sie lähmten jede theoretische Arbeit. Und das ist in gewissen Sinne richtig,<br />

sofern Wittgenstein aus guten, jedenfalls nachvollziehbaren Gründen einen<br />

bestimmten Theorietypus, nämlich den der deduktiv-axiomatischen Theorie, als<br />

allgemeinverbindliches Erkenntnisideal der Philosophie ablehnt. Die Einsichten<br />

der Philosophie sind anderer Art als die der formalen oder empirischen Wissenschaften,<br />

und wer sich in der Philosophie am Bild dieser Wissenschaften orientiert,<br />

der mag mit Wittgenstein nicht viel anfangen können. Aber Ignoranz ist<br />

kein Argument. Dass man nach Wittgenstein in der Philosophie nicht einfach so<br />

weitermachen kann wie bisher, scheint auch klar. Aber, und das hängt mit dem<br />

oben Gesagten zusammen, es bleibt offen, wie es weiter gehen soll. Mag sein,<br />

dass viele philosophische Fragen sich als unsinnig ausweisen lassen, aber deshalb<br />

geben sie noch lang keine Ruhe. Ignoranz ist zwar kein Argument, aber<br />

manchmal hilfreich.<br />

Es wird mit Recht behauptet, dass das Privatsprachenargument dem Cartesianismus<br />

den Boden entzieht. 3 Wenn das Privatsprachenargument also zutrifft, und<br />

das ist die These, für die ich im folgenden argumentieren will, dann verlieren<br />

damit auch alle die Theorien ihre Grundlage und Berechtigung, die in der einen<br />

oder anderen Weise auf cartesianischen <strong>Prämissen</strong> beruhen oder diese voraussetzen.<br />

Was das bedeutet, bleibt aber unklar in dem Sinne, dass die systematische<br />

Reichweite cartesianischen Denkens, d.h. eines noch näher zu charakterisierenden<br />

Typus des Philosophierens, und damit auch die des Privatsprachenargumentes,<br />

meist unterschätzt wird. Ich meine nun, cartesianische <strong>Prämissen</strong> überall dort<br />

zu finden, wo Begriffe des Handelns und des Sprechens mittels der Aktivität von<br />

im relevanten Sinne isolierten, „atomaren“ Individuen bzw. unter wesentlichem<br />

Bezug auf Leistungen des individuellen Bewusstseins (Geist, mind) erklärt werden<br />

sollen. Dies trifft insbesondere auf Lockes Theorie des Geistes und der Sprache<br />

und deren zahlreiche Ableger neueren Datums zu, ebenso auf naturalistische<br />

Theorien des Geistes, sowie auf Theorien des individuellen und kollektiven<br />

Handelns, die von dem Individuum (angeblich) unmittelbar zugänglichen Intentionen<br />

ausgehen. 4 Daran ändert sich auch durch eine pragmatische Rückführung<br />

3 Zum Beispiel in S. Schröder: Das Privatsprachen-Argument. Wittgenstein über Empfindung & Ausdruck.<br />

Paderborn: Schöningh, 1998.<br />

4 Ein markantes Beispiel für Gedanken Lockescher Art in neuer Terminologie ist Wayne A. Davis’<br />

letztes Buch (Meaning, Expression and Thought. Cambridge: Cambridge UP 2003), welches für eine<br />

„expression theory of meaning“ plädiert, generell steht die Gricesche Linie der Kommunikations-<br />

und Bedeutungstheorie (wie sie etwa von G. Meggle in Grundbegriffe der Kommunikation vertreten<br />

wird) in dieser Tradition. Cartesianisch-lockesches Gedankengut findet sich auch im Stan-


108<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

von Begriffen des Geistes, des Sinns und des Verstehens auf Handlungen nichts,<br />

solange man Handlungen (und damit auch Sprechhandlungen) wesentlich unter<br />

Bezug auf den subjektiven Handlungssinn, also auf individuelle Absichten erklärt.<br />

Die Beschäftigung mit Descartes und Locke zeigt, wie tief die Vorstellungen<br />

von Geist, Sprache und Bedeutung, die mit dem Privatsprachenargument zurückgewiesen<br />

werden, in der philosophischen Tradition verankert sind und wie<br />

weit entsprechende Beschreibungen die Reflektion auf unser Tun prägen. Es ist<br />

ein Irrtum zu glauben, nur weil wir heute eine andere Terminologie verwenden,<br />

hätten sich die Konzeptualisierungen wesentlich verändert. Dies nachzuweisen<br />

und den Typus der aufgrund des Privatsprachenargumentes problematischen<br />

Begriffsbildungen zu charakterisieren, dienen die beiden folgenden Abschnitte<br />

zum cartesianisch-lockeschen Bild des Geistes. Damit sollte die systematische<br />

Relevanz und die Reichweite des Privatsprachenargumentes über bedeutungstheoretische<br />

Fragen hinaus klar werden: Es betrifft die Philosophie überhaupt.<br />

Den Nachweis dafür will ich im vierten Abschnitt führen, indem ich das Privatsprachenargument<br />

skizziere und vorschlage, es nicht nur als i.e.S. sprachphilosophisches<br />

bzw. bedeutungstheoretisches, sondern v.a. als handlungstheoretisches<br />

Argument zu lesen und es entsprechend für Intentionen und Handlungen<br />

überhaupt zu verallgemeinern (Privathandlungsargument). Es zeigt, insbesondere<br />

in dieser Verallgemeinerung, ein grundlegendes Problem des Philosophierens im<br />

Rahmen cartesianisch-lockescher <strong>Prämissen</strong>. Bekanntlich verweigert sich Wittgenstein<br />

dem Aufbau einer „positiven“ Theorie, und dafür gibt es gute Gründe. 5<br />

Nun ist hier nicht der Ort, eine solche Theorie aufzubauen, selbst wenn sie möglich<br />

sein sollte. Ich beschränke mich daher auf die Darlegung einiger Konsequenzen<br />

und methodischer Anhaltspunkte, denen eine Theorie des Geistes und<br />

der Handlung gerecht werden muss, wenn sie dem, was das Privatsprachenargument<br />

ex negativo zeigt, gerecht werden will.<br />

2. Das cartesianische Bild des Geistes<br />

2.1 Das cartesianische Subjekt<br />

Descartes hält sich einiges darauf zugute, dass seine Auffassungen einfach sind<br />

und mit dem gesunden Menschenverstande übereinstimmen, 6 dass sie jeder, der<br />

dardmodell der Handlung als intentionales Verhalten und folgerichtig in allen Theorien, die auf diesem<br />

Handlungsbegriff ruhen, insbesondere in Theorien kollektiven Handelns und der neueren Sozialphilosophie.<br />

Beispiele dafür sind, trotz großer Unterschiede im Detail, die Theorien des gemeinsamen<br />

Handelns und des „Wir“, wie sie von R. Tuomela, M. Gilbert, M. Bratman und J. Searle<br />

vorgelegt worden sind. (s. dazu auch <strong>Kannetzky</strong> 2004).<br />

5 Vgl. Raatzsch, R.: Eigentlich Seltsames. Paderborn: Schöningh, 2002, ders.: Philosophiephilosophie.<br />

Ditzingen: Reclam, 2000.<br />

6 Vgl. R. Descartes: Abhandlung über die Methode (im folgenden: Abhandlung), VI/17, S. 64 und<br />

passim. Zum cartesianischen Bild des Geistes im allgemeinen vgl. auch Ryles Der Begriff des Geis-


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 109<br />

ihre Gründe prüft, anerkennen muss. Und tatsächlich gibt es – wenigstens für uns<br />

Heutige – kaum eine plausiblere und eingängigere Doktrin in der Geschichte der<br />

Philosophie, als die von der Unmittelbarkeit des Seelenlebens und der (epistemischen)<br />

Unfehlbarkeit des Selbstwissens und des Selbstbewusstseins. Man machte<br />

sich lächerlich, wollte man bestreiten, dass doch wohl der die wahren Absichten<br />

am besten kennt, der sie hat, dass jeder selbst die letzte Autorität für seine Seelenzustände<br />

und Empfindungen ist. Jeder weiß, dass man wohl andere, aber nicht<br />

sich selbst willentlich belügen kann. Dass man sich falsch erinnert, dass sich im<br />

Nachhinein manch tiefe Empfindung als flüchtig und seicht, manche Gewissheit<br />

als falsch und manche Wahrnehmung als Sinnestäuschung herausstellt, ist kein<br />

Einwand gegen die Selbstgewissheit meines gegenwärtigen Bewusstseins: Darin,<br />

was ich eben jetzt empfinde, glaube und will, kann ich mich nicht täuschen, und<br />

dies, so wird es später aufgefasst, gehört geradezu zur Definition des Selbstbewusstseins.<br />

7 Die Seele<br />

„findet [...] zwar zunächst in sich die Vorstellungen von vielen<br />

Dingen; aber so lange sie nur diese Vorstellungen betrachtet, ohne<br />

zu behaupten oder zu leugnen, daß etwas ihnen Ähnliches außerhalb<br />

ihrer bestehe, kann sie nicht irren.“ 8<br />

Der Kern des Cartesianismus, die Lehre von der Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins<br />

und seiner epistemischen Unfehlbarkeit hinsichtlich der seelischen<br />

Zustände seines Trägers, ist durch das tägliche Leben und Erleben nicht nur fundiert,<br />

sondern ist selbst Teil des Alltags, und an diese Plausibilität können die<br />

weiteren Lehren des Descartes anknüpfen. Insbesondere der Dualismus von Leib<br />

tes, der m. E. allerdings zu wenig auf die lebensweltlichen Motive dessen, was er „offizielle Doktrin“<br />

und „paramechanische Theorie“ nennt, eingeht und Descartes’ Theorie deshalb v.a. als epistemisches<br />

Problem mangelnder Kategoriendisziplin deutet. Die zentrale Frage ist aber, warum sich<br />

der Mythos so hartnäckig hält. Ryles Verweis auf Besonderheiten der (theoretischen) Sprachverwendung<br />

ist als Beschreibung des Sachverhaltes zwar richtig, aber damit ist nicht erklärt, warum<br />

dieser Mythos durch Aufklärung nicht aus der Welt zu schaffen ist. Es ist die lebenspraktische Signifikanz<br />

bestimmter Redeweisen, die hier zu Vereinseitigungen und falschen Verallgemeinerungen<br />

führt. In einer auf ökonomische Effizienz abgestellten Welt, in der eine gesunde Portion Misstrauen<br />

zum Alltag gehört, kann man oft nur im Nachhinein beklagen, dass man die wahren Absichten anderer<br />

hätte kennen müssen, um angemessen zu handeln, wie man es umgekehrt auch begrüßen mag,<br />

die eigenen Absichten verbergen zu können. Wir können ja tatsächlich nicht in den Geist des anderen<br />

hineinschauen, und es hilft im konkreten Fall nicht, dass man es „in the long run“ doch recht<br />

zuverlässig kann.<br />

7 Vgl. etwa den „frühen“ R. Rorty: Incorrigibility as the Mark of the Mental. Journal of Philosophy<br />

67 (1970), 406-424. Rorty beschreibt den Unterschied unserer Selbstauskünfte zu Berichten über<br />

„Physisches“ gerade mittels der Unkorrigierbarkeit der „Berichte“ über die eigenen geistigen Zustände.<br />

Diese Unkorrigierbarkeit wiederum erkläre die Privatheit des Mentalen, wenngleich sich die<br />

Privilegiertheit des Zugangs zur eigenen Seele nach Rorty mit dem Wachstum neurophysiologischen<br />

Wissens relativieren mag.<br />

8 Descartes: Prinzipien der Philosophie, I/13 (im folgenden: Prinzipien). Dem entsprechen die „Vorstellungen<br />

im Geiste“ (ideas) Lockes.


110<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

und Seele hat im Freiheitsproblem eine seiner wichtigen Quellen: 9 Mag ich in<br />

meinem Verhalten auch durch äußere Zwänge bestimmt sein – in meinem Innern<br />

bin ich autonom, hier bin ich Herr. Die Gedanken sind frei. Mag die Welt sein<br />

wie sie will – ich kann mir meinen Teil dazu denken. Mag mein Handeln aufgrund<br />

der Tücken der Welt ungewollte Folgen hervorbringen – meine wahre Absicht<br />

hängt davon nicht ab. Descartes folgert, dass die Substanz des Subjektes<br />

sein Bewusstsein ist, oder genauer: Das Subjekt ist Selbstbewusstsein, Denken.<br />

Denn<br />

„Daraus, daß ich von meiner Existenz weiß und dabei gar nichts<br />

anderes als zu meiner Natur oder meinem Wesen gehörig erkenne,<br />

als daß ich ein denkendes Ding sei, schließe ich mit Recht, daß<br />

mein Wesen allein darin besteht, daß ich ein denkendes Ding<br />

bin.“ 10 ,<br />

„... eine Substanz [...], deren ganze Wesenheit oder Natur nur im<br />

Denken besteht, und die, um zu sein, keines Ortes bedarf, noch<br />

auch von irgendeinem materiellen Dinge abhängt. Es ist demnach<br />

dieses Ich, d.h. die Seele, durch die ich bin, was ich bin, von meinem<br />

Körper gänzlich verschieden und selbst leichter zu erkennen<br />

als er; und wenn es gleich keinen Körper gäbe, so würde sie trotzdem<br />

genau das bleiben, was sie ist.“ 11<br />

Selbst der Leib wird zum Objekt, auf der Subjektseite bleibt allein das Bewusstsein.<br />

Damit macht Descartes auch die Empfindungen und den Willen, die<br />

traditionell als zum Leib gehörig konzipiert und im Gegensatz zur Klarheit der<br />

Ideen des Verstandes gesehen wurden, zur Sache der geistigen Substanz, des<br />

Denkens, unter das nun alles fällt, was irgend bewusst werden kann.<br />

„Unter Denken verstehe ich Alles, was mit Bewußtsein in uns geschieht,<br />

insofern wir uns dessen bewußt sind. Deshalb gehört nicht<br />

bloß das Einsehen, Wollen, Bildlich-Vorstellen, sondern auch das<br />

Wahrnehmen hier zum Denken.“ 12<br />

2.2 Das cartesianische Objekt<br />

Es wird oft vernachlässigt, dass Descartes nicht nur der Schöpfer des bewusstseinsphilosophischen<br />

Subjektbegriffs ist, sondern, als dessen begriffliches Gegenstück,<br />

auch den neuzeitlichen Objektbegriff entscheidend geprägt hat. Dieser<br />

9 Im Grunde stellen das Freiheitsproblem, so wie es üblicherweise formuliert wird, nämlich als Problem<br />

des Determinismus, und das Leib-Seele-Problem nur verschiedene Formulierungen derselben<br />

Frage dar (die als solche freilich schon falsch gestellt ist).<br />

10 R. Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie. (übersetzt von G. Schmidt). Stuttgart: Reclam,<br />

1980 (im folgenden Meditationen), VI, S. 98.<br />

11 Abhandlung IV/4, S. 31<br />

12 Prinzipien I/9


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 111<br />

fällt weitgehend zusammen mit dem Begriff der Natur als mathematisch erfassbaren,<br />

maschinenhaften Bereich des Mechanischen. 13 Descartes Erkenntnisideal<br />

ist die Klarheit und Sicherheit der Mathematik und damit die vereinheitlichende<br />

„Mathematisierung“ der Naturerkenntnis. Diese wird, ganz im Sinne Galileis,<br />

nach dem das Buch der Natur bekanntlich in der Sprache der Mathematik geschrieben<br />

ist, zur modernen Naturwissenschaft, indem sie, von der Fülle der Bestimmungen<br />

der Dinge abstrahierend und diese idealisierend, ihren Gegenstand<br />

schafft, nämlich die Natur als Gesamtheit der mathematisierbaren nomologischen<br />

Zusammenhänge. 14 Die res extensa ist die (unbegriffene) Projektion der<br />

deduktiv-axiomatischen Darstellungsform auf die erfahrbare Welt, und nur in einem<br />

solchen Theoriezusammenhang hat auch die Rede von einer durchgehenden<br />

Notwendigkeit (etwa dem Kausalnexus) ihren Ort und ihren Sinn. Das mathematische<br />

Wissensideal, die schrittweise Konstruktion aus evidenten Elementen,<br />

wird als deren Wesen in die Welt der Erfahrung projiziert, die Natur erscheint<br />

nun als Maschine, womit in der Reflexion wiederum die mathematische Vereinheitlichung<br />

der Naturerkenntnis gerechtfertigt werden kann. Die Kategorien der<br />

„methodischen“, mathematisierten Wissenschaft werden aber nicht nur als Formen<br />

der Natur aufgefasst (die Gesetze der Mathematik und Physik legen fest,<br />

was ein natürlicher Gegenstand ist), sondern als Formen des Denkens zu allgemeinen,<br />

eingeborenen Ideen hypostasiert. Aufgrund dieser Übereinstimmung von<br />

Natur und Geist ist die Natur prinzipiell erkennbar. Was sich dieser Art der Erkenntnis<br />

dagegen vorerst entzieht, ist der Mensch selbst, sein Wesen, denn dieser<br />

ist substantiell Selbstbewusstsein, Denken – und dieses ist von der Körperwelt<br />

gänzlich unabhängig, d.h. es unterliegt nicht den Gesetzen, die mathematisch<br />

modelliert werden können. M.a.W.: Es ist als solches nicht determiniert wie die<br />

Vorgänge der Körperwelt. Ich komme darauf zurück.<br />

Der rationalen Erkenntnis, die als Kette jeweils intuitiv einsichtiger Konstruktionsschritte<br />

aus elementaren Bausteinen (nämlich den geometrischen Figuren,<br />

deren Verhältnisse dank Descartes Erfindung der analytischen Geometrie<br />

nun auch arithmetisch beschrieben werden können) aufgefasst wird, korrespondiert<br />

als Wahrheitskriterium die Evidenz, die sich auf die einfachen und intuitiv<br />

gewissen Ideen und Konstruktionsschritte bezieht. Komplexere Ideen erhalten<br />

Evidenz nur durch analytische Rückführung auf einfache Bestandteile und die<br />

daran anschließende konstruktive Synthese mittels einfacher, dem Verstand unmittelbar<br />

einleuchtender Schritte. Ganz analog sind Deduktionen nur dann beweiskräftig,<br />

wenn sie in elementare Schritte zerlegt und aus solchen wieder zu-<br />

13 Vgl. etwa Abhandlung V/16, S. 48<br />

14 Dieses Bild der Natur findet sich noch bei Kant (KdrV, Prolegomena) und ist bis heute das dominierende<br />

Bild. Bekanntlich ist dies aber nicht das letzte Wort, schon Hegel deutet dieses Bild im<br />

Sinne der Freiheit des Begriffs als eine Darstellungsform von Weltwissen, von Wright (1991, 71ff.)<br />

sieht in der nomologischen Kausalität eine Kategorie des (experimentierenden) Handelns, und in<br />

der jüngsten mir bekannten Arbeit zu Problemen der Kausalität wird diese als Anwendung generischer<br />

(nicht universeller!) Sätze auf Einzelfälle gefasst (C. Henning: Kausalität und Wahrheit.<br />

Diss, Leipzig 2004).


112<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

sammengefügt werden können. In diesem Sinne gibt es „keine anderen Wege zur<br />

sicheren Erkenntnis [...] außer der evidenten Intuition und der notwendigen Deduktion“.<br />

15 Intuitiv evident sind nun – das ist die Projektion des mathematisch<br />

(geometrisch) verfassten Methodenideals in die innere Welt des Denkens – in<br />

erster Linie räumliche, geometrisch erfassbare Vorstellungen, etwa die Ideen von<br />

Gestalt, Größe und dann auch Bewegung. 16 (Locke unterscheidet ganz analog<br />

zwischen primären und sekundären Qualitäten). Soweit nun die Natur mittels der<br />

Konstruktion aus solchen klar und deutlich einsehbaren Elementen 17 , die sich mit<br />

Blick auf diese elementaren Eigenschaften unterscheiden, theoretisch, d.h.: als<br />

Mechanismus, dargestellt werden kann, ist sie streng determiniert und bietet keinen<br />

Raum für den freien Willen und für menschliches Handeln. Damit wird eine<br />

Darstellungsform ontologisiert, d.h. der weiteren Analyse entzogen. Die Natur<br />

als geometrisch und mittels der analytischen Geometrie auch arithmetisch erfassbare<br />

Körperwelt wird zum Inbegriff eines Reiches strenger Notwendigkeit.<br />

2.3 Innen und Außen, Privatheit des Geistes<br />

Der phänomenologisch zunächst plausible und in entsprechenden Rede- und<br />

Handlungskontexten wichtige Unterscheidungen artikulierende cartesianische<br />

Dualismus von Leib und Seele wird vermittels der Projektion und Hypostasierung<br />

der „Methode“ zu einer Geist-Welt-Dichotomie vertieft. Die Welt zerfällt in<br />

eine kausal determinierte Natur, res extensa, zu der nicht nur die Bewegungen<br />

der Körper, sondern auch das Verhalten von Tier und Mensch (und damit auch<br />

die Gesellschaft) zählen 18 , und eine Welt des Geistes, res cogitans, die das Reich<br />

des freien und spontanen Denkens und Wollens darstellt und gerade dadurch definiert<br />

ist, dass sie der kausalen Notwendigkeit nicht unterliegt. Menschliches<br />

Handeln muss demnach seine Ursache im Geist haben, denn als freies Handeln<br />

durchbricht es die Naturnotwendigkeit. Dem entspricht die Erfahrung der Spontaneität<br />

menschlichen Handelns, das wohl mehr oder weniger gut, aber niemals<br />

mit letzter Gewissheit vorhergesagt werden kann. Umgekehrt gilt, „daß nichts<br />

gänzlich in unserer Macht steht, als unsere Gedanken“. 19 Das autonome Selbstbewusstsein<br />

scheint einer Welt gegenüberzustehen, die ausschließlich kausalmechanischen<br />

Gesetzen folgt. Erst vor dem Hintergrund dieses Naturbegriffs<br />

kann der Dualismus von Geist und Welt voll entfaltet werden: Wenn die Natur<br />

von der Notwendigkeit regiert wird, der Geist aber Spontaneität besitzt, dann<br />

15 Regeln XII/24, S. 121.<br />

16 Vgl. Prinzipien II/4; Meditiationen III, S. 64.<br />

17 S. etwa Abhandlung II/14ff., S. 20f. und Regeln V, VI, S. 84f.<br />

18 Der Mensch als Körper unterscheidet sich nicht vom Tier. Sofern es um sein äußerliches Verhalten,<br />

um Reaktionen auf Sinneseindrücke etc. geht, kann er als Maschine aufgefasst werden. Der eigentliche<br />

Unterschied besteht in der Vernunft, welche durch die Möglichkeit sinnvollen Sprachgebrauchs<br />

angezeigt wird (Abhandlung V/16f., S. 48ff.).<br />

19 Abhandlung III/4, S. 25.


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 113<br />

kann der Geist nicht Teil der Natur sein. 20 Was ist er dann? Eine Substanz sui generis,<br />

die ihren eigenen, nichtnatürlichen Gesetzen folgt, ein nichträumlicher,<br />

nicht- bzw. überzeitlicher, demnach ein nichtgegenständlicher Gegenstand. Wäre<br />

er in Begriffen des Raumes beschreibbar, dann unterläge er dessen Gesetzen und<br />

wäre damit Teil der ausgedehnten Natur. An der Dichotomie von unausgedehntem<br />

Denken und ausgedehntem Körper ist richtig, dass Gedanken, Absichten u.a.<br />

„Dinge der Seele“ in gewissem Sinne überzeitlich und unräumlich sind – weder<br />

hat es Sinn zu sagen, ich hätte von 9 bis 12 Uhr den Gödelschen Beweis begriffen,<br />

21 noch könnte eine physiologische Untersuchung meines Körpers diese Ü-<br />

berzeugung ans Licht bringen – die Frage ist nur, wie diese Überzeitlichkeit, Unräumlichkeit,<br />

kurz: die Nichtnatürlichkeit der „Dinge der Seele“ bzw. des Geistes<br />

erfasst werden soll, insbesondere wenn Objektivität nur den Dingen der Natur<br />

zukommen soll.<br />

In der philosophischen Tradition wird die Auffassung der Dinge des Geistes<br />

als nichtgegenständlicher Gegenstand mit der Metapher von Innen und Außen<br />

verbunden, die auch Descartes verwendet. Hier die geistige, nichtgegenständliche<br />

Innenwelt, da die Außenwelt der ausgedehnten Körper im Raum. Dabei wird<br />

die geistige Innenwelt als der Bereich des Eigenpsychischen gedeutet. Damit ist<br />

unter der Hand eine wichtige begriffliche Entscheidung gefallen, denn das Reich<br />

des Geistes und der Subjektivität, d.h. der Totalität der menschlichen Handlungsund<br />

Denkmöglichkeiten, wird damit nicht nur gegen die physische Welt abgegrenzt,<br />

sondern primär als subjektives Bewusstsein, als Seele aufgefasst. Daraus,<br />

dass wir nur als Individuen wahrnehmen, denken, fühlen, wollen können, wird<br />

geschlossen, dass das individuelle Bewusstsein die Basis allen Denkens und<br />

Handelns ist. Zwei wichtige Konsequenzen daraus sind die folgenden: Erstens<br />

20 Lässt man mit Blick auf die Natur dagegen auch andere Redeformen, etwa eine eher qualitative<br />

und teleologische Sichtweise, als sinnvoll zu und damit auch verschiedene Gegenstandsbereiche<br />

sinnvoller Rede, etwa die einer „aristotelischen“ Natur, der es nicht um die Vereinheitlichung der<br />

Naturerkenntnis mittels mathematischer Modellierung geht und die damit den Dingen ihr je eigenes,<br />

irreduzibles Wesen lässt, dann lässt sich der Dualismus von Leib und Seele, von Naturwesen<br />

und Vernunftwesen, am Ende der von Notwendigkeit i.S. einer naturgesetzlichen Determination<br />

und Freiheit gar nicht sinnvoll formulieren. Wie könnte es einen Widerspruch zwischen Zweckmäßigkeit<br />

und Natur geben, wenn die Natur selbst nicht nur mechanistisch aus Ursachen gedacht<br />

werden kann, sondern mit Blick auf Verläufe und deren Finalität teleologisch gedacht werden<br />

muss, weil es andernfalls gar keinen Sinn hätte, von Verläufen zu sprechen? (Deshalb gilt mit Hegel:<br />

„Die Wahrheit des Mechanismus ist die Teleologie“). Ich will im folgenden nicht weiter auf<br />

diesen zweiten, für den Dualismus konstitutiven Aspekt des Cartesianismus eingehen, nur insofern<br />

er den Menschen betrifft, also den Hintergrund bildet a) für die Idee und dann auch die Kritik freischwebender<br />

Subjektivität und b) für das Standardmodell der Handlung als intentional „verursachtem“<br />

Verlauf.<br />

21 In diesem Zusammenhang ist interessant, dass Verben des Mentalen gewöhnlich keine Abläufe benennen,<br />

sondern das Vorliegen von Zuständen bezeichnen. Identifiziert man Geistiges mit dem<br />

Mentalen, dann muss demzufolge alles Geistige ein Zustand der individuellen Seele oder des individuellen<br />

Bewusstseins sein, was nun wiederum mit der Unräumlichkeit und Überzeitlichkeit des<br />

Geistigen bzw. der Gehalte des Bewusstseins kollidiert (vgl. hierzu auch Freges Psychologismuskritik<br />

in „Der Gedanke“ und in Grundlagen der Arithmetik).


114<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

wird der Geist als Seele, als individuelles Bewusstsein des Ich aufgefasst. Der<br />

Cartesianismus führt damit zum Individualismus, zum Nominalismus in Fragen<br />

des Geistes. 22 Das notorische ontologische Problem des Geistes scheint damit gelöst:<br />

Geist ist Psyche. Zugleich wird damit eine Erklärungs- und Darstellungsnorm<br />

der Rede über Geistiges gesetzt: Überindividuelles ist auf Individuelles zurückzuführen,<br />

Objektivität auf Subjektivität. 23 Damit ist zweitens auf engste verknüpft,<br />

was man die Psychologisierung des Geistes nennen kann. 24 Das bedeutet,<br />

dass man, um die Gehalte, die Funktionsweise, die Reichweite und die Grenzen<br />

des Geistes zu erfassen, das Seelenleben der einzelnen Person(en) betrachteten<br />

muss. Die wichtigste (und in der Konsequenz einzige) Quelle der Kenntnis über<br />

den, nun auf das seelische Innenleben geschrumpften, Geist ist die Introspektion,<br />

die nach innen gerichtete Wahrnehmung: Ich weiß, was in meinem Inneren vorgeht,<br />

die Tätigkeiten meines Geistes sind mir unmittelbar bewusst, und ich kann<br />

meine Aufmerksamkeit darauf richten. Das Denken „wird deshalb eher und sicherer<br />

als die körperlichen Gegenstände erkannt; denn man begreift es schon,<br />

während man über alles Andere noch zweifelt.“ 25 Damit wird ein weiterer Zug<br />

des Cartesianismus deutlich: Der Geist ist privat – nur ich kann wissen, was in<br />

meinem Inneren vorgeht – und zwar aus begrifflichen Gründen. Denn die<br />

Introspektion, welche die Erkenntnisart der Vorgänge und Zustände des Geistes<br />

darstellt, ist als Selbstbeobachtung des Inneren anderen per definitionem nicht<br />

zugänglich. Deshalb ist das Individuum mit Blick auf sein Seelenleben erste und<br />

22 Gegen die Deutung des Cartesianismus als Individualismus spricht auch nicht, dass das cartesianische<br />

Ich als transzendentales Ich gedeutet werden kann. Denn worauf es ankommt ist, wie diese<br />

transzendentalen Bedingungen der Teilnahme an menschlichen Praxen realisiert sind: Als quasinatürliche<br />

Kompetenzen eines jeden einzelnen Subjektes, gewissermaßen als das natürliche oder angeborene<br />

Allgemeine beliebiger Ichs, oder als Resultat der Aneignung kultureller Formen? Sind sie<br />

mittels (im logischen Sinne) universeller oder mittels generischer Sätze zu beschreiben? Was eine<br />

transzendentale Bedingung von Subjektivität ist, gilt per definitionem für jedes einzelne Individuum,<br />

die umgekehrte Richtung der Implikation gilt nicht. Auch wenn die transzendentale Deutung<br />

interessanter ist, scheint mir, dass Descartes Behauptungen eher als universelle zu lesen sind.<br />

Ich will aber an dieser Stelle nicht um die Lesart streiten, weil es mir um die Charakterisierung eines<br />

Theorietypus geht, an dessen Tradition sich einflussreiche Hauptrichtungen des gegenwärtigen<br />

Philosophierens orientieren, und dieser Theorietypus zielt auf universelle Sätze.<br />

23 Als Ausweg aus dieser Ungereimtheit bietet sich an, Objektivität auf Intersubjektivität zurückzuführen.<br />

Die Frage ist dann allerdings, in welchem Sinne Intersubjektivität zu verstehen ist. Die<br />

bloß zufällige Allgemeinheit von Vorstellungen, Normen etc. in einer Population jedenfalls genügt<br />

nicht. Es bedarf vielmehr einer von den individuellen Vorstellungen unabhängigen, „idealen“ Intersubjektivität,<br />

an der sich die Richtigkeit faktischer Übereinstimmungen bemisst. Diese stellt<br />

sich nicht einfach ein, sondern muss vor dem Hintergrund gemeinsamer Traditionen gemeinsam<br />

hergestellt und anerkannt werden. Ich komme darauf zurück.<br />

24 Obwohl Individualismus und Psychologismus in der Philosophie des Geistes faktisch eng zusammenhängen,<br />

oft bis zur Unkenntlichkeit ihres Unterschiedes, ist es sinnvoll, sie zu unterscheiden.<br />

Der Individualismus betrifft die Form möglicher Erklärungen und Theorien, er entscheidet die<br />

Frage, was Explanans und was Explanandum ist; der Psychologismus bestimmt ihren materialen<br />

Gehalt. Der Mentalismus als prima facie plausibelste Verbindung dieser Theoriedimensionen verknüpft<br />

das individualistische Theorieformat mit dem Gehalt psychologischer Begriffsbildungen.<br />

Der Intentionalismus ist dann der ins Handlungstheoretisch-Pragmatische gewendete Mentalismus.<br />

25 Prinzipien I/8


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 115<br />

letzte Instanz – die vieldiskutierte Autorität der ersten Person ist deshalb nur eine<br />

andere Weise, Grundzüge der cartesianischen Konzeption des Geistes zu artikulieren,<br />

insbesondere die (nur scheinbar unproblematische) Unmittelbarkeit des<br />

Selbstbewusstseins und seiner Gehalte.<br />

Es kann nun eingewandt werden, dass es ein Unterschied sei, ob der Geist<br />

privat ist oder ob das Subjekt nur privilegierten Zugang zu seinem Geist hat, etwa<br />

per Introspektion. Der privilegierte Zugang folge aus der Privatheit, aber<br />

nicht umgekehrt. Deshalb wäre die These vom privilegierten Zugang schwächer<br />

als die der Privatheit des Geistes und würde deshalb bestimmte, noch zu benennende<br />

Konsequenzen nicht zulassen. Allerdings ist dieser Unterschied nicht<br />

plausibel zu machen, weil die Privatheit des Seelenlebens ja gerade über den privilegierten<br />

Zugang definiert wird – das ist der entscheidende Schritt, nicht die<br />

folgende Hypostasierung zur privaten Seelensubstanz. Entweder heißt „privilegiert“<br />

soviel wie „exklusiv“, dann macht es keinen Unterschied. Oder es heißt<br />

soviel wie: „Ich habe den ersten (primären) Zugriff, ich kann mich festlegen“,<br />

dann ist das zunächst eine grammatische Behauptung. Liest man sie als Behauptung<br />

über den Geist, dann präsupponiert die Rede vom privilegierten Zugang, es<br />

gäbe auch andere, ggf. weniger verlässliche Zugänge. Damit wären das Bewusstsein<br />

und seine Gehalte aber auch anderweitig, und das bedeutet auch: anderen,<br />

zugänglich, d.h. sie wären nicht privat, und das ist dann keine Frage des Grades<br />

der Gewissheit, sondern eine begriffliche Feststellung. Dann müsste es aber<br />

möglich sein, dass mich andere aufgrund externer Kriterien in meinen Festlegungen<br />

korrigieren können – dann habe ich im Widerspruch zur Voraussetzung<br />

aber keinen primären Zugriff, kein Privileg der Festlegung. Da im Rahmen des<br />

Cartesianismus jede Fremdzuschreibung von Intentionen, ja, von Bewusstsein<br />

überhaupt, notwendig ungewiss, bloßes Vermuten ist, artikuliert die These vom<br />

privilegierten Zugang im Rahmen des Cartesianismus keinen Unterschied zur<br />

Privatheit, weil er der einzig mögliche Zugang zum Bewusstsein bleibt. Ohne externe<br />

Kriterien der Identifikation geistiger Zustände fallen die Behauptung der<br />

Privatheit des Geistes und die Behauptung eines privilegierten Zugangs daher<br />

zusammen. Was bedeutet also die Rede von privilegierten Zugang, wenn es prinzipiell<br />

keinen gleichwertigen alternativen Zugang gibt? Sie ist im Rahmen des<br />

Cartesianismus tautologisch, Privatheit des Geistes und privilegierter Zugang<br />

zum Geist sind nur zwei Seiten ein und derselben Medaille. Sinnvoll ist die These<br />

vom privilegierten Zugang und damit von der Autorität der ersten Person erst<br />

vor dem Hintergrund anderer, ggf. konkurrierender Möglichkeiten der Zuschreibung<br />

intentionaler Gehalte zur Person, die mit der Privatheit des Geistes nicht<br />

vereinbar sind.<br />

3. Das cartesianische Erbe<br />

Im folgenden will ich einige Konsequenzen der cartesianischen Konzeption darstellen.<br />

Wie ich noch zeigen werde, handelt es sich dabei gleichermaßen auch um


116<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

das Erbe Lockes. Dabei geht es mir ausdrücklich nicht um eine Interpretation der<br />

Schriften Descartes’ oder Lockes. Vielmehr geht es mir um die Charakterisierung<br />

eines Theorietypus in der Philosophie und einiger seiner kaum beachteten Folgen<br />

auf Gebieten, zu denen sich Descartes nicht explizit bzw. unter einem anderen<br />

Interesse und v.a. vor einem anderen Hintergrund geäußert hat. Etwa ist für Descartes<br />

das Problem des Handelns vor allem ein Problem des „richtigen“ Handelns,<br />

also der Rationalität materialer Handlungsmaximen, nicht ein Problem der<br />

Identifikation und Möglichkeit von Handlungen selbst. Diese werden als unproblematisch<br />

unterstellt und stehen daher nicht im Fokus des Interesses. (So wird die<br />

Übereinstimmung von Einsicht und Handlung, ebenso wie die von Geist und<br />

Welt, also rationale Erkenntnis und rationales Handeln, letztlich von Gott garantiert.)<br />

Ähnlich unproblematisch ist für Descartes die Sprache und die sprachliche<br />

Verfasstheit des Geistes. Mich interessiert aber, was aus Descartes Konzeption<br />

wird, wenn diese Hintergrundsgewissheiten entfallen.<br />

3.1 Handlung und Interpretation, Unvermeidlichkeit des Solipsismus<br />

Wenn Geist und Welt, Inneres und Äußeres auseinanderfallen, dann hat das auch<br />

Konsequenzen für den Begriff der Handlung. Insbesondere erscheint die Übereinstimmung<br />

von Intention und Resultat der Handlung als bloß zufällig, als<br />

„Gnade des Schicksals“ (Wittgenstein). Intention und Handlungsergebnis sind<br />

logisch voneinander unabhängig. Wäre das Resultat von der Absicht des Akteurs<br />

abhängig, dann müsste die Absicht im Widerspruch zur Voraussetzung in den Bereich<br />

der Ursachen, also zur äußeren Welt gehören. 26 Eine Reaktion auf dieses<br />

Dilemma ist, den Dualismus anzugreifen und Absichten zu Ursachen des Handels<br />

zu erklären, also den Geist in die Kausalreihen der äußeren Welt einzuordnen,<br />

was der Freiheit und Spontaneität des Geistes widerspräche. 27 Mit der logischen<br />

Unabhängigkeit (bzw. der bloß empirischen Abhängigkeit) von Absicht<br />

und Ergebnis der Handlung lassen sich nun verschiedene lebensweltliche Erfahrungen<br />

in das cartesianische Bild integrieren. Zum einen, dass anscheinend jedes<br />

Tun auf verschiedene, teilweise sogar ausschließende Weisen gedeutet werden<br />

kann, also das Problem der richtigen Beschreibung oder „Rationalisierung“ 28 der<br />

Handlung, zum anderen die Erfahrung, dass Handlungen scheitern können. Beides<br />

wird zu notwendigen, aus begrifflichen Gründen geltenden, Eigenschaften<br />

von Handlungen. Auch daraus zieht der moderne Cartesianismus prima facie<br />

26 Zur Frage der Unabhängigkeit von innerem und äußeren Aspekt der Handlung s. auch G. H. v.<br />

Wright: Erklären und Verstehen. (3. Aufl.). Frankfurt a.M.: Hain.1991, S. 89ff.<br />

27 Die Lösung, „Kausalität aus Freiheit“ zu postulieren, ist ebenso fragwürdig, eine Scheinlösung, die<br />

das Problem nur verschiebt, indem anstatt zweier Substanzen zwei Redebereiche eingeführt werden,<br />

die nicht miteinander kompatibel sind. Bei Kant führt sie bekanntlich zur strikten Trennung<br />

von empirischen und intelligblen Charakter, zur Lehre vom Menschen als Bürger zweier Welten.<br />

28 Vgl. Davidsons Aufsatz „Handlungen, Gründe und Ursachen.“ Aufgrund seines die Fragestellungen<br />

der handlungstheoretischen Diskussion prägenden Einflusses, soll der Verweis auf Davidson<br />

hier als paradigmatisches Beispiel für die Lebendigkeit cartesianischen Denkens genügen.


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 117<br />

Plausibilität, denn in der Tat kann jede einzelne Handlung scheitern oder nichtintendierte<br />

Nebenfolgen bis hin zur Verkehrung der Absicht in ihr Gegenteil hervorbringen.<br />

Dies gilt erst recht in sozialen Kontexten, in denen die Handlungsergebnisse<br />

vom Handeln anderer Personen abhängen.<br />

Um unter diesen Voraussetzungen noch sinnvoll von bestimmten Handlungen<br />

sprechen zu können, wird ein Element der Handlung zu ihrer Substanz erklärt,<br />

nämlich ihr innerer Aspekt, die Absicht. Damit wird die Handlung auf die Abwägung<br />

möglicher Resultate, die Festlegung auf eine Alternative und den Entschluss,<br />

die Handlung auszuführen, also auf die Intention des Akteurs, reduziert,<br />

weil die Handlungsresultate zur „äußeren Welt“ gehören und damit dem Zugriff<br />

des Subjektes entzogen sind. Was in der Urheberschaft und Verantwortung des<br />

Akteurs liegt und damit einzig zählt, ist seine Absicht, die als „geistige Ursache“<br />

den weiteren Verlauf in Gang setzt und die einzige Konstante inmitten der Vielfalt<br />

möglicher Handlungsverläufe, -resultate und -interpretationen darstellt. Sie<br />

macht demnach das Wesen der Handlung aus und ist das relevante Identifikations-<br />

und Individuationskriterium für Handlungen. 29 Das „Denken“ ist demnach<br />

die Substanz auch des Handelns. Da aber nur der Akteur weiß, was in seinem Inneren<br />

vorgeht, welche Absichten er verfolgt, welche Motive ihn zu einer Handlung<br />

bringen etc., kann letztlich nur der Akteur selbst wissen, welche Handlung<br />

er vollzogen hat. Unter dieser ‘psychologischen’ Deutung des Geistes werden<br />

Absichten zu (privaten) geistigen Zuständen, die Angabe der Absicht bzw. des<br />

Handlungsgrundes wird entsprechend als Bericht über einen inneren Zustand gedeutet,<br />

welcher der Handlung als ihre Ursache vorausgeht.<br />

Mit der Trennung der Absicht vom Vollzug und vom Resultat der Handlung<br />

wird der Begriff der Handlung aber unterminiert. Wenn Handeln wesentlich als<br />

(rationales) Entscheiden und der Vollzug der Handlung als kontingent, d.h. nicht<br />

als bestimmte Ausführung zur Handlung zugehörig betrachtet wird, dann fallen<br />

falsche Handlung und falsche Entscheidung zusammen. Eine falsche oder unrichtige<br />

Ausführung kann es dann nicht geben bzw. diese ist bloß kontingent,<br />

dem Modus des Handelns nicht wesentlich. Aber auch wenn Absicht und Vollzug<br />

bzw. Resultat jeder einzelnen konkreten Handlung auseinanderfallen können, ist<br />

es unsinnig anzunehmen, beliebige, d.h. alle Handlungen könnten in ihrer Ausführung<br />

scheitern, weil dann eine Zuordnung von Zweck bzw. Absicht und Ausführung<br />

bzw. Resultat der Handlung nicht mehr möglich wäre; es wäre dann unsinnig,<br />

von der Zweckmäßigkeit von Handlungen und damit vom Handlungssinn<br />

zu sprechen. Wenn das Resultat meiner Handlung H mit meiner Handlungsabsicht<br />

nur zufällig verbunden ist, d.h. wenn ich nicht davon ausgehen kann, dass<br />

die Ausführung von H gewöhnlich zum gewünschten Resultat führt, dann ist H<br />

keine mögliche Handlung, weil das Resultat als realisierte Absicht bzw. vorweggenommene<br />

Erfüllung zur Handlung gehört. Da nach Voraussetzung aber für be-<br />

29 Noch Kant teilt diesen Handlungsbegriff: Was zählt, ist die Absicht.


118<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

liebige Handlungen gelten soll, dass Absicht und Resultat voneinander logisch<br />

unabhängig sind, ist der cartesianische Handlungsbegriff inkonsistent.<br />

Freilich werden die Konsequenzen der logischen Unabhängigkeit von innerem<br />

und äußerem Aspekt der Handlung gewöhnlich nicht in dieser Weise zugespitzt.<br />

30 Bleibt man aber, wie das bewusstseinsphilosophische Handlungsmodell<br />

von Descartes über Kant bis Davidson nahelegt, dabei, dass Handlungen durch<br />

Intentionen individuiert werden, die als geistige Zustände des handelnden Individuums<br />

zugleich die Ursache der Handlung darstellen sollen, dann ist es inkonsequent,<br />

diese Folgen des Modells zu ignorieren.<br />

Eine wichtige Konsequenz ist nun der Solipsismus, d.h. der Skeptizismus mit<br />

Blick auf die Existenz anderer Subjekte, also (selbst)bewusster und handelnder<br />

Wesen, der unmittelbar aus der Privatheit des Geistes und damit der Handlung<br />

folgt. Denn die äußere Wirklichkeit können wir nur mittelbar erkennen, sie ist<br />

deshalb ungewiss, während uns unser Bewusstsein unmittelbar gegeben ist. Das<br />

einzig Gewisse ist demnach unser Selbstbewusstsein. Auch wenn man von dieser<br />

generellen Skepsis gegenüber dem Weltwissen absieht und hier auf grundlegende<br />

Evidenzen und die Richtigkeit der analytisch-synthetischen Methode (sowie darauf,<br />

dass Gott kein Betrüger ist) vertraut, bleibt das Problem des Bewusstseins<br />

anderer akut. Denn das Handeln anderer ist uns zunächst nur als körperliches<br />

Verhalten gegeben. Als Handlung wird dieses nach dem oben skizzierten Handlungsmodell<br />

nur durch die Zuordnung entsprechender geistiger Zustände qualifiziert.<br />

Da uns das Bewusstsein anderer aber nicht direkt zugänglich ist, können<br />

wir hier nur analogisches Wissen haben, und zwar ohne dass es für dessen Richtigkeit<br />

ein Kriterium geben könnte. Denn die Tatsachen der Körperwelt können<br />

nichts über den Geist besagen. Folglich bleibt mir der Geist anderer Menschen<br />

verschlossen, denn von ihnen kenne ich ja nichts als ihre „Außenseite“, ihren<br />

Körper und dessen wahrnehmbares Verhalten. Da nun die Körperwelt vollständig<br />

„mechanisch“ beschrieben werden kann und auch der Mensch mit Blick auf sein<br />

äußeres Verhalten als „Maschine“ aufgefasst wird, ist die Annahme anderer Bewusstseine<br />

und damit auch anderer Subjekte nicht zwingend, selbst unter der<br />

Annahme vollständiger Kenntnis aller „äußeren“ Tatsachen. Es ist demnach nicht<br />

nur eine Frage der Interpretation, welche Handlung der andere ausführt, sondern<br />

auch, ob er überhaupt handelt. Der entscheidende systematische Ansatzpunkt für<br />

solipsistische Konsequenzen, nicht nur bei Descartes, ist demnach, dass die<br />

Richtigkeitskriterien für Behauptungen über seelische Zustände bewusstseinsimmanent<br />

sind, d.h. im behauptenden Subjekt selbst liegen, und dies ist eine direkte<br />

Folge der Bestimmung des Geistes als individuelles Bewusstsein.<br />

30 Bedenken sollte man dabei aber, dass Descartes den Zweifel selbst auf die Spitze treibt, zwar nicht<br />

mit Blick auf den Begriff der Handlung, die in seinen Überlegungen ohnehin nur eine untergeordnete<br />

Rolle spielt, wohl aber mit Blick auf das Subjekt selbst, welches sich als reines Bewusstsein<br />

nicht einmal seines Leibes sicher sein kann. Am Begriff der Handlung werden die bizarren Konsequenzen<br />

der Konzeption nur augenfällig, die akzeptabel oder jedenfalls nicht unsinnig erscheinen,<br />

solange man im Epistemischen verbleibt.


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 119<br />

Die angebliche (Selbst)Widerlegung des Solipsismus durch den performativen<br />

Widerspruch seiner Mitteilung verfehlt ihren Gegenstand. Denn der Solipsismus<br />

als Artikulation einer Konsequenz der Privatheit des Geistes ist auch als<br />

Selbstverständigung des einsamen Subjektes denkbar. Er wird jedenfalls nicht<br />

dadurch erschüttert, dass er mitgeteilt und verstanden werden kann, solange nicht<br />

gezeigt ist, ob und wie kommunikatives Verstehen überhaupt möglich ist. Der<br />

Solipsismus kann nur dadurch erschüttert werden, dass gezeigt wird, dass das solipsistisch<br />

gedachte Subjekt sich selbst nicht verstehen kann, dass Bedeutung und<br />

intentionaler Gehalt vom Standpunkt eines isolierten Individuums her nicht verständlich<br />

zu machen sind. Gerade das wird vom Privatsprachenargument geleistet.<br />

Paradoxerweise gründet auf der Psychologisierung des Geistes ein ganzes<br />

Forschungsprogramm, welches mit den entsprechenden, von Descartes geerbten,<br />

Problemstellungen noch immer die Diskussion um Mensch, Geist und Gesellschaft<br />

dominiert. Ein zentraler Punkt ist dabei die Auseinandersetzung mit Fragen<br />

der Sprache, der Bedeutung und des Verstehens. Ich werde deshalb am Beispiel<br />

Lockes als einem der Ahnen der Sprachphilosophie darstellen, wie die begrifflichen<br />

Entscheidungen des Cartesianismus auf sprachphilosophische Positionen<br />

durchschlagen. Anschließend will ich auch für andere Gebiete der Philosophie<br />

skizzieren, wie das Descartes-Lockesche Paradigma deren Fragestellungen<br />

bis heute beeinflusst.<br />

3.2 Lockes Erweiterung des Cartesianismus<br />

John Lockes Ausarbeitung des Cartesianismus für das Problem der Bedeutung<br />

und der sprachlichen Verständigung 31 , ist bis heute ein, wenn nicht das, Paradigma<br />

des Verhältnisses von Geist, Sprache und Kommunikation. Dabei spielt es<br />

keine Rolle, dass Descartes den Sinnen misstraut, während Locke meint, dass die<br />

Sinne letztlich der einzige Garant der Wahrheit seien, dass Descartes die Existenz<br />

„angeborener Ideen“ annimmt, während Locke diese für Hirngespinste hält<br />

und dergleichen mehr. Dies sind nur Unterschiede der Deutung und Gewichtung<br />

von Phänomenen, die sowohl Descartes als auch Locke anerkennen, also unterschiedliche<br />

Positionen innerhalb eines Fragehorizontes mit gemeinsamen systematischen<br />

Präsuppositionen und Grundunterscheidungen.<br />

Bekanntlich überbrückt Locke die Kluft von Geist und Welt, indem die Erfahrung<br />

als deren Mittler an zentrale Stelle gerückt wird. Freilich wird Erfahrung<br />

bei Locke auf Empfindungen reduziert. Diese sollen einerseits sachhaltig sein,<br />

indem sie per Affizierung der Sinne durch die Dinge der Außenwelt (sensation)<br />

gerade diese Dinge „repräsentieren“ oder „vorstellen“, andererseits gehören sie<br />

zum Bewusstsein des Individuums. Zwar ist mir – ganz cartesianisch – nur mein<br />

31 J. Locke: Essay concerning human understanding (im folgenden: Versuch) (Zitiert nach der dt. Ü-<br />

bers. von J. H. von Kirchmann: Versuch über den menschlichen Verstand. Berlin: L. Heimann<br />

1872/73).


120<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

Bewusstsein unmittelbar gegeben, entsprechend ist an der Objektivität der auf<br />

Basis der Empfindungen und deren Verarbeitung durch den Verstand (reflection)<br />

gebildeten „Vorstellungen im Geiste“ (ideas) zu zweifeln, aber gerade diese<br />

skeptische Not wird zur epistemischen Tugend erklärt: Ich mag mich darin täuschen,<br />

ob diese Rose wirklich rot ist oder darin, ob da wirklich eine Rose ist, a-<br />

ber ich kann mich nicht darin täuschen, dass ich die Vorstellung einer roten Rose,<br />

eine Rot-Empfindung oder ähnliches habe. Wie selbstverständlich wird dabei unterstellt,<br />

dass das Subjekt der Erkenntnis das einzelne Individuum ist, und entsprechend<br />

ist die zentrale Fragestellung der traditionellen Erkenntnistheorie bis<br />

heute, wie man vom individuellen Bewusstsein zu objektiver Erkenntnis gelangt.<br />

Der Ausgangspunkt bleibt die Unmittelbarkeit und Evidenz des Eigenpsychischen,<br />

das dem Individuum bewusste Wahrnehmen, Denken, Wollen. 32<br />

Wie kann unter diesen Voraussetzungen Sprache, Bedeutung und Verstehen<br />

konzipiert werden? Allein die Verwendung von Lauten reicht nach Locke „zur<br />

Sprache nicht hin; denn auch Papageien und anderen Vögeln kann das Bilden<br />

von artikulierten Lauten angelernt werden, obgleich sie auf keine Weise der<br />

Sprache fähig sind.“ 33 Vielmehr sei es „erforderlich, die Laute als Zeichen innerer<br />

Auffassungen zu gebrauchen und sie zu Zeichen von Vorstellungen zu machen,<br />

die Anderen dadurch erkennbar würden.“ 34 Da es Vorstellungen aber nur<br />

im individuellen Bewusstsein gibt, können „die Worte eigentlich und unmittelbar<br />

nur die Vorstellungen des Sprechenden bezeichnen“. 35 M.a.W.: Wörter erhalten<br />

dadurch Bedeutung, dass ihnen ein Individuum Bedeutung verleiht, indem es etwas<br />

mit ihnen meint. Da Bewusstsein bei Locke, gut cartesianisch, „die Wahrnehmung<br />

dessen, was in der eignen Seele vorgeht“ 36 ist, beruht sprachliche Bedeutung<br />

auf der privaten Zuordnung von Lauten zu Vorstellungen im Geiste. Dabei<br />

muss der Sprecher etwas Bestimmtes meinen, d.h. „klare und deutliche“ Vorstellungen<br />

mit den Wörtern verbinden, ansonsten ist deren Bedeutung unbe-<br />

32 Die „Sinnesdatentheorie“ ist eine Konstante der Erkenntnistheorie seit Locke. Insofern gibt es,<br />

vermittelt über Lockes Versuch der Bewältigung der cartesianischen Problemstellung, eine direkte<br />

Linie von Descartes bis zum Logischen Positivismus des Wiener Kreises und seinen „Basissätzen“,<br />

Carnaps „Konstitutionssystem“ in Der logische Aufbau der Welt, dem Versuch, die Welt vom<br />

Eigenpsychischen her zu rekonstruieren, über Quines Word and Object, dem Versuch, unsere<br />

Kenntnisse der Welt von den „sensorischen Reizungen der Körperoberfläche“ her verständlich zu<br />

machen, bis hin zu neueren Diskussionen des „Basisproblems“. Freilich wird Descartes’ „Rationalismus“<br />

gewöhnlich als „metaphysisch“ abgelehnt. Aber dabei wird übersehen, in welchem Maße<br />

diese Kritik sowohl von der Problemstellung als auch von den <strong>Prämissen</strong> Descartes’ abhängt. Das<br />

betrifft auch noch die Gegenentwürfe zum empiristischen Fundamentalismus, etwa die Kohärenztheorie<br />

des Wissens. In Descartes’ Terminologie könnte man sagen: Die Erfahrung legt uns nicht<br />

auf eine Theorie fest, und wenn Gott als Garant der Objektivität der Ideen und Axiome der Vernunft<br />

ausfällt, dann sind auf Basis derselben „Daten“ prinzipiell verschiedene Weltauffassungen<br />

möglich (vgl. dazu die sog. Quine-Duhem-These von der Unterbestimmtheit der Theorie durch die<br />

Daten, s. dazu auch Quine: Zwei Dogmen des Empirismus).<br />

33 Versuch III/1, §1<br />

34 Versuch III/1, §2<br />

35 Versuch III/2, §4<br />

36 Versuch II/1, §19


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 121<br />

stimmt, genauer: sie hätten keine Bedeutung, weil die Zuordnung zu genau einem<br />

geistigen Gegenstand scheitern würde. 37 Diese Zuordnungen liegen in der<br />

Willkür des einzelnen Individuums. Ihre Festigkeit hängt nun vom Gedächtnis<br />

ab, davon, dass sich der Sprecher der Zuordnung seiner inneren Vorstellungen<br />

(oder Vorstellungsbündel) zu den äußeren, öffentlich wahrnehmbaren Zeichen<br />

richtig erinnert.<br />

Diese Überlegungen Lockes zum Zusammenhang von Geist und Sprache,<br />

von Bedeutung und Zeichen, bilden den systematischen Hintergrund der Idee einer<br />

Privatsprache oder Sprache des Geistes. Diese ist nicht ein zusätzliches Konstrukt,<br />

sondern die systematische Voraussetzung des Modells. Nach Locke sind<br />

nur klare und deutliche, d.h. bestimmte Vorstellungen im Geiste tatsächlich I-<br />

deen. Die Bestimmtheit von Vorstellungen und Vorstellungsbündeln, d.h. die<br />

Möglichkeit von Ideen, ist aber daran gebunden, dass sie mit Wörtern als deren<br />

sinnlichen Ankerpunkten verknüpft sind, 38 zum einen aus mnemotechnischen<br />

Gründen, zum anderen als das Vehikel der Bildung komplexer und dann auch<br />

abstrakter Ideen, die, weil ihnen nichts sinnlich Wahrnehmbares entspricht, ohne<br />

sprachliches Zeichen keinen Halt hätten. Ohne Wörter keine bestimmten Ideen. 39<br />

In diesem (und nur in diesem) Sinne ist das Denken auch bei Locke an die Sprache<br />

gebunden. Da Denken aber nun ein innerer, privater Vorgang der Verknüpfung<br />

von Ideen ist und die Zuordnung von Wort und Idee in der Willkür des Individuums<br />

liegt, muss es sich bei der Sprache des Denkens bzw. des Geistes um<br />

eine Privatsprache handeln. Die Idee der Privatsprache ist demnach eine zentrale,<br />

wenn auch nicht explizit ausgesprochene Voraussetzung des cartesianischlockeschen<br />

Bildes. Als unproblematischer Sinnhintergrund des Modells steht sie<br />

für die Bestimmtheit der Ideen und damit die Möglichkeit rationalen Denkens.<br />

Nun können Ideen nicht direkt vermittelt werden, denn<br />

„wenn auch Jemand viele und solche Gedanken hat, die Anderen<br />

ebenso viel Nutzen und Vergnügen wie ihm selbst gewähren könnten,<br />

so sind sie doch alle in seiner Brust, unsichtbar, den Anderen<br />

verborgen und können sich äusserlich nicht zeigen.“ 40 „Es war also<br />

außerdem noch die Fälligkeit erforderlich, die Laute als Zeichen<br />

innerer Auffassungen zu gebrauchen und sie zu Zeichen von Vorstellungen<br />

zu machen, die Anderen dadurch erkennbar würden,<br />

37 Dies ist eine spezifische Art der Gegenstandstheorie der Bedeutung. Auf die Probleme dieser Theorie,<br />

soweit sie sich aus der Idee einer eindeutigen Zuordnung von Wörtern zu Gegenständen ergeben,<br />

will ich hier aber nicht weiter eingehen, weil, wie das Privatsprachenargument zeigt, schon<br />

die Prämisse, es gäbe solche privaten geistigen Gegenstände, nicht haltbar ist.<br />

38 S. Versuch III/2, §1<br />

39 Locke sieht dies so v.a. für Ideen gemischter Modi. Aber diese These gilt nach seinen <strong>Prämissen</strong><br />

auch für allgemeine Ideen, für beliebige Abstrakta (und alle Wörter beziehen sich auf Abstrakta)<br />

als Produkte des Verstandes, der die Wörter als Außenhalt und Stabilisator der Ideen braucht. (vgl.<br />

Versuch III/5, §10).<br />

40 Versuch III/2, §1


122<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

damit die Menschen ihre Gedanken einander mittheilen konnten.“<br />

(Hervorhebungen von mir) 41<br />

Die Notwendigkeit der Artikulation der Gedanken ergibt sich aus dem Bedürfnis<br />

der Kommunikation, die Sprache ist deren Instrument. Der Sprecher ordnet<br />

seinen Gedanken öffentlich, d.h. als Körperbewegungen, wahrnehmbare Zeichen<br />

der Sprache zu, der Hörer interpretiert diese Zeichen, um sich die Gedanken<br />

des Sprechers, das Gemeinte, aus dem Gehörten zu erschließen. Kommunikation<br />

ist demnach zweifache Übersetzung: Der Sprecher „übersetzt“ was er meint, also<br />

innere Zustände und Intentionen, in die öffentlich wahrnehmbare Zeichen (einer<br />

dann öffentlichen Sprache) 42 , der Hörer interpretiert diese Zeichen im Bereich<br />

seiner inneren Zustände und erschließt sich damit die Intentionen des Sprechers.<br />

Erfolgreich ist Kommunikation dann, wenn der Hörer die Intentionen des Sprechers<br />

richtig erschließt, wenn er versteht, was der Sprecher mit seinen Worten<br />

meint. Äußerungen haben Bedeutung, sofern sie eine Sprecherbedeutung vermitteln.<br />

Damit hat Locke ein Modell sprachlicher Verständigung etabliert, das in der<br />

einen oder anderen Form das Basismodell beinahe jeder neueren Kommunikationstheorie<br />

darstellt 43 und aufgrund seiner Entsprechung mit dem alltäglichen Erleben<br />

der sprachlichen Verständigung hohe prima facie Plausibilität beanspruchen<br />

kann. Denn gewöhnlich kann der Sprecher bei Missverständnissen korrigierend<br />

eingreifen: „Ich meinte x, nicht y“, und auch der Hörer erkundigt sich normalerweise<br />

nicht nach der konventionellen Bedeutung von Ausdrücken, sondern<br />

er fragt, wie der Sprecher etwas meint. (Aus dem Blick gerät dabei, dass diese<br />

Korrekturen und Vergewisserungen immer schon ein hohes Maß gelingender<br />

Verständigung voraussetzen.) Im Zentrum steht daher der Sprecher, nicht die Interaktion<br />

zwischen einem Sprecher und einem Hörer. Sprachliche Konventionen<br />

und Regeln werden als im Prinzip verzichtbares Hilfsmittel der Verständigung<br />

aufgefasst, sie sind ausgehend von Sprecherintentionen und Gewohnheitsbildung<br />

zu rekonstruieren, die intentionalen Gehalte sind der Kommunikation vorausgesetzt<br />

und deshalb grundsätzlich nicht an eine öffentliche Sprache gebunden. Gäbe<br />

es die Möglichkeit direkter Gedankenübertragung, wären sprachliche Formen<br />

im Grunde überflüssig. M.a.W.: In diesem Modell liegen Bedeutungen als je individueller<br />

geistiger Gehalt vor jeder Kommunikation und unabhängig von der<br />

Artikulation mittels einer gemeinsamen Sprache fest. 44<br />

41 Versuch III/1, §2<br />

42 Es ist klar, dass dieser Bezug auf eine Sprache, im Gegensatz zu Lockes Grundannahmen, mehr<br />

beinhalten muss, als bloß den Verweis auf vom Individuum willkürlich mit Bedeutung versehene<br />

Zeichen.<br />

43 Verweisen möchte ich hier nur auf das Sender-Empfänger-Modell der Kommunikation von Shannon/Weaver,<br />

auf die Modelle von Grice, Meggle sowie Searle (etwa in Intentionalität). Ähnlich<br />

sieht A. Wellmer die Rolle Lockes in Sprachphilosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004.<br />

44 Genau diese Voraussetzung wird vom Privatsprachenargument als unsinnig ausgewiesen. Die zentrale<br />

Frage hierbei ist, wie die geistigen Gehalte unabhängig von einer öffentlichen Bewertungsund<br />

Kontrollpraxis individuiert werden können.


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 123<br />

Am Beispiel Lockes wird der systematische Zusammenhang zwischen intentionalistischen<br />

bzw. mentalistischen <strong>Prämissen</strong>, einer instrumentalistischen Auffassung<br />

der Sprache und dem Interpretationsmodell des Verstehens deutlich:<br />

Wenn es nur einen äußerlichen, instrumentellen Zusammenhang gibt zwischen<br />

dem, was ein Sprecher meinen, und dem, was er sagen kann, und wenn Verstehen<br />

auf die Erkenntnis des Gemeinten hinausläuft, dann muss Verstehen in der<br />

einen oder anderen Weise als Interpretation der Äußerung des Gemeinten aufgefasst<br />

werden. Ein unmittelbares Verstehen (im Medium der Sprache) kann es<br />

nicht geben. Der Hörer erschließt sich das Gemeinte anhand des Gesagten, er ü-<br />

bersetzt in seine Sprache. Folglich setzt jede Interpretation eine Zielsprache voraus,<br />

die schon verstanden sein muss. 45 Da dies nach Voraussetzung nicht die gemeinsame<br />

Sprache sein kann – diese ist ja gerade interpretationsbedürftig –,<br />

muss es sich um die privaten Sprachen der Sprecher und Hörer handeln, letztlich<br />

um jeweils private Sprachen des Geistes. Und umgekehrt ist Interpretation als<br />

Modus des Verstehens erforderlich, wenn äußerer und innerer Aspekt der Handlung<br />

nicht systematisch miteinander verbunden sind, d.h. hier, wenn Sagen und<br />

Meinen prinzipiell auseinanderfallen können. Die Meinenstheorie der Bedeutung<br />

und Interpretationstheorie des Verstehens sind daher nur zwei Seiten derselben<br />

Medaille. Schon Lockes Hörer müssen radikale Interpreten sein. Daher hängt die<br />

systematische Rolle von Kommunikationsmaximen (Grice), des Nachsichtigkeitsprinzips<br />

(Davidson), der Aufrichtigkeitsbedingung (Davidson, Searle) u.a.<br />

Rationalitätsunterstellungen als grundlegende semantische Prinzipien (und nicht<br />

als bloß pragmatische Regeln bzw. Präsumtionen der Vermeidung oder Korrektur<br />

misslingender Kommunikation) von der Akzeptanz des cartesianisch-lockeschen<br />

Theorierahmens ab.<br />

Attraktiv ist Lockes Theorie der Bedeutung und des Verstehens, weil sie anscheinend<br />

mit minimalen <strong>Prämissen</strong> und einer sparsamen, nämlich individualistischen,<br />

Ontologie auskommt: Es wird nicht mehr gefordert, als dass Vorstellungen,<br />

oder allgemeiner: intentionale Gehalte, von dem, der sie hat, benannt werden<br />

können. Damit wird ein „drittes Reich“ der Bedeutungen bzw. Sinngehalte<br />

überflüssig, denn Bedeutungen sind Schöpfungen des individuellen menschlichen<br />

Verstandes, es gibt sie nicht unabhängig vom individuellen menschlichen<br />

Geist. Auch der Begriff des Verstehens als Herstellung der Korrespondenz der<br />

„Ideen“ von Sprecher und Hörer scheint plausibel: Verstehen ist ein aktiver Pro-<br />

45 Interpretation wird im Interpretationsmodell des Verstehens als „Übersetzen in ‚meine‘ Sprache“<br />

erklärt. (A. Wellmer: Verstehen und Interpretieren. In: H. J. Schneider/M. Kroß (Hrsg.): Mit Sprache<br />

spielen. Die Ordnungen und das Offene nach Wittgenstein. Berlin: Akademie-Verlag, 1999, S.<br />

65). Diese Idee ist auch für die Sprachphilosophie D. Davidsons zentral, der damit in der Tradition<br />

von Descartes und Locke steht. Davidsons Programm ist von besonderer Relevanz, weil er diese<br />

Tradition mit den Mitteln der analytischen Philosophie (in einem engeren Sinne, der sich v.a. über<br />

die Verwendung formaler Methoden und Modelle definiert), insbesondere unter Verwendung der<br />

Prädikatenlogik erster Stufe als universelles Analysemittel, fortsetzt. (Zu den Schwierigkeiten dieser<br />

Konzeption einer „Wahrheitstheorie der Bedeutung“ und der „radikalen Interpretation“ s.<br />

C. Henning: Kausalität und Wahrheit (Diss.), Leipzig 2004)


124<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

zess der Interpretation, der in der Kontrolle der Beteiligten steht und keiner weiteren<br />

Instanzen bedarf. Insbesondere ist er nicht an vorgegebene Formen oder<br />

Regeln gebunden. Zum Zeichen kann alles werden, dem von einem Sprecher mit<br />

der Absicht, etwas zu verstehen zu geben, Bedeutung verliehen wird. Auf diese<br />

Weise sollen dann auch sprachliche Konventionen zirkelfrei, d.h. ohne Rückgriff<br />

auf explizite Vereinbarungen, erläutert werden, nämlich per Gewohnheitsbildung<br />

aufgrund von Kommunikationserfolgen und darauf gründenden wechselseitigen<br />

Verhaltenserwartungen. 46 Die Idee einer handlungstheoretischen Semantik (Grice,<br />

Meggle), nach der sich Konventionalität aus dem wechselseitigen Bezug der<br />

Handlungen rationaler, intentionaler Akteure ergibt, kann nahtlos an Lockes Modell<br />

der sprachlichen Verständigung anschließen.<br />

Das Problem ist freilich, dass das Erfolgskriterium der Lockeschen Kommunikation,<br />

nämlich dass der Hörer versteht, was der Sprecher meint, keines ist,<br />

weil aufgrund der Basisannahmen keine sprecherunabhängigen Identifikationsund<br />

Individuationskriterien für geistige Zustände angegeben werden können.<br />

M.a.W.: Der Hörer kann allenfalls glauben, den Sprecher verstanden zu haben,<br />

ob er ihn tatsächlich versteht, kann er nach den Annahmen des Modells nicht<br />

entscheiden, ja, er kann nicht einmal gute Gründe für einen solchen Glauben geben.<br />

Denn in Lockes Theorie der Bedeutung und des Verstehens wiederholen<br />

sich die Muster des cartesianischen Handlungsbegriffs und der Trennung von Innen<br />

und Außen: Die der Sprache vorgängigen und unabhängig von ihr bestimmten<br />

geistigen Zustände der Person müssen aus ihrem äußeren Verhalten erschlossen<br />

werden. Und hier wie da gilt: Da es für die Zuordnung von Innerem und Äußerem<br />

keine logisch zwingenden Verfahren gibt, bleibt der Akteur bzw. der Sprecher<br />

die letzte Instanz des Sinns der Handlung bzw. der Bedeutung der Äußerung.<br />

47<br />

Für Lockes Modell, ganz allgemein: für jede intentionalistische bzw. mentalistische<br />

oder Meinenstheorie der Bedeutung und damit zugleich für jede Interpretationstheorie<br />

des Verstehens, ergibt sich daraus das Problem, dass die Möglichkeit<br />

des Verstehens nicht erläutert werden kann. Verstehen ist aufgrund der<br />

Privatheit des Geistes letztlich eine Sache des Zufalls, und selbst wenn der Hörer<br />

den Sprecher richtig versteht, kann er sich dessen nicht sicher sein. Denn, so Locke,<br />

jeder kann den Wörtern „offenbar nur seine eigenen Vorstellungen beilegen<br />

46 Das ist das einflussreiche Lewis-Modell sprachlicher Konventionen. Vgl. D. Lewis: Konventionen.<br />

Berlin; New York: de Gruyter, 1975.<br />

47 Gelegentlich werden zur Lösung des Problems Modelle der Induktion, der Wahrscheinlichkeitsbewertung,<br />

der Analogie- und Hypothesenbildung (Simulationstheorie bzw. Theorie-Theorie des<br />

Geistes), der besten Erklärung etc. als Hilfskonstruktionen angeboten, um die skeptischen Konsequenzen<br />

zu vermeiden. Aber: Diese Verfahren setzen immer schon eine Induktionsbasis, Regeln<br />

der Wahrscheinlichkeitsbewertung, sinnvolle Projektionsregeln etc. voraus, die doch gerade in<br />

Frage stehen – andernfalls sind die entsprechenden induktiven bzw. abduktiven Schlüsse wertlos.<br />

Die Ausarbeitung entsprechender detaillierter Kohärenzmodelle ist daher eher eine Verlegenheitslösung,<br />

die dem eigentlichen philosophischen Problem ausweicht – als ob man die Instandsetzung<br />

eines maroden Hauses beim Stuck statt bei den Fundamenten beginnen könnte.


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 125<br />

und [sie] nicht als Zeichen einer Vorstellung, die er nicht hat, nehmen“ 48 , d.h.<br />

insbesondere nicht von Vorstellungen, die andere als er selbst haben. Die Wörter<br />

„bezeichnen die Vorstellungen des Menschen nur durch eine rein willkürliche<br />

Verknüpfung, wie daraus erhellt, dass sie bei Anderen (obgleich sie dieselbe<br />

Sprache sprechen) nicht immer dieselbe Vorstellung erwecken, für deren Zeichen<br />

sie gelten, und es kann Niemand die Freiheit genommen werden, Worte mit beliebigen<br />

Vorstellungen zu verbinden, deshalb vermag Niemand zu bewirken, dass<br />

Andere bei dem Gebrauch derselben Worte auch dieselben Vorstellungen haben,<br />

die er selbst hat.“ 49<br />

Die Willkür der sprachlichen Zeichen, ihre prima facie behauptete semantische<br />

Unselbständigkeit bzw. Neutralität gegenüber dem Gemeinten, lässt es<br />

demnach prinzipiell nicht zu, aus ihnen auf die Sprecherbedeutung zu schließen,<br />

d.h. allein anhand der Äußerung verstehen zu können, was der Sprecher meint,<br />

sowenig wie die das äußere Verhalten auf die „wirkliche“ Absicht schließen lässt.<br />

Locke sieht dies nur als marginale Schwierigkeit, nicht als ein Problem, welches<br />

den Ansatz selbst in Frage stellt. Etwa verweist er auf Üblichkeiten, an die sich<br />

zu halten hat, wer verstanden werden will, ohne zu sehen, dass diese Üblichkeiten<br />

erst unter Bezug auf regelmäßig gelingende Kommunikationen erklärt werden<br />

können, um deren Kriterien es gerade geht. An anderer Stelle sieht er im<br />

Problem des Verstehens vor allem ein Problem individueller Rationalität und<br />

terminologischer Disziplin, insbesondere der präzisen Definition der verwendeten<br />

Begriffe, die freilich, wenn sie für sprachliche Verständigungsprozesse von<br />

Nutzen sein sollen, eine gemeinsame Sprache und unproblematische Verständigung<br />

an anderer Stelle, insbesondere mit Blick auf seine einfachen und daher<br />

undefinierbaren einfachen Ideen, schon voraussetzen. Die prinzipiellen Schwierigkeiten<br />

der Annahme privater Intentionen und Bedeutungsfestlegungen sieht<br />

Locke nicht.<br />

Hier scheint sich eine Lösung anzubieten, die an den Instrumentalismus der<br />

Lockeschen Sprachauffassung anknüpft: Die Kommunikanten geben durch<br />

kommunikative Handlungen ihre Absichten zu verstehen, die Sprache ist dazu<br />

nur ein Mittel und muss als solches vom individuellen Handeln in sozialen Kontexten<br />

her verständlich gemacht werden, also als Mittel der Handlungskoordination<br />

und der Kooperation. Die Sprechhandlung ist in erster Linie eine Handlung,<br />

48 Versuch III, 2, §3<br />

49 Versuch III/2, §8, s. auch III/2, §4 und III/10, §22. Deshalb ist im Modell der Verweis auf konventionelle<br />

Bedeutungen nicht stichhaltig (vgl. P. Grice: „Sagen, Meinen, Intendieren“ sowie „Logik<br />

und Konversation“, s. auch Davidsons Begründung der „Autonomie der Bedeutung“ in „Konvention<br />

und Kommunikation“), auch wenn dabei ganz richtig gesehen wird, dass erst ein Standardgebrauch<br />

der Ausdrücke die Möglichkeit eröffnet, dass einer mit der Äußerung von x y meinen<br />

kann. Dabei muss die konventionelle Bedeutung aber selbst erst erklärt werden, und zwar ausgehend<br />

von den Sprecherintentionen, bevor sie in Anspruch genommen werden kann. Locke selbst<br />

sieht darin kein Problem: Konventionen müssten erlernt werden. Damit hat er zweifellos recht, allerdings<br />

in einem anderen Sinne, als er glaubt, sofern Konventionalität mit der willkürlichen Zuordnung<br />

gegebener Bedeutungen zu Zeichen nicht viel zu tun hat.


126<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

genauer: eine instrumentelle Handlung, die auf Resultate abzielt, die außerhalb<br />

der Kommunikation liegen. Kommunikation ist Mittel zum Zweck. Wir verstehen<br />

kommunikative Äußerungen demnach dann (und nur dann), wenn wir verstehen,<br />

was der Sprecher damit bezweckt, also ihren subjektiven Handlungssinn<br />

erkennen. Mithin verstehen wir Sprache, wenn wir Handlungen verstehen. In<br />

diesem Modell kann daher jedes Tun zum kommunikativen Handeln werden, sofern<br />

der Akteur mit seiner Handlung kommunikative Absichten verbindet, und<br />

entsprechend kann alles als Kommunikationsmittel dienen, wenn es vom Sprecher<br />

mit der Absicht verwendet wird, den Adressaten dazu zu bringen, aufgrund<br />

seiner Äußerung etwas zu tun oder zu glauben. 50 Wie die Äußerung zu verstehen<br />

ist, hängt nicht von der konventionellen Bedeutung der Äußerung ab. Vielmehr<br />

kann die Bedeutung einer Äußerung sogar im Gegensatz zu ihrer (im Rahmen<br />

des Konzeptes erst noch zu erläuternden) konventionellen Bedeutung stehen.<br />

Geht man von Lockes Theorie der Sprache und des Verstehens aus und vernachlässigt<br />

ihren cartesianischen Kern, erscheint die pragmatische Erweiterung<br />

des Theorierahmens zunächst plausibel. Vor dem Hintergrund des cartesianischen<br />

Handlungsbegriffs, der auch in diesem Modell unterstellt ist, wird aber<br />

deutlich, dass das Problem nur auf das allgemeinere Problem der Interpretation<br />

von Handlungen, d.h. hier: der Identifikation und Individuation von Intentionen,<br />

verschoben ist, und diese steht vor denselben Schwierigkeiten: dem Auseinanderfallen<br />

von inneren und äußeren Aspekten der Handlung, der Absicht einerseits,<br />

der Ausführung und den Resultaten andererseits. Wie schon bemerkt wurde,<br />

gibt es im Rahmen des cartesianisch-lockeschen Paradigmas aber keine Möglichkeit,<br />

vom äußeren auf den inneren Aspekt der Handlung zu schließen.<br />

Das Problem ist, dass im individualistisch-instrumentalistischen Rahmen<br />

Kommunikation keine gemeinsame Handlung (Kooperation) mit gemeinsamer<br />

Erfolgskontrolle darstellt, in der gemeinsame und daher den Kommunikaten gemeinsam<br />

verständliche Bedeutungen hervorgebracht werden. Vielmehr sind Bedeutungen<br />

der Kommunikation als geistige Gehalte im Bewusstsein der Individuen<br />

bereits vorausgesetzt, sie werden nicht im gemeinsamen Gebrauch der<br />

Sprache aktualisiert, produziert oder „ausgehandelt“, sondern müssen richtig erkannt<br />

werden. Das praktische Problem der kontextuell hinreichend guten, d.h.<br />

für die weitere Kommunikation und Kooperation anschlussfähigen Verständigung<br />

wird als Erkenntnisproblem der Absichten anderer konzipiert, als Problem<br />

der einsamen, ggf. höherstufigen Reflexion prinzipiell isolierter Subjekte darüber,<br />

was der andere mit Blick auf den Adressaten seiner Äußerung beabsichtigen<br />

bzw. meinen könnte. 51 Die „pragmatische Wende“, d.h. die Fokussierung auf<br />

50 Vgl. G. Meggle: Grundbegriffe der Kommunikation (2. Auflage). Berlin; New York: de Gruyter<br />

1997, S. 36 und passim; vgl. auch Searle, der meint, man könne ggf. auch mittels Möbelrücken<br />

kommunizieren (Sprechakte, S. 30f.).<br />

51 Paradigmatisch behandelt D. Lewis in Konventionen die Struktur des Problems der Erkenntnis von<br />

Absichten und Entscheidungen im individualistischen Theorierahmen unter dem Titel Replikation<br />

von Überlegungen und Bildung von Erwartungen höherer Ordnung. Dabei wird gut cartesianisch<br />

unterstellt, dass jeder der Teilnehmer für sich die Konsequenzen seiner Annahmen über sich und


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 127<br />

Begriffe des Handelns statt des Erkennens, insbesondere die Auffassung des<br />

Sprechens als (instrumentelles) Handeln, löst die genannten Probleme folglich<br />

nicht, solange die zugrundegelegten Intentions- und Handlungsbegriffe cartesianisch<br />

bleiben, d.h. vom individuellen Bewusstsein her erklärt werden. Zwar können<br />

auf diese Weise pragmatische Optimierungen schon vorausgegangener erfolgreicher<br />

Verständigungsprozesse, etwa mit Blick auf das „Problem des Rauschens“,<br />

oder die Kreativität des Verstehens im Falle der Verständigung über<br />

Sprachbarrieren hinweg modelliert werden. Das Grundproblem des Verstehens<br />

lösen derartige Theorien aber nicht, denn der soziale Charakter von Sprache und<br />

Geist, die Existenz eines Hintergrunds gemeinsamen Wissens, der ein gemeinsam<br />

anerkanntes und in diesem Sinne dann auch „richtiges“ Verständnis sprachlicher<br />

Äußerungen aufgrund gemeinsamer Erfolgskontrollen und wechselseitiger<br />

Korrekturen erst ermöglicht, muss im Rahmen des cartesianisch-lockeschen Programms<br />

notwendig eine äußerliche, akzidentielle Relation isolierter Individuen<br />

bleiben. Er ist im Modell keine Bedingung der Möglichkeit von Einsichten und<br />

Absichten, sondern tritt allenfalls als je besonderer mentaler Gehalt auf. Ist der<br />

Geist privat, dann ist seine Erkenntnisart die Introspektion, und diese kann per<br />

definitionem nur mein Bewusstsein zum Gegenstand haben. Aussagen über dein<br />

Bewusstsein und damit die Erkenntnis deiner Absichten, also Verstehen, ist für<br />

mich nicht möglich.<br />

Schellings Einschätzung des Cartesianismus und seiner Folgen ist daher ganz<br />

richtig. Sie gilt auch für Lockes Erweiterung und damit bis in unsere Zeit: Mit<br />

dem cogito ergo sum<br />

den anderen zieht: „Bei den Überlegungen aber, die wir dann anstellen, sind wir fensterlose Monaden,<br />

die sich nach Kräften bemühen, einander widerzuspiegeln, sich gegenseitig beim Widerspiegeln<br />

widerzuspiegeln usw.“ (Lewis: Konventionen, S. 32). M. E. gibt es keinen Weg aus solchen<br />

bedingten Zuschreibungen hinaus, gleichgültig wie hoch man in der Ordnung der Erwartungen<br />

geht. Denn diese liefern nur dann Gründe für eine richtige Zuschreibung, wenn man über zusätzliches<br />

Wissen verfügt. Nicht die Annahme eines unendlichen Regresses wechselseitiger Erwartungen<br />

ist das Problem (auch wenn menschliche Hirne schon nach wenigen Stufen scheitern mögen<br />

oder sich am eigentlichen Gehalt nichts ändert), sondern dass es keine Kriterien der Zuschreibung<br />

gibt, die über die subjektive Reflexion hinausgehen könnten. Etwa können Gründe der Ordnung n<br />

jederzeit durch Gründe der Ordnung n+1 ausgehebelt werden. Demnach können solche Überlegungen<br />

keine Zuschreibung festlegen. Ich glaube deshalb, dass Lewis nicht einmal mit Bezug auf<br />

seine idealen Modelle recht hat, wenn er meint: „Mit Hilfe eines Systems übereinstimmender gegenseitiger<br />

Erwartungen erster und höherer Ordnung über Handlungen, Präferenzen und Rationalität<br />

ist Koordination auf rationalem Wege erreichbar.“ (Lewis: Konventionen, S. 33) Dies gelingt<br />

nur dann, wenn man Begleitumstände einbezieht, die allen Beteiligten gleichermaßen Gründe für<br />

wechselseitige Erwartungen und die Zuschreibung von Absichten liefern, etwa die Beherrschung<br />

einer gemeinsamen Sprache, gemeinsamer Praxen und Konventionen, einen gemeinsamen epistemischen<br />

und normativen Hintergrund etc. In der Kommunikationstheorie finden sich, in Anschluss<br />

an Grice, ähnliche Strukturen bei Meggle, welcher um der Allgemeinheit seiner Kommunikationstheorie<br />

willen gerade keine speziellen Gründe für die Berechtigung der Erwartung des Sprechers,<br />

der Hörer werde ihn richtig verstehen, angeben will – dies sei dann Gegenstand logisch nachgeordneter<br />

„spezieller Kommunikationstheorien“ (vgl. dazu die Diskussion der „kommunikativen<br />

Reflexivität“ und der „absoluten Offenheit kommunikativer Absichten“ in Meggle: Grundbegriffe<br />

der Kommunikation, v.a. 3.2; 3.4.3; 6).


128<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

„war denn allerdings auf lange Zeit gleichsam der Grundton der<br />

neueren Philosophie angegeben [..] das wie ein Zauber gewirkt<br />

hat, durch den die Philosophie in den Umkreis des Subjektiven und<br />

der Tatsache des bloß subjektiven Bewußtseins gebannt war.“ 52<br />

„Die Philosophie bringt es also hier nicht weiter als zu einer bloß<br />

subjektiven Gewißheit [...] über die Existenz alles dessen, was außer<br />

dem Subjekt ist.“ 53<br />

Daran ändert sich auch nichts, wenn eine Gegenposition zu Descartes eingenommen<br />

wird, etwa im „Materialismus“ der neueren Philosophie des Geistes<br />

(die strenggenommen „Philosophie der individuellen Kognition“ genannt werden<br />

müsste). Denn das cartesianische Bild bestimmt hier These und Antithese, Geist<br />

und (soziale) Welt sind voneinander separiert und es gibt anscheinend keinen<br />

Weg, beide wieder zusammenzuführen. Zum einen verhindert der rein subjektive<br />

Ausgangspunkt anscheinend jede objektive Erkenntnis und jede Objektivität des<br />

Verstehens, zum anderen verwickelt sich die Theorie des Handelns in unauflösliche<br />

Schwierigkeiten.<br />

3.3 Transformationen des Cartesianismus. Das Forschungsprogramm der Naturalisierung<br />

Weder Descartes noch Locke ist Skeptiker, 54 aber die Art ihrer Fragestellung öffnet<br />

Raum für den Skeptizismus hinsichtlich des Gelingens von Kommunikation<br />

und der Möglichkeit des Verstehens. Als ein Ausweg, um im cartesianisch-lockeschen<br />

Rahmen die Möglichkeit des Verstehens plausibel zu machen und damit<br />

solipsistischen Konsequenzen auszuweichen, erscheint die Naturalisierung des<br />

Geistes. Statt kommunikativ produzierter Gemeinsamkeiten wird eine Allgemeinheit<br />

bestimmter Wahrnehmungsweisen, Antriebe, Intentionen, Dispositionen<br />

etc. angenommen. Der für das Verstehen notwendige gemeinsame Hintergrund<br />

wird nicht praktisch-kommunikativ (re)produziert, sondern als psychologische,<br />

biologische oder hirnphysiologische Eigenschaft aller Individuen der Art homo<br />

sapiens in die Individuen hineinpostuliert. Damit gibt es nun eine Basis für Analogieschlüsse<br />

von mir auf andere: Ich kann die Intentionen anderer erkennen,<br />

weil sie so funktionieren wie ich selbst. Aufgrund objektiv beschreibbarer, natürlicher<br />

Gemeinsamkeiten des Wahrnehmens und Urteilens können wir die<br />

Introspektion als Basis für Projektionen bzw. Analogieschlüsse benutzen, die es<br />

zulassen, etwas über andere herauszubekommen. Wir beginnen dabei beim Einfachen,<br />

bei einem Grundbestand etwa „einfacher Vorstellungen“, „eingeborener<br />

Ideen“ oder „natürlicher Ähnlichkeitsrelationen“ sowie Grundantrieben jedes<br />

52 F. W. J. Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie. Leipzig: Reclam 1984, S. 34<br />

53 Ebd., S. 31.<br />

54 Descartes’ Zweifel ist ein methodischer Zweifel, es geht ihm gerade darum, den Ausgangspunkt sicherer<br />

Erkenntnis unter der Voraussetzung der Trennung von Subjekt und Objekt, von Geist und<br />

Welt zu bestimmen. Ein ganz ähnliches Projekt verfolgt Locke.


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 129<br />

Menschen, etwa Lust und Unlust. Und dies scheint plausibel: Finde ich in der<br />

Wüste einen Verdurstenden, der mir die Hände entgegenstreckt und dabei etwas<br />

Unverständliches murmelt, dann wäre es angesichts seiner klar erkennbaren Absicht,<br />

Wasser zu erbitten, absurd, anzunehmen, er wolle mir mit seinem Gestammel<br />

seine Deutung der transzendentalen Einheit der Apperzeption verständlich<br />

machen. Zeigt einer auf eine Ulme und sagt dabei „Ulme“, dann kann man davon<br />

ausgehen, dass er mit dem Wort „Ulme“ die gleichen Vorstellungen verknüpft<br />

wie ich. Beobachtung und logischer (genauer: analogischer) Schluss, die Akkumulation<br />

von Erfahrung und die Ausbildung des Verstandes im Falle kontextuellen<br />

praktischen Verstehens, die Erweiterung des Wissens über die Funktionsweise<br />

des Erkenntnisapparates im Falle theoretischer Rekonstruktionen, sollen es<br />

dann erlauben, schrittweise zu komplexeren Zuschreibungen überzugehen bzw.<br />

im Zweifelsfall auf elementarere zurückzugehen. 55<br />

Die Auffassung des Geistes als individuelles Bewusstsein, seine Individualisierung<br />

und Psychologisierung, hat nun nicht nur eine inhaltliche Seite, sondern<br />

auch eine wichtige methodische Konsequenz: Sie fungiert als Erklärungs- und<br />

Darstellungsnorm. Einen anderen zu verstehen bedeutet, seine Absichten zu<br />

(er)kennen. Vorstellen, Wollen, Erinnern, Meinen und Verstehen etc. werden als<br />

geistige Vorgänge, Zustände oder Ereignisse aufgefasst, die je bestimmte Erlebnisqualitäten<br />

haben und wesentlich introspektiv zugänglich sind. Zwar werden<br />

sie durch ihre Manifestationen im Reich der Körperdinge angezeigt, allerdings<br />

können diese Manifestationen aus prinzipiellen Gründen keine zuverlässigen Indikatoren<br />

für das Vorliegen geistiger Zustände sein. Der Punkt ist nun nicht, wie<br />

die geistigen Tätigkeiten im einzelnen konzeptualisiert werden, sondern dass<br />

man sich darunter jeweils bestimmte und voneinander unterscheidbare Vorgänge<br />

im Geiste des Subjekts vorzustellen habe. 56 Meine ich mit dem Wort w einen Gegenstand<br />

g, so kann das etwa heißen, dass ich mir beim Aussprechen von w ein<br />

Vorstellungsbild von g vor den Geist rufe und meine Aufmerksamkeit darauf<br />

richte; will ich g, so richte ich meine Aufmerksamkeit auf g, wobei die Vorstellung<br />

von g mit Lust verbunden ist etc. Entscheidend ist nun nicht, welche geistigen<br />

Tätigkeiten und Zustände (etwa: Glauben und Wünschen) als Grundbegriffe<br />

gewählt werden, sondern dass Sätze wie „Jetzt habe ich es verstanden“, „Ich<br />

55 Dabei ist es nicht wesentlich, ob mittels einer Theorie des Geistes Hypothesen über die geistigen<br />

Zustände des anderen gebildet werden (theory-theory) oder ob die geistigen Zustände des anderen<br />

per Analogie zum Selbst erschlossen werden (simulation-theory). In beiden Fällen wird angenommen,<br />

dass das Problem der Erkenntnis von Absichten als Frage nach der richtigen Beschreibung<br />

individueller geistiger Zustände zu stellen ist und daher die Form von Tatsachenaussagen bzw.<br />

Prädikationen annehmen muss.<br />

56 Wittgenstein beschreibt dies wie folgt: „Wie kommt es nun zum philosophischen Problem der seelischen<br />

Vorgänge und Zustände und des Behaviourism? – Der erste Schritt ist der ganz unauffällige.<br />

Wir reden von Vorgängen und Zuständen, und lassen ihre Natur unentschieden! Wir werden<br />

vielleicht einmal mehr über sie wissen – meinen wir. Aber eben dadurch haben wir uns auf eine<br />

bestimmte Betrachtungsweise festgelegt. Denn wir haben einen bestimmten Begriff davon, was es<br />

heißt: einen Vorgang näher kennen zu lernen. (Der entscheidende Schritt im Taschenspielerkunststück<br />

ist getan, und gerade er erschien uns unschuldig.)“ (PU 308); vgl. auch PU 352.


130<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

meinte aber das da“, „Er hat die Absicht, Tomaten zu pflücken ...“ etc. als Konstatierungen<br />

innerer Vorgänge oder Zustände gedeutet werden, die objektive<br />

Wahrheitsbedingungen haben: Entweder hat das Subjekt das Vorstellungsbild g<br />

und seine Aufmerksamkeit darauf gerichtet oder nicht, entweder ist die Vorstellung<br />

von g mit Lust verbunden oder nicht. Kurz: Entweder befindet sich das<br />

Subjekt in einem bestimmten geistigen Zustand z oder es befindet sich nicht im<br />

Zustand z, entweder es hat eine Intention i oder es hat die Intention i nicht. 57<br />

Damit ist per impliziter Definition durch entsprechende Postulate über geistige<br />

Zustände ein (logischer) Gegenstandstandsbereich etabliert 58 , der zumindest<br />

der Form nach wahrheitsfähige Aussagen zulässt, die auf das empirische Vorliegen<br />

oder Nichtvorliegen geistiger Zustände zielen, und daher den Methoden der<br />

nomologischen Wissenschaft zugänglich ist. Es lassen sich bspw. komplexere intentionale<br />

Zustände definieren oder Hypothesen über die Verknüpfung intentio-<br />

57 Im Vorgriff auf das Privatsprachenargument könnte man sagen, dass diese Auffassung geistiger Tätigkeiten<br />

oder Vorgänge irreführend ist, weil sie erstens unterstellt, dass Verben für geistige Vorgänge<br />

immer deskriptiv gebraucht werden, womit ihr Charakter als normativ gehaltvolle Zuschreibungen<br />

verkannt wird, zweitens, dass etwa beim Meinen, Verstehen oder Wollen immer je ein und<br />

derselbe Vorgang stattfindet (wenn auch auf je verschiedene Gehalte gerichtet), was eine unzulässige<br />

Verallgemeinerung darstellt, und drittens, dass es sich dabei um einen privaten inneren, geistigen<br />

Vorgang i.S. eines individuellen mentalen Ereignisses oder Zustandes handelt, womit die falsche<br />

Verallgemeinerung hypostasiert wird. Das ist die Konstitution des Gegenstandes „Intention“,<br />

die man dann auch „haben“ kann wie man einen Gegenstand haben kann. Das Interesse wird dabei<br />

von der überaus komplexen Struktur des „Habens einer Intention“ weggelenkt hin zur Frage nach<br />

der Natur des „Gegenstandes“, der dabei „gehabt“ wird – und darin liegt das Hauptproblem der<br />

Philosophie des Geistes, wie sie üblicherweise verstanden wird. Man kann sich diesen Perspektivenwechsel<br />

anhand der Unterschiede der Wahrheits- bzw. Richtigkeitsbedingungen von auf den<br />

ersten Blick synonymen Wendungen wie „ich bin/habe mich überzeugt, dass ...“ statt „ich habe die<br />

Überzeugung, dass...“ oder „ich nehme x wahr“ statt „ich habe eine x-Wahrnehmung“ deutlich<br />

machen, d.h. an den Unterschieden, die sich ergeben, wenn man versucht, ohne Nominalisierungen<br />

auszukommen. Noch deutlicher wird das im „kollektiven“ Fall: „wir sind überzeugt, dass ...“, „wir<br />

glauben, dass ...“, „wir haben x wahrgenommen“ etc. Was zunächst wie eine harmlose, bloß<br />

sprachliche Variation erscheint (und gewöhnlich auch ist), verdeckt die Reifizierung geistiger Vorgänge.<br />

58 Ohne weitere Belege verweise ich darauf, dass in der Literatur häufig über Intentionen, propositionale<br />

Gehalte etc. quantifiziert wird. Etwa sieht Searle weder in Sprechakte noch in Intentionalität<br />

ein besonderes Problem darin, die Struktur von Sprechakten bzw. Intentionen wie folgt anzugeben:<br />

F(p), wobei F für einen Modus, p für einen propositionalen Gehalt stehen soll. Meggle symbolisiert<br />

„x glaubt, dass p“ mit G(x, p), „x will mit seinem f-Tun bewirken, dass p“ mit I(x,f,p)<br />

(Grundbegriffe der Kommunikation, S. 116). Andere Beispiele lassen sich in der Literatur über<br />

kollektive Intentionalität finden, etwa in Tuomela/Miller 1988 oder Bratman 1999. Das Problem<br />

ist, dass keine Rechenschaft darüber abgelegt wird, wie die Bereiche verfasst sind, über deren Gegenstände<br />

(durch die Benutzung von Variablen) implizit quantifiziert wird (vgl. dazu das Streitgespräch<br />

von P. Stekeler-Weithofer & G. Meggle 2002). In diesem Zusammenhang von Bedeutung<br />

ist der Streit zwischen Frege und Hilbert über die Existenz der durch implizite Definitionen festgelegten<br />

Gegenstandsbereiche. Frege fordert, dass Definitionen nicht leer sein dürfen, zur Definition<br />

gehöre der Existenznachweis der definierten Sache, weil andernfalls die elementare Forderung der<br />

Nichtkreativität von Definitionen verletzt wäre, so dass aufgrund der impliziten Existenzbehauptung<br />

dann Sätze bewiesen werden können, die mit Wahrheitsanspruch auftreten, von denen aber<br />

nicht einmal gezeigt ist, dass ihr Gegenstandbereich nicht leer ist (vgl. Frege : Logik in der Mathematik).


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 131<br />

naler Zustände formulieren. Etwa könnte man Postulate aufstellen wie die folgenden:<br />

Glaubt x, dass p, dann gilt auch, dass x glaubt, dass er glaubt, dass p; o-<br />

der man kann definieren: x will p gdw. x wünscht p und x glaubt, dass p möglich<br />

ist; x fürchtet p gdw. x wünscht nicht-p und x glaubt, dass p möglich ist; x weiß p<br />

gdw. x glaubt p und p; x ist hat Gewissheit, dass p gdw. x glaubt p und x glaubt,<br />

dass unmöglich nicht-p; x hat Gründe für p gdw. x glaubt (q und q⊃p). Nun sind<br />

solche Symbolisierungen und die entsprechenden Postulate und Definitionen unproblematisch,<br />

solange sie nur als Explikationsvorschläge für normalsprachliche<br />

Redeweisen verstanden werden. Daraus, dass sie, wenigstens mit Blick auf die<br />

Wahl bestimmter Beispiele und wenigstens prima facie wichtige begriffliche Zusammenhänge<br />

erfassen, ziehen sie auch einen Großteil ihrer Plausibilität. Entscheidend<br />

ist aber, dass es auf diese Weise zugleich möglich erscheint, eine der<br />

naturwissenschaftlichen Behandlung zugängliche Ordnung in das Seelenleben zu<br />

bringen, indem das an der Mathematik orientierte cartesianische Methodenideal<br />

der deduktiv-nomologischen Theorie auf die Erkenntnis des Geistes projiziert<br />

wird. Vermittels der empirischen Deutung der (nun) theoretischen Begriffe kann<br />

man sich nun daran machen, eine empirische Theorie des Geistes aufzustellen,<br />

die der „Methode“ 59 entspricht.<br />

Wir beginnen beim Einfachen, Evidenten, unmittelbar Gegebenen, nämlich<br />

den allgemein bekannten und daher anscheinend unproblematischen „Tatsachen“<br />

des (Selbst-)Bewusstseins, die aufgrund ihrer Vertrautheit den Grundbegriffen<br />

und Definitionen der Theorie wie selbstverständlich zugeordnet werden können<br />

und damit deren empirischen Bezug herstellen. Da die individuelle Psyche physiologische<br />

Grundlagen hat – ohne Gehirn kein Gedanke, die Läsion bestimmter<br />

Hirnregionen ruft regelmäßig bestimmte Funktionsausfälle hervor, Wahrnehmungen<br />

variieren mit Sinnesreizen etc. – und umgekehrt das als Bewusstsein gedachte<br />

Subjekt handeln, d.h. etwas in der Welt bewirken kann, erscheint es möglich<br />

und notwendig, die Theorie des Geistes zu naturalisieren, d.h. geistige Phänomene<br />

mittels naturwissenschaftlicher Begriffe zu beschreiben und zu erklären.<br />

Dabei ergibt sich im Rahmen des cartesianischen Naturbegriffs aus der Möglichkeit<br />

naturgesetzlicher Erklärungen deren Notwendigkeit. Denn was sich als Ursache<br />

oder Wirkung, d.h. als Teil kausaler Vorgänge beschreiben lässt, gehört per<br />

definitionem zur res extensa, weil deren Gegenstände gerade dadurch bestimmt<br />

sind, dass sie naturgesetzlichen Zusammenhängen unterliegen. Wenn also Bewusstseinszustände<br />

des Individuums mit Einflüssen der Außenwelt variieren und<br />

umgekehrt, dann gehören sie zu den naturgesetzlich beschreibbaren Gegenständen.<br />

Die Psychologisierung des Geistes und der ihr entsprechende Typus von Aussagen<br />

über den Geist als Konstatierung geistiger Zustände des Individuums bildet<br />

gemeinsam mit dem cartesianischen Objektbegriff den Sinnhintergrund und<br />

die konstitutive Bedingung des naturalistischen Forschungsprogramms. Denn<br />

59 Vgl. Abhandlung II/14ff., S. 20f.; Regeln, insbes. V/VI.


132<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

nur wenn der Geist als Summe je individueller Bewusstseinszustände und<br />

-ereignisse gefasst wird, ist es möglich, ihn mit Vorgängen und Ereignissen der<br />

physischen Welt zu korrelieren. Und nur unter dieser Grundannahme erscheint<br />

eine über die Feststellung physiologischer Bedingungen des Bewusstseins und<br />

seiner Pathologien hinausgehende naturwissenschaftliche Untersuchung des<br />

Geistes in objektivierender, d.h. vom hermeutischen und normativen Blick des<br />

Teilnehmers gemeinsamer Praxen abgekoppelten Perspektive sinnvoll, ebenso<br />

wie die Unterstellung, dass ein Verständnis des Geistes letztlich nur durch dessen<br />

Rückführung auf objektive Vorgänge der Körperwelt möglich und dass das<br />

Geist-Welt-Problem folglich in das Leib-Seele- bzw. Gehirn-Geist-Problem zu<br />

transformieren ist.<br />

Damit bleibt das naturalistische Forschungsprogramm den <strong>Prämissen</strong> cartesianischen<br />

Philosophierens verhaftet, unter denen das Bewusstsein zum Rätsel<br />

werden muss. Denn der Wesenszug der cartesianischen Philosophie ist der Rückzug<br />

nicht auf den Geist (als Gesamtheit der humanen Lebensformen und ihrer<br />

Möglichkeiten), sondern auf die Seele qua je eigenes Bewusstsein. Nur dessen<br />

Gehalte können mir unmittelbar gewiss sein. Die Außenwelt, und damit auch das<br />

Bewusstsein anderer, ist dagegen nur vermittelt zugänglich und damit anfällig für<br />

Täuschungen. Die generelle Möglichkeit solcher Täuschungen führt zum Zweifel<br />

an der Existenz einer vom Denken unabhängigen Außenwelt. Diesen radikalen<br />

Zweifel meint Descartes nur dadurch überwinden zu können, dass er die Existenz<br />

Gottes beweist, der uns nicht täuscht, d.h. der die Übereinstimmung von innerer<br />

und äußerer Welt garantiert. 60 Für Descartes ist es Gott, der beide Welten zusammenhält<br />

und garantiert, dass unseren Ideen etwas in der Welt entspricht und,<br />

so muss man ergänzen, dass wir handelnd Ziele erreichen können. Gott wird zur<br />

erkenntnis- und handlungstheoretisch notwendigen Hypothese. Gerät diese<br />

Hypothese ins Wanken, dann führt der Dualismus in unlösbare Probleme, weil er<br />

Geist und Welt begrifflich auseinanderreißt. Will man gegen den Skeptiker und<br />

den Solipsisten dennoch an der Möglichkeit von Erkenntnis und Handlung festhalten,<br />

dann scheint die einzige Lösung ein Monismus zu sein, und wenn der I-<br />

dealismus in Misskredit kommt, dann bleibt nur der Materialismus, der, gegeben<br />

den cartesianischen Problemrahmen, nun vor der Aufgabe steht, die kategorial<br />

getrennten Sphären von Geist und Welt in der res extensa, dem Bereich naturgesetzlicher<br />

Zusammenhänge, zusammenzuführen (Physikalismus, Funktionalismus,<br />

Epiphenomenalismus, Emergenz- und Supervinienztheorie etc.). Der Naturalismus<br />

als Programm der Erklärung bzw. Rückführung des Geistes und seiner<br />

Gehalte durch bzw. auf Materielles ist kein Cartesianismus, aber er hat seine<br />

60 In neueren Lesarten Descartes’ wird die zentrale systematische Rolle der ersten Substanz und damit<br />

der Gottesbeweise häufig übersehen oder kleingeredet. Ich halte das für falsch, weil dann unterstellt<br />

werden müsste, dass Descartes die teils absurden Konsequenzen seines Dualismus ignoriert<br />

oder diesen – gewissermaßen in einem vorweggenommenen linguistic turn – statt als ontische als<br />

ontologische (und ontisch neutrale) Unterscheidung zweier inkompatibler Redebereiche konzipiert<br />

hätte. In beiden Fällen ist aber nicht verständlich zu machen, warum Descartes den Gottesbegriff<br />

überhaupt bemüht.


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 133<br />

Wurzeln im Cartesianismus, von dem er nicht nur die <strong>Prämissen</strong>, Fragestellungen<br />

und Methoden, sondern auch die Schwierigkeiten erbt, insbesondere das<br />

Problem der Vermittlung zwischen dem privaten, subjektiv unmittelbaren Erleben<br />

und dem objektiven materiellen Geschehen. 61<br />

Dieses Forschungsprogramm einer nach ihrem Selbstverständnis „wissenschaftlichen<br />

Philosophie“ erhebt mit Blick auf das Humanum universelle Erklärungsansprüche.<br />

Es erstreckt sich von den Phänomenen des Bewusstseins, der<br />

Erkenntnis und des individuellen Handelns über Fragen des kollektiven Handelns,<br />

der sozialen Realität und der Moral bis hin zu Erklärung ihrer Genese und<br />

Veränderung. Die Grundlage des Naturalisierungsprogramms (der Theorie) des<br />

Geistes ist aber die Psychologisierung des Geistes, d.h. das Postulat, der Geist<br />

wäre theoretisch erfasst, wenn das individuelle Bewusstsein verstanden ist, bzw.<br />

die Überzeugung, jede rationale Erklärung dieser Phänomene müsse den Postulaten<br />

eines biologistisch gedeuteten methodischen Individualismus genügen. 62 Ich<br />

will an dieser Stelle nur einige Stichworte geben. Für die Theorie der Intentionalität<br />

und des Handelns scheint es auf der Hand zu liegen, dass für intentionale<br />

Zustände und Ereignisse eine Einbettung in den naturwissenschaftlichen Erklärungsrahmen<br />

möglich ist, weil das Bewusstsein an das Hirn gebunden ist und es<br />

demnach neurophysiologische Korrelate dieser Zustände und Ereignisse geben<br />

muss. Es wird unterstellt, dass Unterschieden des semantischen Gehalts unterschiedliche<br />

neuronale Muster entsprechen, wobei die neuronalen Aktivitäten als<br />

Ursache der mentalen gedeutet werden (was freilich durch die – nach wie vor nur<br />

61 Schon Descartes selbst scheint seinen Gottesbeweisen zu misstrauen, weshalb er nach einer anderen<br />

Vermittlung von Welt und Geist, genauer von Leib und Seele, sucht und diese – hierin ein Ahne<br />

des Materialismus der Hirnforschung – in der Tätigkeit der Zirbeldrüse zu finden meint, womit<br />

die Methoden der Naturwissenschaften auf die Dinge der Seele ausgedehnt werden. Denn in der<br />

Zirbeldrüse, also einem Teil des Gehirns, sieht Descartes das Organ, mit dem der Geist äußere Objekte<br />

wahrnehmen und über das der Wille Objekte (zunächst den Körper) bewegen kann (s. Descartes:<br />

Über die Leidenschaften). Die Trennung von Innen und Außen und die Möglichkeit ihrer<br />

„organischen“ Vermittlung ist die Grundannahme der Kognitionswissenschaft und der sog. Neurophilosophie,<br />

deren Problemhorizont in Descartes’ Theorien über die Rolle der Zirbeldrüse vorgezeichnet<br />

wird. Unter der Hand werden dabei die Seele und ihre Gehalte als materielle Gegenstände<br />

aufgefasst, andernfalls könnten sie weder Ursachen noch Wirkungen sein, was allerdings in Widerspruch<br />

zu ihrer vorausgesetzten Immaterialität steht. Dieser Widerspruch, die crux der Hirnforschung,<br />

resultiert aus dem Anspruch, Bewusstseinsinhalte bzw. deren Veränderungen durch materielle<br />

Veränderungen im Hirn zu erklären, mithin eine begriffliche Differenz mit empirischen Mitteln<br />

zu überbrücken.<br />

62 Searle geht sogar soweit, zu fordern, jede Theorie der Intentionalität müsse mit der solipsistischen<br />

Annahme vereinbar sein, ihr Träger sei ein Hirn im Tank (Searle 1990, S. 407; vergleichbare Überlegungen<br />

finden sich in Intentionalität, S. 286 und passim). Ein Korollar ist, dass Überlegungen<br />

zur Intentionalität davon auszugehen hätten, dass intentionale Gehalte unabhängig von der Außenwelt<br />

variieren können, mithin, dass die These von der Autorität der ersten Person mit Blick auf<br />

deren Bewusstsein und damit von dessen Privatheit gilt. Die Gegenposition in der Tradition Herders,<br />

Hegels, Humboldts u.a. ist, dass das individuelle Bewusstsein nur unter Voraussetzung des<br />

„objektiven Geistes“, d.h. der Gesamtheit der menschlichen Denk- und Handlungsformen, verstanden<br />

werden kann und daher nur als prinzipiell öffentliches, d.h. anderen prinzipiell zugängliches,<br />

möglich ist.


134<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

für die Zukunft versprochene – Feststellung einer Korrelation von semantischen<br />

und neuronalen Unterschieden allein noch gar nicht gedeckt wäre). 63 Wahrnehmung,<br />

Denken und Intellekt werden im Gehirn verortet. Die Rede davon, dass<br />

ein Mensch etwas wahrnimmt, denkt oder sich intelligent verhält, wird daher als<br />

uneigentliche Rede aufgefasst, alltagstauglich, aber vorwissenschaftlich: Es sei<br />

sein Hirn, das Organ des Denkens, welches wahrnimmt, denkt und intelligente<br />

Problemlösungen findet. Entsprechend wird Erkenntnis als neuronale Repräsentation<br />

der Umwelt auf Basis der Verarbeitung von Sinnesreizen durch evolutionär<br />

erworbene „kognitive Module“ erläutert. Zur Umwelt des Individuums gehören<br />

nun auch andere Individuen, symbolisch strukturierte, soziokulturelle Sinnzusammenhänge<br />

und Werte sowie deren Manifestationen in Artefakten und Institutionen.<br />

Auch diese werden als Objekte der individuellen Kognition aufgefasst.<br />

Unterschiede der Sozialisation, die Übernahme von unterschiedlichen kulturellen<br />

und normativen Bindungen und die Ausbildung entsprechender individueller<br />

Haltungen sollen sich, die prinzipielle Gleichheit der kognitiven Ausstattung aller<br />

Menschen vorausgesetzt, allein aus den interindividuell unterschiedlichen<br />

„Inputs“ und genetisch bedingten kognitive Kapazitäten (Aufmerksamkeit, Reizschwellen,<br />

Verarbeitungsgeschwindigkeit, Gedächtnis etc.) ergeben.<br />

Das Ziel ist dabei nicht notwendig, die Realität des Bewusstseins und intentionaler<br />

Gehalte zu leugnen (eliminativer Materialismus), sondern die entsprechenden<br />

Phänomene in einer Analysesprache zu erfassen, die ohne intentionale<br />

und normativ aufgeladene Ausdrücke auskommt oder diese als prinzipiell verzichtbare<br />

Beschreibungsebene darstellt, als Lückenbüßer eines vermeintlich<br />

vorwissenschaftlichen Verständnisses von Intentionalität und Geist (Emergenztheorien).<br />

Die Rolle unserer Selbstbeschreibungen ist dabei umstritten: Meinen<br />

die einen, die kognitionswissenschaftlichen Erkenntnisse würden über kurz<br />

oder lang zu neuen Selbstbeschreibungen führen (etwa Churchland und Dretske),<br />

so wie Anfang des 20. Jahrhunderts Freuds Theorie unser Selbstverständnis verändert<br />

hat, so meinen andere, unser Selbstverständnis als frei handelnde Wesen<br />

bliebe bestehen, aber würde in Zukunft vollständig erklärt werden können, etwa<br />

als evolutionär vorteilhafte Metarepräsentation der Stellung des Organismus in<br />

seiner Umwelt (etwa W. Prinz). Letztlich geht es um eine Metasprache, welche<br />

die Phänomene des auf das individuelle Bewusstsein reduzierten Geistes „more<br />

geometrico“, d.h. hier: als Teil naturgesetzlicher Regularitäten, erklärbar macht.<br />

Die Naturalisierung des Geistes stellt dessen Subsumtion unter die Kategorien<br />

63 Insofern sitzt etwa Searles Programm (s. dazu Intentionalität) einer kausalen, nicht aber ontologischen<br />

Reduktion des Mentalen auf das Physische, bei welcher der autonome Status intentionaler<br />

Rede beibehalten und sie zugleich auf das Physische zurückgeführt werden soll, einem logischen<br />

Fehler auf: Kausalität ist eine asymmetrische Relation. Eine bloße Korrelation verschiedener Phänomenreihen<br />

a und b besagt daher noch gar nichts über mögliche Verursachungen, sie lässt offen,<br />

ob a b oder aber b a verursacht. Ohne ontologische Reduktion, d.h. lückenlose Erklärung des einen<br />

Bereichs aufgrund der Gesetze des anderen, ist die Rede vom Bewusstsein als „Emergenzphänomen“<br />

des Physischen daher dogmatisch, denn bloß aufgrund einer Korrelation von Physischem<br />

und Mentalem könnte ebenso gut das Physische emergent sein.


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 135<br />

des Kausalen dar. M.a.W.: Ein Modell der unbelebten Natur, die res extensa,<br />

wird zum Erklärungsmodell schlechthin, dem sich alles fügen muss – und was<br />

sich nicht fügt, wird zum irrationalen Rest oder zum Gegenstand künftiger, fortgeschrittenerer<br />

Wissenschaft erklärt. 64<br />

Mit dem Naturalisierungsprogramm wird die cartesianisch-lockesche Konzeption<br />

in ihrem wichtigsten Stück beibehalten: Das Grundphänomen ist das individuelle<br />

Seelenleben. Dass ich etwas Bestimmtes wahrnehme, glaube oder<br />

will, wird als unproblematisch vorausgesetzt, als erklärungsbedürftig zählt nur,<br />

wie dies in einer Welt letztlich physikalischer Tatsachen möglich ist. Die ursprünglichen<br />

Intuitionen des Cartesianismus werden dabei nicht außer Kraft gesetzt.<br />

Denn die eingangs besprochene Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins<br />

und seiner Gehalte und die Autorität der ersten Person bleiben als zu erklärende<br />

Phänomene des Bewusstsein ein zentraler Gegenstand und dem Naturalisierungsprogramm<br />

daher vorausgesetzt, selbst wenn sie dann als funktionale Illusionen<br />

oder evolutionäre Anpassungsleistungen des Organismus Mensch beschrieben<br />

werden. Entsprechend soll die Rede von Rationalität, der Bezug auf Gründe<br />

im Denken und Handeln, durch die Rede von Ursachen ersetzt werden. Denn sofern<br />

Gründe im individuellen Bewusstsein repräsentiert und wirksam sind, müssen<br />

sie, wie andere geistige Phänomene auch, durch neurologische Mechanismen<br />

einerseits ursächlich erklärt, andererseits als ursächlich wirksame Mechanismen<br />

beschrieben werden können. 65 Das naturalistische Programm kann an das cartesianische<br />

Handlungsmodell anknüpfen, indem Handlungsabsichten als individuelle<br />

Präferenzen (die sich auf beliebige Gegenstände richten können) unter den<br />

Begriff der Gerichtetheit des Verhaltens und damit unter biologische Kategorien<br />

subsumiert und kausal gedeutet werden. Gründe werden als individuelle „Rationalisierungen“<br />

letztendlich irrationaler, affektiver Verhaltensdispositionen und<br />

-präferenzen aufgefasst, die Vernunft als evolutionär herausgebildetes Instrument<br />

der biologischen Natur des Menschen, die als individuelles Vermögen zwar sozial<br />

überformt, aber nicht sozial konstituiert ist. Das cartesianische Modell der<br />

Handlung als individuelle Zwecktätigkeit bleibt dabei erhalten, nur dass die<br />

Zwecke und Motive des Handelns naturalistisch umgedeutet werden. 66 Damit<br />

64 Vgl. „Manifest“ der Hirnforscher (Gehirn & Geist, 6/2004, S. 31-37) („Auch wenn wir die genauen<br />

Details noch nicht kennen, können wir davon ausgehen, dass all diese Prozesse [nämlich sämtliche<br />

innerpsychische Prozesse – F.K.] grundsätzlich durch physikochemische Vorgänge beschreibbar<br />

sind.“ Und weiter: „Geist und Bewußtsein – wie einzigartig sie von uns auch empfunden werden –<br />

fügen sich also in das Naturgeschehen ein und übersteigen es nicht.“ S. 33)<br />

65 Entsprechend wird die Freiheit des Handelns geleugnet bzw. zur (notwendigen) Illusion erklärt. Ein<br />

Kristallisationspunkt dieser Diskussion ist der Aufsatz von B. Libet „Do we have a free will?“<br />

(Journal of Consciousness Studies 6 (1999), No. 8/9, p. 47-57), der meint gezeigt zu haben, dass<br />

„Handlungen“ (i.S. von Basishandlungen) ihr neurophysiologisches Initialstadium (Bereitschaftspotential)<br />

schon erreichen, ehe sie uns bewusst und damit Entscheidungen aus Gründen überhaupt<br />

zugänglich werden.<br />

66 Hier setzen dann auch verhaltens- und evolutionsbiologische Erklärungen menschlichen Handelns<br />

an, dessen Besonderheiten – etwa Werkzeuggebrauch, Spiel, Sprache, Kommunikation und Kooperation<br />

– anscheinend Stück für Stück auch im Tierreich nachgewiesen werden können, insbe-


136<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

wäre bei hinreichender Kenntnis der menschlichen Biologie und Physiologie<br />

dann auch das Problem der Interpretation von Handlungen prinzipiell lösbar:<br />

Beweggründe (oder eben: die Ursachen) und Mechanismen individuellen Handelns<br />

sind als neurophysiologische Dispositionen verankert, interindividuelle<br />

Unterschiede und Verhaltensvariationen erklären sich aus der individuellen<br />

Lerngeschichte des Organismus und seines Gehirns. Damit scheint ein objektiver<br />

Interpretationsrahmen möglichen Verhaltens vorgegeben, ein archimedischer<br />

Punkt des Verstehens. An dieses Erklärungsmuster schließen, trotz der Betonung<br />

der Besonderheit des Menschen und der Vermeidung falscher Allgemeinheit mit<br />

Blick auf den Tier-Mensch-Vergleich, bei entsprechender evolutionärer Deutung<br />

dann auch Chomskys „<strong>Cartesianische</strong> Linguistik“ der grammatischen Universalien<br />

und seine Theorie der angeborenen „mentalen Organe“ oder Fodors „Sprache<br />

des Geistes“, d.h. des individuellen Bewusstseins, die im Grunde eine universale,<br />

d.h. in jedem Individuum instantiierte, Privatsprache ist, an.<br />

Akzeptiert man den Cartesianismus und die daran anschließende Theorie des<br />

Geistes und der Handlung, dann muss auch das Soziale individualistisch, genauer:<br />

atomistisch, erklärt werden. Wenn es Geist ausschließlich in Form individueller<br />

Bewusstseinszustände gibt, also Intentionalität und Handlung individualtheoretische<br />

Begriffe sind, dann müssen soziale Phänomene, die gewöhnlich als<br />

„geistig“ angesprochen werden, etwa kollektive Intentionalität, gemeinsames<br />

Handeln, soziale Gruppen und ihre Kultur, ihre Normen, Regeln, Praxen und Institutionen<br />

letztlich als Aggregation bzw. Superposition individueller Intentionen<br />

und Handlungen bzw. als deren Resultate aufgefasst werden, ggf. auf Basis biologisch<br />

festgelegter individueller Dispositionen zu sozialem Verhalten. M.a.W.:<br />

Es gibt nur die Individuen und deren Handlungen, nur eine Welt monadischer,<br />

d.h. auch: asozialer, Individuen, die jedes für sich, in ihrer privaten Welt von Ü-<br />

berzeugungen und Wünschen leben und entscheiden und die als solche nicht<br />

bzw. nur in ihnen äußerlichen Wechselbeziehungen stehen. Koordination und<br />

Kooperation sowie darauf beruhende soziale Einrichtungen sind daher reduktiv<br />

in Begriffen individueller Überzeugungen, Wünsche, Entscheidungen und Übereinkünfte<br />

zu beschreiben, d.h. in Begriffen, die zunächst nur für Individuen Anwendung<br />

haben und deren Zutreffen letztlich nur vom Individuum selbst beurteilt<br />

werden kann. 67<br />

sondere mit Blick auf nichtmenschliche Primaten. Aufgrund des genetischen Befundes, dass sich<br />

das Erbmaterial von Mensch und Affe nur in Bruchteilen unterscheidet, scheint auch die Interpretation<br />

der verhaltensbiologischen Daten auf der Hand zu liegen: Es liegt alles in den Genen, es gibt<br />

keinen evolutionären Bruch zwischen Tier und Mensch, folglich auch keinen kategorialen Unterschied<br />

der Verhaltensbeschreibung. Daher sei der Mensch vollständig mit den Mitteln der Naturwissenschaft,<br />

insbesondere denen der Evolutionsbiologie und Genetik sowie der Neurophysiologie,<br />

beschreibbar – des irreduzibel normativen, intentionalen Vokabulars der Geistes- und Kulturwissenschaften<br />

bedürfe es dazu nicht mehr.<br />

67 Wieder ist das Lewis-Modell aus Konventionen einschlägig, dem in der einen oder anderen Weise<br />

auch so verschiedene Positionen wie die von Tuomela, Gilbert und Bratman, aber auch die von<br />

Searle folgen. Zur Diskussion des Individualismus in der Sozialphilosophie s. auch <strong>Kannetzky</strong><br />

2004.


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 137<br />

Dabei wird gewöhnlich nicht bestritten, dass soziale Gebilde wie Gruppen,<br />

Institutionen und andere soziale und kulturelle Größen eine Eigendynamik entwickeln<br />

und das Denken und Handeln der Individuen beeinflussen, indem sie<br />

dessen normativen Rahmen setzen. Aber, und das ist entscheidend, sie werden<br />

ebenso wie andere Individuen, als externe Faktoren nach dem Bilde der natürlichen<br />

Umwelt des Organismus konzipiert, auch wenn es Unterschiede in der<br />

Komplexität der sozialen Umwelt und ihrer Wechselwirkungen mit menschlichen<br />

Verhalten gibt, die durch eine längere Lern- und Sozialisationsphase kompensiert<br />

werden müssen. Die Aneignung von Kultur und Gesellschaft erscheint<br />

meist nur als Anpassungsleistung des Individuums an diese Umwelt, praktische<br />

Probleme des Gelingens von Kooperationen werden wesentlich als Probleme des<br />

Erkennens der Intentionen anderer Personen unter Voraussetzung unmittelbar<br />

gegebener eigener Intentionen aufgefasst. 68 Umgekehrt werden Handlungen als<br />

individuell zweckmäßige Manipulation von Gegenständen sowohl der natürlichen<br />

als auch der soziokulturellen Umwelt des Individuums gedacht. Die Dimension<br />

der Normativität und des Regelfolgens wird auf die Habitualisierung erfolgreichen<br />

Verhaltens und Sanktionsmechanismen zurückgeführt, soziales Handeln<br />

auf allgemeine, evolutionär herausgebildete und ggf. altruistische Dispositionen.<br />

Dabei spielen die Modelle der Evolutionslehre und der Soziobiologie eine<br />

zentrale Rolle, etwa das des „egoistischen Gens“, der „Verwandtenselektion“ und<br />

der „Gruppenselektion“. Diese Modelle gleichen in ihrer Struktur dem ökonomischen<br />

Verhaltensmodell, welches beansprucht, die Wechselwirkungen individuell<br />

präferenzrationalen Verhaltens und damit die Eigendynamik sozialer Systeme<br />

ohne Rückgriff auf „holistische“ Konzepte zu modellieren. Der Anschluss der<br />

Sozialphilosophie an eine naturalistische Anthropologie gelingt dabei über die<br />

naturalistische Deutung ihrer Grundfigur, des rationalen Egoisten, als naturgesetzlichen<br />

Zusammenhängen unterliegendes empirisches Individuum und seiner<br />

Handlungsantriebe (Präferenzen, Dispositionen, subjektiver Handlungssinn), denen<br />

unter evolutionstheoretischen, soziobiologischen, kognitionstheoretischen,<br />

psychologischen u.a. Aspekten ein naturalistisch beschreibbarer Gehalt gegeben<br />

wird.<br />

Es sind demnach der Individualismus, die Forderung, dass soziokulturelle<br />

Strukturen in Begriffen individuellen Erkennens und Handelns bzw. als deren<br />

Resultate zu beschreiben sind, und die Beschreibung von Überzeugungen und<br />

Absichten als Gegenstand von Psychologie und Kognitionswissenschaft, welche<br />

eine Einbettung traditionell philosophischer Fragen des Geistes und der Gesellschaft<br />

in die Naturwissenschaften ermöglichen sollen. Dieses Projekt scheint ohne<br />

ernsthafte Alternative. Denn ein Dualismus ohne „erste Substanz“ (wie etwa<br />

Descartes’ Gott) kann weder Erkenntnis noch Handlung verständlich machen,<br />

und holistische Ansätze, in denen gemeinsame Formen des Denkens und Han-<br />

68 Entsprechend nimmt in dieser Diskussion das Problem der Dekonditionalisierung wechselseitig<br />

bedingter Absichten breiten Raum ein, von psychologischer Seite wird dies als Problem des<br />

„mind-reading“ diskutiert.


138<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

delns, d.h. Praxisformen, die Funktion der ersten Substanz übernehmen, erscheinen<br />

angesichts ihrer vermeintlichen ontologischen Verpflichtungen obskur und<br />

unwissenschaftlich. Denn die modernen Wissenschaften scheinen uns zum einen<br />

auf einen materialistischen Monismus, zum anderen auf den Verzicht auf „Kollektivbegriffe“<br />

auf der „Basisebene“ der Ontologie festzulegen.<br />

4. Das Privatsprachenargument und seine Folgen<br />

4.1 Zur Reichweite des Privatsprachenarguments<br />

Ich möchte kurz zusammenfassen: Das Grundphänomen, das letztlich dem naturalistischen<br />

Forschungsprogramm und damit auch der neuerdings wieder in<br />

Mode gekommenen Idee einer wissenschaftlichen Philosophie (oder Weltanschauung<br />

samt ihrem Versprechen einer Entlastung von normativen Fragen) die<br />

Problemsstellung vorgibt, ist die Selbstgewissheit des cartesianischen Subjektes<br />

samt seiner Korollare, dem Intentionalismus (bzw. Mentalismus) und Interpretationismus<br />

in der Bedeutungs- und Kommunikationstheorie sowie in der Handlungstheorie<br />

und dem Atomismus in der Sozialphilosophie. Von Locke bis hin<br />

zum gegenwärtigen Empirismus in Handlungstheorie, Kognitionswissenschaft<br />

etc. wird in cartesianischer Tradition das folgende Bild intentionalen Geschehens<br />

gezeichnet: Meinen, Wollen, Verstehen und andere intentionale Begriffe bezeichnen<br />

psychische Zustände, Akte oder Tätigkeiten des Individuums. Intentionen<br />

sind demnach innere Zustände oder Vorgänge mit einer bestimmten Erlebnisqualität.<br />

69 Plausibel wird dieses Bild durch die Berufung auf allseits bekannte<br />

Phänomene, z.B. die Möglichkeit, seine Aufmerksamkeit willentlich zu steuern<br />

und Erinnerungen und Vorstellungsbilder bewusst herbeizurufen oder durch charakteristische<br />

Erlebnisse wie das „Aha-Erlebnis“ beim Verstehen. Ich hatte diese<br />

Auffassung als Psychologisierung des Geistes charakterisiert, welche zu einer<br />

Reifizierung geistiger Vorgänge als deskriptiv erfassbare empirische Entitäten<br />

führt. Deren Identifikations- und Individuationskriterien sind bewusstseinsimmanent<br />

und liegen daher letztlich in der Autorität der ersten Person. Sie sind denen<br />

des naturalistischen Programms (etwa der Definition bestimmter Hirnzustände)<br />

vorausgesetzt, indem sie die Gegenstände der naturalistischen Erklärungen<br />

konstituieren. Das Naturalisierungsprogramm ist daher an die cartesianische<br />

Prämisse gebunden, dass Geist individuelles Bewusstsein ist – das ist seine<br />

Sinnbedingung. Denn andernfalls könnten uns weder Psychologie noch die Neurowissenschaften<br />

als empirische Disziplinen irgend etwas über den Geist sagen.<br />

Voraussetzung dafür war die Annahme einer Privatsprache bzw. einer Sprache<br />

69 „Und wir tun hier, was wir in tausend ähnlichen Fällen tun: Weil wir nicht eine körperliche Handlung<br />

angeben können, die wir das Zeigen auf die Form (im Gegensatz z.B. zur Farbe) nennen, so<br />

sagen wir, es entspreche diesen Worten eine geistige Tätigkeit. Wo uns unsere Sprache einen Körper<br />

vermuten läßt, und kein Körper ist, dort, möchten wir sagen, sei ein Geist.“ (PU 36)


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 139<br />

des Geistes, d.h. der privaten Zuordnung von Zeichen und Vorstellungen im<br />

Geiste.<br />

Dieses Modell des Geistes führt aufgrund der Trennung von Geist und Welt,<br />

Seele und Leib, notwendig zu skeptischen Konsequenzen, insbesondere mit<br />

Blick auf die Erkenntnis der geistigen Zustände anderer Personen. Sowohl<br />

Sprach- als auch Handlungsverstehen müssen folglich rätselhaft bleiben, letztlich<br />

ist der Solipsismus unausweichlich. Unter diesen <strong>Prämissen</strong> scheint nur die Beseitigung<br />

des Dualismus von Leib und Seele diese Probleme lösen zu können,<br />

d.h. die Ausweitung der Naturwissenschaften und ihrer Methoden auf die Dinge<br />

der Seele, also das Naturalisierungsprogramm, welches, ausgehend von den<br />

Selbstbeschreibungen des Subjektes mittels intentionalen Vokabulars, dessen<br />

geistige Zustände reduktiv beschreiben und dann auch (nomologisch) erklären<br />

soll.<br />

Das Ideal der deduktiv-axiomatischen Theorie wird damit auch zum Vorbild<br />

philosophischen Denkens. 70 Damit sind deren Fragestellungen aber schon a priori<br />

schief, denn man muss nun aufgrund der Ontologisierung einer Darstellungsform<br />

Ursachen und Erklärungen auch da suchen, wo es um die Orientierung des<br />

Denkens und Handelns vermittels der Beschreibung und Bewertung historisch<br />

gewachsener Praxisformen geht. Statt normativer Einsichten in die „logische<br />

Geographie“ (Ryle) unserer Begriffe des Geistigen und ihrer Präsuppositionen<br />

wird verifizierbares Wissen verlangt und damit eine falsche Alternative gestellt:<br />

Entweder die Theorie des Geistes erlaubt naturwissenschaftliche Erklärungen<br />

und Prognosen, oder der Geist kann rational nicht erfasst werden und bleibt mystisch.<br />

Das bedeutet: Was sich nicht vermittels bestimmter, letztlich meist physikalischer<br />

Gesetze rekonstruieren, erklären oder prognostizieren lässt, fällt der Irrationalität<br />

anheim. 71 Aber steht hier nicht einfach eine Position gegen die andere?<br />

Lässt sich dieser Streit mit Argumenten beilegen? Ich meine nun, dass das<br />

Wittgensteins Privatsprachenargument hier einschlägig ist. Es greift das Naturalisierungsprogramm<br />

in seinen wichtigsten <strong>Prämissen</strong> an.<br />

70 Die Wittgenstein immer wieder unterstellte Theoriefeindlichkeit bezieht sich m.E. auf diesen speziellen<br />

Theorietypus und seine kategorialen <strong>Prämissen</strong>, sofern dieser als methodisches Ideal der<br />

Philosophie aufgefasst wird. Gegen „übersichtliche Darstellungen“ und damit auch Systematisierungen<br />

hat Wittgenstein bekanntlich nichts einzuwenden. Gleiches gilt für Ryle.<br />

71 Diese Zerrissenheit zwischen überschäumenden Erkenntnisoptimismus und Kapitulation vor der<br />

‚Irrationalität‘ des Geistes findet sich beispielhaft im jüngsten „Manifest“ der Hirnforscher: „Nach<br />

welchen Regeln das Gehirn arbeitet; wie es die Welt so abbildet, dass unmittelbare Wahrnehmung<br />

und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen; wie das innere Tun als ‚seine‘ Tätigkeit erlebt<br />

wird und wie es zukünftige Aktionen plant, all dies verstehen wir nach wie vor nicht einmal in Ansätzen.<br />

Mehr noch: Es ist überhaupt nicht klar, wie man dies mit den heutigen Mitteln erforschen<br />

könnte. In dieser Hinsicht befinden wir uns gewissermaßen noch auf dem Stand von Jägern und<br />

Sammlern.“ (S. 33). Das ist zweifellos richtig, allerdings fragt sich dann, woraus die Autoren des<br />

„Manifests“, so sie es nicht einfach dogmatisch voraussetzen, ihre Gewissheit ziehen, dass der<br />

Geist qua Bewusstsein das Naturgeschehen nicht übersteigt und die Psyche prinzipiell durch physiko-chemikalische<br />

Prozesse beschreibbar ist (vgl. ebd.).


140<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

Denn mit dem Naturalisierungsprogramm wird die cartesianisch-lockesche<br />

Konzeption in ihrem wichtigsten Stück beibehalten: Grundphänomen ist das individuelle<br />

Seelenleben, das als solches scheinbar keiner weiteren Erläuterung<br />

bedarf. Dass ich etwas wahrnehme, glaube oder will, wird als selbstverständlich<br />

bekanntes Phänomen vorausgesetzt – jeder weiß, worum es geht. Als erklärungsbedürftig<br />

zählt deshalb nicht, was es im gewöhnlichen Sinne bedeutet, etwas<br />

wahrzunehmen etc., sondern nur, wie dies in einer Welt von physikalischen Teilchen<br />

möglich sein kann. Genau diese Selbstverständlichkeit wird im Privatsprachenargument<br />

befragt: Etwas wahrzunehmen, zu empfinden, glauben oder wollen<br />

bedeutet, etwas Bestimmtes wahrzunehmen etc. Bevor man sich an die (kausale)<br />

Erklärung der fraglichen Phänomene machen kann, muss erläutert werden,<br />

was die Bestimmtheit geistiger Phänomene bedeutet (d.h. auch: was sie impliziert).<br />

M.a.W.: Es ist zunächst nicht erläuterungsbedürftig, dass ich etwas wahrnehme,<br />

glaube oder will, sondern dass ich etwas Bestimmtes wahrnehme, glaube<br />

oder will. 72 An der Bestimmtheit hängt alles! Denn ohne die Bestimmtheit der intentionalen<br />

Zustände, ohne Kriterien ihrer Identifikation und Individuation laufen<br />

naturalistische Erklärungen ins Leere, schlicht weil der Erklärungsgegenstand<br />

unterbestimmt wäre. Das heißt, die Individuations- und Identifikationskriterien<br />

für Intentionen müssen aus logischen Gründen unabhängig von naturalistischen<br />

Beschreibungen und Erklärungen geistiger Zustände festliegen, andernfalls<br />

wären letztere von vornherein unmöglich – schlicht mangels Gegenstand.<br />

Die Frage ist nun, welche Kriterien hier möglich sind. Die cartesianischlockesche<br />

Antwort ist nach dem Vorangegangenem klar: Die Selbstauskunft des<br />

Individuums, weil es hinsichtlich seines Bewusstseins die letzte Autorität darstellt.<br />

Das Modell setzt voraus, dass das Subjekt (sei es als Sprecher, sei es als<br />

Akteur), für sich schon weiß, was es meint oder will, und zwar unabhängig von<br />

der Interaktion und Kommunikation mit anderen. Folglich wird eine Art Privatsprache<br />

vorausgesetzt, andernfalls gäbe es im Modell keine Bestimmtheit von Intentionen.<br />

73 Das Privatsprachenargument zeigt nun, dass ein im cartesianischlockeschen<br />

Sinne isoliertes, d.h. ein monadisches Subjekt nicht über Identifikati-<br />

72 Es wird unterstellt, dass „etwas“ und „etwas Bestimmtes“ die gleiche Extension haben – was zweifellos<br />

richtig ist, aber eben erklärungsbedürftig. Reden wir von „etwas“, dann ist gewöhnlich der<br />

(Rede-)Bereich, auf den sich „etwas“ als eine Art unbestimmter Quantor bezieht, mehr oder minder<br />

klar bestimmt, jedenfalls so weit, wie es möglich und nötig ist. „Etwas“ steht dann für einen<br />

Gegenstand einer dieser Sorte oder dieses Typs von Gegenständen. Mithin sind, je nach Redekontext,<br />

nicht beliebige Einsetzungen möglich. Wellmer spricht hier von der Notwendigkeit „kategorialer<br />

Erläuterungen“ (Sprachphilosophie, S. 99). Das Problem der Bestimmtheit haben schon Herder,<br />

Fichte, Hegel und Humboldt als Zentralproblem jeder Beschreibung und Erklärung der Phänomene<br />

des individuellen Bewusstseins erkannt. Da Wittgensteins Argumente genau diesen Punkt<br />

thematisieren, ist es sinnvoll, die Philosophischen Untersuchungen trotz aller Unterschiede, etwa<br />

mit Blick auf die Möglichkeit einer „Systemphilosophie“, in deren Tradition zu stellen.<br />

73 Vgl. dazu auch Searles Prinzip der Ausdrückbarkeit in Sprechakte, nämlich „daß man alles, was<br />

man meinen, auch sagen kann.“ (Sprechakte, S. 34). Searle selbst meint, dass dies die Möglichkeit<br />

einer Privatsprache nicht ausschließt (Sprechakte, S. 35). Ich glaube aber, dass allein schon dieses<br />

Prinzip mit der Möglichkeit einer Privatsprache nicht kompatibel ist (vgl. dazu <strong>Kannetzky</strong> 2001).


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 141<br />

onskriterien für geistige Zustände verfügen kann. Diese hängen vielmehr an einer<br />

in gemeinsame Praxisformen eingebundenen Urteils- bzw. Zuschreibungsund<br />

Bewertungspraxis. Wenn das so ist, dann kann die Selbstauskunft der Person<br />

nicht das entscheidende Kriterium sein, womit die Autorität der ersten Person<br />

bezüglich ihrer Bewusstseinszustände unterminiert wird.<br />

Das Problem dabei ist nicht so sehr die Orientierung am (methodologischen)<br />

Individualismus und am Intentionalismus (i.S. des Mentalismus) als solchen,<br />

sondern dass die Analyse da abgebrochen wird, wo die Vertrautheit mit Phänomenen<br />

und Redeweisen die Illusion erzeugt, man hätte deren Verfasstheit schon<br />

durchschaut. Aber gerade das Selbstverständliche ist als solches noch unbegriffen.<br />

Die Frage ist daher nicht, ob wir bestimmte Überzeugungen, Wünsche und<br />

dann auch Absichten haben – das ist phänomenologisch vorauszusetzen –, sondern<br />

was es heißt, dass wir bestimmte, d.h. auf explizierbare oder empraktische<br />

Erfüllungsbedingungen festgelegte (und dann auch stabile und kriterial prüfbare)<br />

Empfindungen, Intentionen etc. 74 haben können und wie dies möglich ist. 75 Wittgensteins<br />

Argument läuft nun darauf hinaus, dass die Bestimmtheit von Empfindungen,<br />

Intentionen etc. (und damit deren Möglichkeit) von der Beherrschung<br />

einer Sprache als regelgeleiteter Praxis abhängt. Durch reductio zeigt er, dass die<br />

Sprachpraxis notwendig eine soziale Praxis sein muss, d.h. dass weder eine Privatsprache<br />

noch private Empfindungen, Intentionen etc. möglich sind, die Unmittelbarkeit<br />

des Selbstbewusstseins daher eine Illusion ist. Was das Argument<br />

so schwierig macht, ist die phänomenologische Plausibilität des Unmittelbaren<br />

(„Aber nur ich kann wirklich wissen, was ich fühle, denke und wünsche, und<br />

darin kann ich mich nicht irren“), die nur schwer zu erschüttern ist. Wittgenstein<br />

greift deshalb die Idee einer Privatsprache, und damit das cartesianisch-lockesche<br />

Bild des Geistes, an ihrer intuitiv stärksten Bastion an: den unmittelbar gewissen<br />

Empfindungen (oder auch: den Sinnesdaten, Lockes einfachen Ideen der<br />

Perzeption etc.) und Empfindungsausdrücken. 76 Wenn das cartesianische Bild an<br />

dieser Stelle zusammenbricht, dann taugt es auch nicht für den „Rest“, etwa den<br />

74 Im folgenden will ich aus Gründen der Ökonomie den Terminus „Intention“ als Sammelbegriff<br />

verwenden, der unterschiedliche Typen intentionaler Zustände und propositionaler Einstellungen<br />

umfasst, also weiter als den Begriff der Intention i.e.S. als Absicht.<br />

75 Gewöhnlich wird hier das Begriffspaar „explizit–implizit“ benutzt und damit nahegelegt, es ginge<br />

um explizierbares Wissen. Das ist aber nur teils richtig, teils irreführend, weil es eben nicht oder<br />

nicht primär um ein verborgenes Wissen im Sinne eines knowing that handelt, sondern um ein<br />

praktisches Wissen (knowing how), welches sich im Vollzug entsprechender Handlungen zeigt und<br />

die Kompetenz der Teilnahme an gemeinsamen Praxen voraussetzt (die freilich nicht notwendig<br />

im Fokus stehen müssen).<br />

76 Dies können die öffentlichen Ausdrücke sein, darauf kommt es nicht an, sondern darauf, dass im<br />

cartesianisch-lockeschen Modell die Bedeutung sprachlicher Zeichen die Empfindungen bzw. Vorstellungen<br />

sind, die der Sprecher damit verknüpft. Eine Privatsprache kann sich daher im Grunde<br />

auch öffentlicher Ausdrücke bedienen, ohne deshalb weniger privat zu sein, sofern deren Bedeutung<br />

vom Sprecher privat festgelegt werden. (Freilich wäre hier zu fragen, in welchem Sinne diese<br />

Ausdrücke öffentlich wären, im gewöhnlichen Sinne der Ausdrücke einer öffentlichen Sprache wären<br />

sie es gerade nicht.)


142<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

Begriff der durch private Absichten individuierten Handlung. Es wäre irreführend,<br />

das Privatsprachenargument so zu deuten, als seien es nur die Empfindungen<br />

und die Empfindungsworte, die öffentlicher Kriterien bedürfen.<br />

Die Relevanz des Privatsprachenargumentes für die Philosophie des Geistes<br />

ergibt sich nun aus folgender Überlegung: Wenn gezeigt ist, dass das Vokabular<br />

unseres Empfindens, dann auch des Denkens und Handelns nur holistisch, d.h.<br />

im Rahmen gemeinsamer Handlungs- u. Praxisformen einen Unterschied macht,<br />

dann sind auch Schlüsse der folgenden Art blockiert, wie sie für das naturalistische<br />

Programm typisch sind: Wir empfinden x, also muss es „x-Empfindungen“<br />

(und deren neurologische Korrelate) als identifizierbare und einer Untersuchung<br />

mit naturwissenschaftlichen Methoden zugängliche Gegenstände geben. Wir<br />

denken, also gibt es ein „Denkorgan“, dessen Funktion intentionale Gehalte sind<br />

und dessen physiologische Gesetzmäßigkeiten diese Gehalte erklären können.<br />

Mit Wittgenstein kann man nun den Ort dieses Fehlschlusses lokalisieren, nämlich<br />

im Missverständnis des intentionalen Vokabulars selbst, sofern dieses als<br />

(individual-)psychologisches aufgefasst wird.<br />

Für die Sozialphilosophie bedeutet das, dass der methodologische Individualismus<br />

inadäquat sein muss, schlicht, weil das Individuum und seine Handlungen<br />

nur vor dem Hintergrund gemeinsamer Praxisformen verständlich sind, oder anders:<br />

weil das Ich nur als Teil eines Wir zu verstehen ist. Daraus folgt nun, dass<br />

der Individualismus als grundlegende methodische Orientierung prinzipiell zirkulär<br />

ist, denn er beansprucht, die Begriffe des Sozialen ausschließlich unter<br />

Verwendung von Begriffen zu definieren, die (zunächst) nur auf Individuen Anwendung<br />

haben. 77 Oder anders: Das Privatsprachenargument zeigt, dass die soziokulturelle<br />

Bedingtheit menschlicher Intentionalität eben nicht nur eine Frage<br />

der Prägung oder Überformung eines „an sich“ asozialen und akulturellen Wesen<br />

ist und daher nur das andere Ende eines Kontinuums darstellt, welches im Tierreich<br />

beginnt. Vielmehr macht die Bindung an gemeinsame Praxisformen und<br />

eine gemeinsame Sprache sowie die Einbindung in Kooperationen ihr Wesen<br />

aus, denn nur diese erklären die Formbestimmtheit möglicher Handlungen. Intentionales<br />

Vokabular ist daher prinzipiell irreduzibel und mittels naturwissenschaftlicher<br />

Beschreibungen nicht einzuholen. „Geist“ lässt sich folglich nur aus<br />

der Perspektive des Teilnehmers an gemeinschaftlichen Praxen erfassen, nicht<br />

aus der eines objektiven Beobachters. Vielmehr verkörpert die Idee der Perspektiveninvarianz<br />

selbst eine besondere kulturelle Praxis und hat nur in deren Rahmen<br />

Geltung.<br />

Ich werde im folgenden das Privatsprachenargument, seine handlungstheoretische<br />

Deutung und Verallgemeinerung sowie einige Konsequenzen für die im<br />

zweiten Teil genannten Probleme, insbesondere des Verstehens von Sprache und<br />

Handlung, skizzieren.<br />

77 Vgl. dazu <strong>Kannetzky</strong> 2004.


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 143<br />

4.2 Skizze des Privatsprachenargumentes<br />

Das cartesianisch-lockesche Modell des Geistes, von Sprache, Bedeutung und<br />

Kommunikation unterliegt skeptischen Einwänden: Wie stellen es Sprecher und<br />

Hörer an, mit den sprachlichen Zeichen die gleichen Ideen zu verknüpfen? Wie<br />

ist Verstehen möglich, wenn Bedeutung intentionalistisch bzw. mentalistisch,<br />

d.h. unter Bezug auf die privaten geistigen Vorgänge der Sprecher definiert wird?<br />

Wittgenstein radikalisiert dieses Problem: Unter cartesianisch-lockeschen Voraussetzungen<br />

ist es fraglich, ob dem Sprecher überhaupt „Ideen“, d.h. bestimmte,<br />

in ihren Identitätsbedingungen klare Vorstellungen, zugeschrieben werden können.<br />

Das wird an der Frage nach der Möglichkeit einer Privatsprache diskutiert,<br />

einer Sprache, deren Wörter „sich auf das beziehen, wovon nur der Sprechende<br />

wissen kann; auf seine unmittelbaren, privaten, Empfindungen. Ein anderer kann<br />

diese Sprache also nicht verstehen.“ (PU 356) Die private Sprache ist dann eine<br />

Sprache, die der Repräsentation privater Empfindungen dient. Dabei können die<br />

Ausdrücke einer solchen Sprache durchaus öffentlich geäußert werden – worum<br />

es Wittgenstein geht, ist ihre Bedeutung, und diese sei dem Hörer prinzipiell<br />

nicht verständlich, weil sich die Ausdrücke auf nur dem Sprecher zugänglich<br />

private Erlebnisse, Empfindungen etc. beziehen, womit freilich die Verwendung<br />

einer solchen Sprache zur Verständigung witzlos und die Bezeichnung „Sprache“<br />

schon aus diesem Grunde fehlerhaft wäre. Gefragt wird nun, ob eine solche<br />

Sprache überhaupt möglich ist, d.h. ob es ohne Widerspruch denkbar ist, dass eine<br />

Sprache nur von einer einzigen Person verstanden werden kann. Wie oben gezeigt,<br />

ist dies im cartesianisch-lockeschen Modell des Geistes und der Sprache<br />

gerade nicht die Ausnahme, sondern Sinnbedingung und Standardfall, von dem<br />

aus die gemeinsame Verwendung sprachlicher Ausdrücke und ihre Bedeutung<br />

erst zu erklären ist. (Zur Erinnerung: Ein Zeichen hat in diesem Modell Bedeutung<br />

aufgrund der Tatsache, dass ein Sprecher ihm „Vorstellungen im Geiste“<br />

zuordnet. Die Notwendigkeit der zunächst privatsprachlichen Artikulation der<br />

„Ideen“ im Geiste ergab sich aus der Forderung der Bestimmtheit der Ideen. Ist<br />

die Annahme einer Privatsprache nicht widerspruchsfrei möglich, dann kann das<br />

cartesianische Subjekt auch keine bestimmten Ideen haben, nicht einmal im Falle<br />

prima facie privater Empfindungen.)<br />

Zur Illustration einer Privatsprache fingiert Wittgenstein (PU 258) den Fall<br />

eines Tagebuchschreibers, der jedesmal beim Auftreten einer E-Empfindung eine<br />

E-Eintragung vornimmt, deren Bedeutung per privater hinweisender Definition<br />

gerade im E-Erlebnis bzw. der E-Empfindung bestehen soll, also unter Bezug auf<br />

Gehalte des individuellen Bewusstseins definiert wird, die anderen per definitionem<br />

nicht zugänglich sein sollen. Wittgenstein zeigt, dass das Modell mit seinen<br />

Voraussetzungen kollidiert, es führt in Selbstwidersprüche. Insbesondere folgt<br />

daraus, dass kein anderer diese Sprache verstehen kann, dass sie für ihren Spre-


144<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

cher selbst unverständlich sein muss 78 – Privatus kann sich selbst nicht verstehen,<br />

weil er keine kontrollierbar stabilen Bedeutungen etablieren kann. Denn im<br />

beschriebenen Fall hieße das, dass der Sprecher irgendwie in der Lage sein muss,<br />

seine Empfindungen sicher als E-Empfindungen zu identifizieren, also mit Blick<br />

auf seine E-Empfindungen über der Zeit gültige Gleichheits- und Verschiedenheitsurteile<br />

zu fällen.<br />

Der Witz des Argumentes ist, dass unter den gegebenen Voraussetzungen<br />

nicht einmal von einer bestimmten Empfindung E (als diese und nicht jene Empfindung)<br />

gesprochen werden kann, weil dies schon den Bezug bestimmte Unterscheidungsmöglichkeiten<br />

und damit auf einen bestimmten Typ von Empfindungen<br />

(etwa Schmerz, Helligkeit) voraussetzt, der in einer gemeinsamen Sprachund<br />

Urteilspraxis verankert sein muss, die als Kontrollinstanz dient. Diese<br />

Schwierigkeit einer Privatsprache kann man sich am Beispiel des Behaltens und<br />

Prüfens von Passwörtern annäherungsweise verdeutlichen: Hat man völlig sinnfreie,<br />

aus allen gemeinsam kontrollierbaren Handlungszusammenhängen, also<br />

auch der schriftlichen Fixierung, gelöste „private“ Zeichenreichen, deren „Bedeutung“<br />

in nichts als ihrer gelegentlichen Abfrage besteht, dann mag man sich<br />

richtig erinnern – oder auch nicht. Im Falle einer echten Privatsprache entfällt allerdings<br />

die praktische Prüfung der richtigen Erinnerung, hier der Zugang zum<br />

geschützten Bereich. Man könnte sich aber eine Passwortabfrage vorstellen, die<br />

das Kriterium des Fehlens von Kontrollmöglichkeiten erfüllt, etwa dass ein (hinreichend<br />

langes) Passwort hinreichend oft in Folge richtig eingegeben werden<br />

muss, um Zugang zu erlangen. Wird dabei ein Fehler gemacht, dann wird der<br />

Zugang unwiderruflich gesperrt, so dass man sich im Falle der Sperrung nie sicher<br />

sein kann, ob man das richtige Passwort hatte, aber es nicht hinreichend oft<br />

richtig eingegeben hat, oder ob es das falsche war. Es gibt schlicht kein Kriterium<br />

der Identifikation des „richtigen“ Passworts.<br />

Ganz ähnlich muss der Tagebuchschreiber seine Empfindungen kontrollieren:<br />

Jetzt habe ich dieselbe Empfindung wie gestern, und das war eine E-Empfindung.<br />

Und das jetzt ist eine F-Empfindung, aber keine E-Empfindung usw. Die<br />

Frage ist: Woher weiß er das? Wie bestimmt er, welche Art Empfindung er gerade<br />

hat? Genauer: Welche Kriterien hat er dafür? 79 Das Kernproblem ist, dass es<br />

für die Identifikation seiner Empfindungen unter den gegebenen Voraussetzungen<br />

keine Kriterien geben kann: Privatus hat ja nur seine Empfindungen, er verfügt<br />

nicht über einen unabhängigen Vergleichsgegenstand. Sich auf seine Empfindungen<br />

zu berufen sei deshalb, „als kaufte Einer mehrere Exemplare der heutigen<br />

Morgenzeitung, um sich zu vergewissern, daß sie die Wahrheit schreibt.“<br />

(PU 364). Entsprechend hat die E-Eintragung keine Bedeutung, den ihr entspricht<br />

nichts bestimmtes.<br />

78 Ähnlich sieht dies Wellmer (Sprachphilosophie, S. 94).<br />

79 „Man vergißt aber, daß, was uns interessieren muß, die Frage ist: Wie vergleichen wir diese Erlebnisse,<br />

was legen wir fest als Kriterium der Identität des Geschehnisses?“ (PU 322)


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 145<br />

Dass sich die E-Empfindungen nicht identifizieren lassen, scheint nun auf eine<br />

bestimmte Art des cartesianischen Zweifels hinauszulaufen. Der Sprecher<br />

könnte sich ja prinzipiell immer täuschen oder sich falsch erinnern. Das Problem<br />

der Identifikation erwiese sich damit als ein Problem der Zuverlässigkeit der<br />

Sinne oder des Gedächtnisses. Aber das ist hier nicht das Problem – das Privatsprachenargument<br />

ist kein empirisches, sondern ein begriffliches Argument. Die<br />

faktisch bestehende Möglichkeit der Täuschung etwa aufgrund des Vergessens<br />

oder falschen Erinnerns ist gar nicht relevant.<br />

Vielmehr ist der Begriff der Täuschung in diesem Falle gar nicht anwendbar,<br />

denn täuschen kann man sich nur da, wo auch Korrekturen möglich sind, andernfalls<br />

wüsste man nicht, was Täuschung hieße. Im Falle der E-Eintragungen gibt<br />

es aber per Konstruktion keine Korrekturmöglichkeiten, was bedeutet, dass mit<br />

den E-Eintragungen beliebige Empfindungen vereinbar sind, d.h.: „richtig ist,<br />

was immer mir als richtig erscheinen wird“ (PU 258). Denn der Tagebuchschreiber<br />

hat nach Voraussetzung exklusive Deutungshoheit – er kann keinen Fehler<br />

machen!, schlicht, weil die E-Empfindungen nicht bestimmt sind, d.h. weil es<br />

keine Kontrolle der Richtigkeit der E-Eintragungen gibt. Es fehlen die Kriterien:<br />

Beliebige Empfindungen sind mit den E-Eintragungen vereinbar. Wo solche Kriterien<br />

fehlen, wo also „nichts ausgeschlossen wird“, da gibt es auch keine Regel,<br />

80 und wo es keine Regel oder Norm gibt, da hat weder Begriff der Richtigkeit<br />

noch der der Täuschung oder des Irrtums Anwendung und damit auch nicht<br />

der Begriff der Handlung (etwa der Bedeutungszuweisung). Das bedeutet aber,<br />

dass hier nicht der Fall verhandelt wird, dass der Sprecher sich in der Ausführung<br />

eines hinreichend klar bestimmten Handlungsschemas mit den entsprechenden<br />

Erfolgskontrollen und -kriterien gelegentlich auch täuschen kann, son-<br />

80 Kripkes Wittgenstein (S. Kripke: Wittgenstein über Regeln und Privatsprache. Frankfurt a.M.:<br />

Suhrkamp 1987, Kap. II, S. 22 und passim) stellt die Frage nach einer Tatsache, die garantiert, dass<br />

ich etwas Bestimmtes meine, dass ich einer bestimmten Regel folge (statt bloß zu glauben, dieser<br />

und keiner anderen Regel zu folgen), dass ich etwas richtig verstehe, und beantwortet diese Frage<br />

negativ: Es gibt keine solche Tatsache und es kann keine solche Tatsache geben – die Frage ist<br />

sinnlos. Hierzu muss man aber genauer unterscheiden, wonach gefragt wird: Gibt es überhaupt etwas,<br />

was der Fall sein muss, damit man sagen kann, ich hätte etwas verstanden, gemeint, befolgt?<br />

Oder wird danach gefragt, ob es eine nur mich betreffende Tatsache gäbe, die dies garantiert? Die<br />

erste Frage zu verneinen hieße, den genannten Begriffen jede Bedeutung zu nehmen – man müsste<br />

dann nämlich verneinen, dass es einen Unterschied macht, ob ich etwas meine, verstehe, beabsichtige<br />

etc. Das bedeutet, die Frage nach den Kriterien muss eine Antwort haben – auch wenn diese<br />

nicht die Form eine endgültigen und definitiven Liste von endgültigen und definitiven Merkmalen<br />

annehmen muss. Die zweite Frage kann man dagegen verneinen, ohne dass deshalb eine Antwort<br />

auf die erste Frage sinnlos wäre, denn wie das Privatsprachenargument zeigt, hängen die Kriterien<br />

des Verstehens eben nicht von nur mich betreffenden Tatsachen ab, etwa meinem Gefühl (oder Erlebnis,<br />

neurophysiologischen Zuständen etc.), dass ich nun glaube, verstanden zu haben. Die Verneinung<br />

der zweiten Frage ist damit zugleich die Verneinung des cartesianisch-lockeschen Bildes<br />

des Geistes. Das von Kripke fälschlich Wittgenstein zugeschriebene „Skeptische Paradox“ ist ein<br />

Paradox der cartesianischen <strong>Prämissen</strong> (genauer: Präsuppositionen) in Theorien des Geistes, und<br />

als solche falsifiziert es diese. Wenn man nicht leugnet, dass es geistige Vorgänge gibt, dann kann<br />

dies nur die Auffassung vom Geist als individuelles Bewusstsein sein, welches einer ihm fremden<br />

Außenwelt einsam gegenübersteht.


146<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

dern es gibt hier gar kein klar bestimmtes Handlungsschema. Folglich kann hier<br />

auch nicht von einer Sprache die Rede sein. Denn auch ein Empfindungsausdruck<br />

hat nur dann Bedeutung, wenn er einen (praktisch fassbaren) Unterschied<br />

markiert – die E-Eintragungen tun gerade dies nicht. Das Privatsprachenargument<br />

zeigt, dass es für ein im relevanten Sinne isoliertes Individuum unmöglich<br />

ist, eine Sprache zu sprechen, weil eine einzelne Person nicht über Kriterien der<br />

Befolgung sprachlicher Regeln verfügen kann, die sinnvolle Verwendung von<br />

Sprache aber an Regeln gebunden ist. Es zeigt damit auch, dass selbst die<br />

scheinbar privatesten, unmittelbar gewissen Empfindungen als solche sozial konstituiert<br />

und prinzipiell öffentlich zugänglich, wenngleich nicht in jedem Einzelfall<br />

öffentlich prüfbar, sind. 81<br />

4.3 Handlungstheoretische Deutung und Verallgemeinerung des Privatsprachenargumentes<br />

Ich schlage nun vor, das Privatsprachenargument nicht nur als sprachphilosophisches,<br />

i.e.S. bedeutungstheoretisches Argument zu lesen, sondern als ein handlungstheoretisches<br />

Argument, welches die begrifflichen Grundlagen jeder Theorie<br />

der Intentionalität und Handlung unmittelbar betrifft. Denn es lässt sich<br />

zwanglos verallgemeinern: Es gilt überall da, wo die Autorität der ersten Person<br />

hinsichtlich ihrer geistigen Vorgänge und Zustände Begründungs- oder Konstitutionslasten<br />

zu tragen hat, d.h. überall da, wo von individualpsychologischen Begriffen<br />

im genannten Sinne zur Erklärung sozialer Tatsachen wesentlich Gebrauch<br />

gemacht wird. Insbesondere erschüttert es den (intentionalistischen bzw. mentalistischen)<br />

Begriff der Handlung, sofern dieser wie im cartesianisch-lockeschen<br />

Modell unter wesentlichem Bezug auf Leistungen und Gehalte des individuellen<br />

Bewusstseins, insbesondere den „subjektiven Handlungssinn“, die Absicht, erklärt<br />

werden soll. 82 Denn eine Handlung zu verstehen bedeutet in diesem Modell,<br />

81 Dass man z.B. Schmerz vortäuschen, Mitleid heucheln etc. kann, setzt voraus, dass gewöhnlich<br />

nicht getäuscht und geheuchelt wird. Das Schmerzverhalten u.ä. verlöre sonst seinen Sinn, so wie<br />

die Lüge nur vor dem Hintergrund der Aufrichtigkeit bestehen kann. (vgl. auch G. Ryle: Der Begriff<br />

des Geistes, Kap. 6, sowie Kant zur Lüge). Aber auch wenn Aufrichtigkeit als pragmatische<br />

Präsumtion vorausgesetzt werden kann, sollte mit Blick auf die Rolle von Selbstauskünften über<br />

Empfindungen, Absichten etc. zwischen der Frage der Konstitution ihrer Gehalte einerseits, der<br />

Frage ihrer Verifikation andererseits unterschieden werden. Im Privatsprachenargument geht es um<br />

die Konstitution der Gehalte. Die Möglichkeit von authentischen Selbstauskünften der Teilnehmer<br />

gemeinsamer Praxen ist damit nicht bestritten, wenngleich immer die Möglichkeit einer Differenz<br />

von Selbst- und Fremdzuschreibung besteht, die nur kommunikativ aufgelöst werden kann. Denn<br />

ein Sprecher kann sich, entgegen den Annahmen des Cartesianismus, in seinen Selbstauskünften<br />

irren, er hat deshalb auch in Bezug auf seine „geistigen Zustände“ nicht notwendig das letzte Wort.<br />

82 M. Weber allerdings kennt neben der am subjektiven Handlungssinn ausgerichteten instrumentellen<br />

Rationalität (die gewöhnlich als Präferenzmaximierung gedeutet wird) noch andere Rationalitätstypen.<br />

Abgesehen von der Wertrationalität könnte man auch von einer „Formrationalität“ sprechen,<br />

wenn es um die an tradierten Handlungs- und Praxisformen ausgerichtete Handlung geht – und<br />

diese Art der Rationalität scheint für unseren Handlungsbegriff grundlegend zu sein, denn sie erlaubt<br />

die Identifikation und Bewertung der Handlung prima facie unabhängig von der Kenntnis der


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 147<br />

ihren primär nur dem Handelnden selbst zugänglichen Handlungssinn, ihren individuellen<br />

Zweck zu erkennen, so wie im Privatsprachenargument das Verständnis<br />

der E-Eintragung die Erkenntnis der E-Empfindung bedeutet. Die begrifflichen<br />

<strong>Prämissen</strong>, die im Privatsprachenargument als irreführend und unsinnig<br />

herausgestellt werden, finden sich demnach auch im gängigen Modell der<br />

Handlung als Verwirklichung des subjektiven Handlungssinnes. Zentraler Kritikpunkt<br />

ist dabei, dass private Intentionen und damit die private Festlegung und<br />

Identifikation des Sinns eines Verhaltens als eine bestimmte Handlung nicht<br />

möglich sind, sowenig wie die private ostensive Definition die Bedeutung eines<br />

Ausdruckes festlegen kann. Der Grund hierfür ist, wie dort auch, dass die bloß<br />

individuelle Festlegung auf eine Absicht, der bloß subjektive Handlungssinn ohne<br />

den Bezug auf einen objektiven Rahmen guter, d.h. im Blick auf reale Handlungsmöglichkeiten<br />

allgemein anerkannter Handlungsgründe, nichts ausschließt:<br />

Beliebige Absichten sind mit beliebigen Verhaltensweisen vereinbar – letztere<br />

sind demnach als Handlungen interpretierbar –, sofern der Akteur nur glaubt,<br />

diese erfüllten jene. 83 Von richtig und falsch, von angemessen oder unangemessen,<br />

kann demnach auch hier nicht die Rede sein. Die so verstandene Absicht<br />

macht für die Handlung keinen Unterschied, weil es bloß vom Subjekt her keine<br />

Kriterien, kein unabhängiges Maß der Erfüllung seiner Absicht gibt. Das bloße<br />

Gefühl der Befriedigung ist kein solches Kriterium, denn es könnte sich bspw.<br />

schon einstellen, bevor die ursprüngliche Absicht erfüllt ist. Analoges gilt für die<br />

handlungsrelevanten Überzeugungen. Auch hier gilt: „richtig ist, was immer mir<br />

als richtig erscheinen wird“ (PU 258). Wird die Deutungshoheit der ersten Person<br />

unterstellt, dann ist die Möglichkeit des Fehlers ausgeschlossen.<br />

Dazu wäre der im cartesianischen (d.h. individualistisch-mentalistischen)<br />

Handlungsmodell per definitionem ausgeschlossene Bezug möglicher Absichten<br />

auf gemeinsame Praxisformen und eine gemeinsame Urteilspraxis notwendig, in<br />

deren Licht Handlungen in verschiedenen Bewertungsdimensionen, etwa der<br />

Richtigkeit der Ausführung und der sachlichen oder normativen Angemessenheit<br />

Absichten, die der Akteur mit seinem Tun verbindet. Nur auf ihrer Basis ist eine Differenz zwischen<br />

Selbst- und Fremdzuschreibungen von Handlungen und dann auch Absichten (oder auch<br />

Werten) überhaupt möglich.<br />

83 Dies wird in der Literatur als Frage nach (den Kriterien) der richtigen Handlungsbeschreibung breit<br />

diskutiert. Etwa wurde vorgeschlagen, komplexere Handlungen auf schon verstandene „Basishandlungen“<br />

zurückzuführen, was daran scheitert, dass dieselben „Basishandlungen“ im Kontext<br />

ganz verschiedener Handlungen vorkommen. Auch Kripkes Wittgenstein (vgl. Wittgenstein über<br />

Regeln und Privatsprache, S. 17) setzt hier (wegen der Rollenverteilung zwischen Wittgenstein<br />

und seinem fiktiven Diskussionspartner in den PU fälschlich) an, nämlich an PU 201: „Unser Paradox<br />

war dies: eine Regel könnte keine Handlungsweise bestimmen, da jede Handlungsweise mit<br />

der Regel in Übereinstimmung zu bringen sei.“ Die Frage wäre demnach, wie eine Regel, oder e-<br />

ben meine Absicht, einer Regel zu folgen, ihre Anwendung festlegt, wenn meine vergangenen Absichten<br />

oder Regelanwendungen keinen Hinweis darauf geben können, was ich gegenwärtig darunter<br />

verstehe, eine bestimmte Handlung auszuführen. Das Privatsprachenargument (in dem nun<br />

tatsächlich Wittgenstein spricht) zeigt nun gerade, dass hier kein Paradox vorliegt, sondern eine<br />

inkonsistente Auffassung des Regelfolgens bzw. des Handelns, nämlich als privat mögliches Regelfolgen<br />

oder Handeln.


148<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

der gewählten Handlungsform, richtig oder falsch sind. Da dem Akteur des individualistischen<br />

Handlungsmodells diese Bezüge fehlen, ist er nicht in der Lage,<br />

einen Fehler zu machen, weil nach Voraussetzung das einzige Kriterium sowohl<br />

der Identifikation als auch der Richtigkeit der Handlung seine Absicht ist und<br />

seine Überzeugung, dass er seine Absicht mit dieser oder jener Verhaltensweise<br />

realisieren kann. 84 Denn ganz analog zur Unbestimmtheit der privaten E-Empfindungen,<br />

kann ohne den Bezug auf gemeinsame Handlungsformen nicht einmal<br />

von einer bestimmten Absicht die Rede sein. Ist die Absicht aber nicht bestimmt,<br />

etwa wenn sie sich in einem bloßen vagen Gefühl eines Mangels oder eines<br />

Wunsches ohne die (wieder gemeinsamen Praxisformen zugehörige) instrumentelle<br />

Struktur möglicher Handlungen erschöpft, dann läuft auch der Begriff des<br />

Fehlers ins Leere. Die Möglichkeit des Fehlers gehört aber zum Begriff der<br />

Handlung (andernfalls wäre sie ein Widerfahrnis oder Ablauf).<br />

Der Witz des Privatsprachenargumentes hängt demnach nicht am Bezug auf<br />

Sprache und Empfindungen, sondern allgemeiner am Bezug jedes Handelns auf<br />

Handlungsformen bzw. -typen und die entsprechenden (generischen) Absichten.<br />

Es spezifiziert eine allgemeine These für den Fall sprachlichen Handelns und<br />

lässt sich deshalb zwanglos für beliebige Formen des Handelns verallgemeinern.<br />

In seinem Kern zielt es nicht auf Sprache und Bedeutung, sondern auf allgemeine<br />

Merkmale jedes, nicht nur des sprachlichen Handelns. Es zeigt, dass ein isoliertes<br />

Individuum keine Kriterien der Erfüllung seiner Intentionen hat, insbesondere<br />

taugt das Gedächtnis ohne „äußere“, gemeinschaftliche Erfolgskontrolle<br />

nicht dazu, einem Ausdruck oder Tun Bedeutung bzw. Sinn zuzuschreiben oder<br />

es als regelkonform zu bewerten, sowenig wie die private Absicht ohne den Bezug<br />

auf gemeinsame Handlungsformen eine bestimmte Absicht – und damit ü-<br />

berhaupt eine Absicht – sein kann. Ohne die Rückbindung an gemeinschaftliche<br />

Praxen und Institutionen, d.h. nur psychologisch und vom Individuum her gedacht<br />

(oder etwas salopper formuliert: nur der Einbildung nach), gibt es keine<br />

Erfolgskontrolle des Handelns und damit auch kein Handeln, denn dieses umfasst<br />

seinem Begriff nach den Handlungserfolg und damit auch die Möglichkeit<br />

84 In diesem Zusammenhang wird oft darauf verwiesen, dass Gründe keine guten Gründe sein müssten,<br />

um eine Handlung zu rationalisieren. Es genüge, dass der Akteur glaubt, seine Wünsche und<br />

Überzeugungen rationalisierten sein Handeln (s. etwa D. Davidson: Handlungen, Gründe und Ursachen,<br />

S. 19) Das mag im Einzelfall so sein, für ein allgemeines Handlungsmodell ist es aber untauglich.<br />

Denn dann wäre der Erfolg der Handlung, der zu ihrem Begriff gehört, bloß „eine Gnade<br />

des Schicksals“ (Wittgenstein, Tractatus 6.374). Darüber hinaus gilt, wieder in Analogie zum Privatsprachargument:<br />

Definiert man den Begriff des Grundes allein mittels subjektiver Überzeugung,<br />

dann gibt es weder gute noch schlechte Gründe. Denn es gibt dann mangels öffentlicher<br />

Kontrollmöglichkeiten auch keine Bewertungsmöglichkeiten, d.h. wieder: es wird nichts ausgeschlossen.<br />

Die Berufung auf meine bloß subjektive Überzeugung oder Präferenz ist deshalb nicht<br />

nur kein guter Grund, sondern gar kein Grund – eine Fehlberufung. Einen Grund anzugeben bedeutet<br />

vielmehr, sich auf schon allgemein Anerkanntes zu berufen, setzt also wieder gemeinsame<br />

Praxen und geteilte Urteile voraus. Abgesehen davon schließt das Privatsprachenargument schon<br />

die Voraussetzung dieser Argumentation aus, nämlich dass man i.S. einer Privatsprache private<br />

Wünsche und Überzeugungen haben könnte.


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 149<br />

des Scheiterns. Die private Tagebucheintragung kann diese Erfolgskontrolle so<br />

wenig leisten, wie die Festlegung auf eine private Absicht. Sie ist als Handlung<br />

zwecklos, und zwar nicht, weil dem Tagebuchschreiber nicht irgend ein subjektiver<br />

Handlungssinn dabei „vorschweben“ würde, sondern weil die Erfüllungskriterien<br />

von Handlungen nicht privat festgelegt und kontrolliert werden können. Im<br />

Falle der Handlung ist die Schwierigkeit, zu erklären, ob und woher ich als Bündel<br />

von (ggf. unkontrollierbar wechselnden) Präferenzen und Überzeugungen<br />

wissen kann, wann meine Präferenzen erfüllt sind. Das gilt eben auch, als besonderer<br />

Fall, von elementaren Urteils- und Aussagehandlungen, etwa den E-<br />

Eintragungen beim Vorkommen von E-Empfindungen in Wittgensteins Beispiel.<br />

Jede Handlung setzt solche Erfüllungsbedingungen und ein Mindestmaß an (potentiell<br />

öffentlicher) Erfolgskontrolle voraus, die privatim, d.h. unter Bezug auf<br />

individuelle Bewusstseinszustände als Wesenskern von Handlungen, eben nicht<br />

zu haben sind. So wie der individuelle Sprecher des Rückhaltes in einer Sprachgemeinschaft<br />

bedarf, braucht der individuelle Akteur den einer kollektiven Praxis<br />

und der gemeinsamen Erfolgskontrolle, den Bezug auf Handlungs- bzw. Praxisformen<br />

(als System von Handlungsformen und deren Schemata). Wer eine<br />

Person als Handelnden beschreibt, ihr Tun als richtig oder falsch, als angemessen<br />

oder unangemessen, als geglückt oder misslungen, bezieht sich daher, mehr oder<br />

weniger vermittelt, notwendig auf kollektive Praxen und Institutionen, in denen<br />

die entsprechenden Handlungsformen und deren Normen und Regeln verankert<br />

sind. Erst in diesem Rahmen machen die Selbstbeschreibungen des Individuums<br />

einen Unterschied, und erst in diesem Rahmen ist es überhaupt möglich, eine<br />

Absicht zu bilden, d.h. sich auf mögliche Handlungen festzulegen. Ohne den Bezug<br />

auf solche Handlungs- und Praxisformen und die öffentlichen Formen ihrer<br />

Normierung und Kontrolle ist die Rede vom subjektiven Handlungssinn so unverständlich,<br />

wie die E-Eintragungen ohne ein zugehöriges Sprachspiel. 85<br />

Der Sinn von Handlungen und das Handlungsverstehen, und unter der Voraussetzung,<br />

dass Sprechen Handeln ist, auch die Bedeutung von Äußerungen und<br />

das kommunikative Verstehen, generell die Begriffe des Geistes, müssen daher in<br />

normativen Begriffen der Teilnahme an gemeinschaftlichen Praxen expliziert<br />

werden. Das hat Konsequenzen. Etwa kann die Fremd- und Selbstzuschreibung<br />

85 Eine häufige Fehldeutung des Argumentes ist die Behauptung, es liefe darauf hinaus, einer allein<br />

könne weder sinnvoll sprechen noch handeln. Für den Fall der konkreten Einzelhandlung ist dies<br />

offensichtlicher Unsinn, allerdings der Deutung, nicht des Argumentes. Denn dieses besagt als präsuppositionslogisches<br />

Argument nur, dass individuelle Akte und intentionale Gehalte nur unter Bezug<br />

auf generische Handlungen und deren generische Zwecke bzw. als deren Aktualisierung verständlich<br />

gemacht werden können. In einem anderen, auf den Begriff der Absicht und der Handlung<br />

bezogenen Sinne besagt das Argument allerdings genau das: Es ist nicht möglich, dass einer<br />

nur einmal gehandelt oder eine Absicht gefasst hat, eben weil Handlungen und Absichten (im Unterschied<br />

zu bloßem Verhaltungen und Begierden) nur als Teil kollektiver Praxen möglich sind. (S.<br />

auch PU 199: „Es kann nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein. Es kann<br />

nicht ein einziges Mal nur eine Mitteilung gemacht, ein Befehl gegeben, oder verstanden worden<br />

sein, etc. – Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie<br />

spielen sind Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen).“)


150<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

von Absichten und Überzeugungen nicht als Konstatierung geistiger Zustände<br />

oder Vorgänge aufgefasst werden. Denn sie ist nicht monologisch, sondern „dialogisch“<br />

verfasst, 86 hängt also von der Möglichkeit kommunikativen Verstehens<br />

und damit von entsprechenden öffentlichen, v.a. sprachlichen Artikulationsmöglichkeiten<br />

ab. (Ob eine Handlung geglückt ist, hängt nicht davon ab, dass der Akteur<br />

glaubt, sie sei geglückt, sondern von der potentiell öffentlichen Bewertung<br />

als Aktualisierung einer bestimmten Handlungsform, der entsprechend dann auch<br />

Absichten und Überzeugungen zugeschrieben, und als Kompetenz ihrer Aktualisierung,<br />

auch „gehabt“ werden.) Die Frage nach dem subjektiven Handlungssinn,<br />

danach ob und welche Überzeugungen oder Absichten einer hat oder nicht<br />

hat, taugt folglich nicht zur Basisfrage einer Handlungstheorie – das Privatsprachenargument<br />

zeigt, dass der Bezug auf ein (impersonales) Wir, auf gemeinschaftliche<br />

Praxisformen und Institutionen für das Haben von Absichten konstitutiv<br />

ist. Der wesentliche Bezugsrahmen der Rede von Handlungen, Absichten<br />

und Überzeugungen ist deshalb nicht das monadische Individuum und sein Bewusstsein,<br />

sondern das sozialisierte und akkulturierte Individuum und damit die<br />

Praxisformen der Gemeinschaft. Diese Verallgemeinerung des Privatsprachenargumentes<br />

nenne ich das Privathandlungsargument, es bezieht sich auf beliebige<br />

intentionale Gehalte, auf beliebige Denk- und Handlungsmöglichkeiten des<br />

Menschen, also das, was im Unterschied zu naturgesetzlichen Verläufen gewöhnlich<br />

der Sphäre des Geistes zugeordnet wird, und es zeigt, dass diese nicht primär<br />

als personale Kompetenzen oder dem Individuum „natürlich“ gegebene, wenngleich<br />

„kulturell überformte“ Vermögen, etwa des Wahrnehmens, des (vernünftigen)<br />

Urteilens, Sprechens und Wollens, zu konzipieren sind. 87<br />

86 Das schließt selbstverständlich nicht aus, dass das Individuum Entschlüsse fassen, sich auf Handlungen<br />

festlegen etc. kann. Aber: Es kann dies nur als kompetenter Teilnehmer gemeinsamer Praxen,<br />

d.h. als Person, die sich gemeinsame Handlungsformen (einschließlich ihrer Normen) angeeignet<br />

hat, welche den Gehalt möglicher Absichten bilden. Entsprechend ist auch der innere Monolog<br />

dialogisch verfasst, z.B. als Abwägung (potentiell) gemeinsam anerkannter Handlungsgründe<br />

(Soll ich dieses oder jenes tun? Was bin ich für ein Mensch, wenn ich das begehre?) oder als Wahl<br />

der im Lichte kollektiver Bewertungen richtigen Beschreibungen der eigenen Handlungen. (Wird<br />

das als Notwehr durchgehen? Werde ich als Gimpel dastehen? Verhindert mein Tun künftige Kooperationen,<br />

weil ich dann als Trittbrettfahrer gelte?) Der innere Monolog ist seinem Gehalt nach<br />

kein Monolog, sondern Selbstvergewisserung im Lichte allgemein geltender Normen, er ist Darstellung<br />

und Rechtfertigung möglichen Handelns vor einer im Laufe des Erwerbs von Handlungskompetenzen<br />

internalisierten Öffentlichkeit bzw. vor einem imaginären, potentiellen Publikum.<br />

87 Dies gilt analog auch für die Überlegung, normative Praxen wie die Sprachpraxis (und dann auch<br />

Begriffe wie Sprachgebrauch, Sprache, Bedeutung, propositionaler und intentionaler Gehalt etc.)<br />

auf das empirisch erfassbare Sanktionsverhalten der in einer Gruppe organisierten Individuen zurückzuführen<br />

(etwa in E. von Savignys Zum Begriff der Sprache oder auch in R. Brandoms Making<br />

it explicit). Dabei muss man, um zirkuläre Erklärungen zu vermeiden, von „privat“, d.h. unabhängig<br />

von den fraglichen Praxen, sanktionierenden Individuen ausgehen. Damit ergibt sich a-<br />

ber sofort das Problem, dass diese, weil sie nach Voraussetzung nicht normgebunden entscheiden<br />

(individuelle Normen sind nach dem Privatsprachenargument nicht möglich), rein dezisionistisch,<br />

nach kontingenten individuellen Präferenzen sanktionieren. Eine normative Praxis setzt aber geteilte<br />

normative Erwartungen voraus, und erst in diesem Rahmen ist es sinnvoll, überhaupt von<br />

Sanktionen, also von Reaktionen auf Regelverstöße im Unterschied zu bspw. intrinsisch aggressi-


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 151<br />

4.4 Einige Konsequenzen<br />

Damit ist auch der Geist-Welt-Dualismus hinfällig – es gibt nicht da die äußere<br />

Welt, hier das einsame Subjekt, welches der äußeren Welt nur durch individuelle<br />

kognitive Leistungen, etwa des Empfindens, Wahrnehmens, rationalen Schließens<br />

und Entscheidens verbunden ist. Vielmehr sind diese scheinbar individuellen<br />

Vorgänge und Vollzüge nur als Teil gemeinsam kontrollierter, diskursiver<br />

Praxen möglich. Der Dualismus von Geist und Welt verschwindet damit als prinzipielles<br />

Problem, weil uns die Welt nicht anders als im Rahmen gemeinsamer<br />

Sprach- und Praxisformen zugänglich ist, und die Frage nach einer Welt an sich,<br />

d.h. jenseits dieser Formen, unsinnig ist. 88 Die Fragestellung des Cartesianismus<br />

löst sich auf, wenn man einerseits Denken und Handeln nicht als bloße Manifestation<br />

oder Äußerung des bloß individuellen Geistes bzw. Bewusstseins versteht,<br />

sondern die individuelle Aneignung gemeinsamer und gemeinsam kontrollierter<br />

Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsformen als Wesenmerkmal und konstitutives<br />

Element jedes individuellen Bewusstseins auffasst, was die Auffassung<br />

geistiger Gehalte als intrinsische Zustände eines monadischen Bewusstseins ausschließt,<br />

und andererseits die Konstitution der Welt als Welt bestimmter Gegenstände<br />

(nicht an und für sich, sondern für uns) in gemeinsamen (Urteils)Praxen<br />

anerkennt, in denen Identifikations- und Individuationskriterien der Dinge festgelegt<br />

werden. In diesem Sinne ist die Welt nicht unabhängig vom Geist: Nicht<br />

in ihrer Existenz, aber in ihrer Bestimmtheit hängt sie von der Art und Weise ab,<br />

in der wir uns auf sie beziehen. (In diesem Sinne ist dann auch die Hegelsche<br />

Rede von der „Freiheit des Begriffs“ aufzufassen.) Das schließt die Eigengesetzlichkeit<br />

und Widerständigkeit der Welt nicht aus, im Gegenteil. Gerade wegen<br />

dieser haben Handlungs- und Denkformen sachlichen Gehalt: Sie fixieren und<br />

vem Verhalten, zu sprechen. Sofern nämlich Sanktionen Handlungen darstellen, können sie nicht<br />

unabhängig von entsprechenden gemeinsamen Praxis- und Handlungsformen und deren Normen<br />

verstanden werden. Andernfalls wäre es unsinnig, von berechtigten bzw. unberechtigten, von angemessenen<br />

oder unangemessenen und damit überhaupt von Sanktionen zu sprechen. Nur Sanktionen,<br />

welche in diesen Dimensionen bewertet werden können, zählen als Sanktion und können eine<br />

normative Praxis charakterisieren. Sie zeigen die Geltung von Normen an, konstituieren diese aber<br />

nicht. Deshalb dann kann eine Theorie normativer Praxen nicht um den Begriff individuellen<br />

Sanktionsverhaltens aufgebaut werden, sofern dieses nicht selbst schon als Handlung gemäß einer<br />

Praxisform aufgefasst wird. Die Idee, eine Theorie normativer Praxen aufgrund eines quasinatürlichen<br />

elementaren Sanktionsverhaltens aufbauen zu können, sitzt der Illusion auf, es gäbe so<br />

etwas wie Sanktionen aufgrund rein individueller Maßstäbe und Erwartungen. Ohne Bezug auf geteilte<br />

und gemeinsame kontrollierbare Regeln und Kriterien tragen sie zur Etablierung einer normativen<br />

Praxis so viel bei, wie die private ostensive Definition zur Konstitution von Bedeutungen.<br />

(Vgl. dazu auch <strong>Kannetzky</strong> 2003).<br />

88 Als empirisches Problem, etwa des Erwerbs oder der Wiederherstellung von Handlungskompetenzen<br />

einer Person, der individuellen Teilhabe am „Geist“, bleibt das Leib-Seele-Problem freilich bestehen,<br />

aber eben nicht als philosophisches des Verhältnisses von Geist und Welt. Psychologie,<br />

Hirnforschung und die „Kognitionswissenschaft“ untersuchen demnach notwendige Bedingungen<br />

individueller Kompetenzen, ihren Gehalt können sie dagegen nicht explizieren, sondern müssen<br />

ihn voraussetzen.


152<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

tradieren kollektive Problemlösungen und optimierte Verläufe des Umgangs mit<br />

der natürlichen und der sozialen Welt. 89 Und umgekehrt ist die Welt nichts anderes,<br />

als die Gesamtheit der Gegenstände möglicher Handlungen. Insofern ist der<br />

Geist a priori „welthaltig“ und unsere Welt nicht „geistlos“, die Unterscheidung<br />

von Geist und Welt ist keine absolute Unterscheidung, sondern eine innerhalb<br />

unserer Praxisformen.<br />

Im Tractatus schreibt Wittgenstein „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten<br />

die Grenzen meiner Welt“, und weiter, dass der Solipsismus das richtige meint<br />

(Tractatus 5.6). Ist Wittgenstein hier in die gleiche Falle getappt wie die von<br />

Descartes und Locke begründete philosophische Tradition? Im Lichte des Privatsprachenargumentes,<br />

d.h. der Unmöglichkeit einer Privatsprache, besagt dies<br />

nichts weiter, als dass individuelle Erfahrungen und Handlungen an gemeinschaftliche<br />

Praxisformen als deren Präsuppositionen gebunden sind. „Die Grenzen<br />

meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ heißt dann: „Meine Welt<br />

ist durch die Handlungs- und Praxisformen der (Sprach-)Gemeinschaft festgelegt,<br />

der ich angehöre.“ 90 Für mein Empfinden, Denken, Wollen und deren Weltbezüge<br />

bedeutet dies, dass sie, obwohl es individuelle Vorgänge sind, durch öffentliche<br />

Vorgänge und Institutionen, insbesondere sprachliche Repräsentationen,<br />

in ihren Gehalten bestimmt sind, denn wofür es keine Artikulationsmöglichkeiten<br />

und damit auch keine öffentliche Kontrolle gibt, das macht keinen Unterschied,<br />

es existiert nicht für das Denken und Handeln.<br />

Das Privatsprachenargument gibt damit auch einen methodischen Hinweis,<br />

wie das notorische Problem des Verstehens angegangen werden kann. Es legt eine<br />

radikale Blickwendung nahe. Denn die Frage des Verstehens wird unter cartesianisch-lockeschen<br />

<strong>Prämissen</strong> falsch gestellt: Man verstehe sich und die eigenen<br />

(Sprech-)Handlungen unmittelbar, weil man seine eigenen Überzeugungen und<br />

Absichten kenne. Die Überzeugungen und Absichten anderer kenne man aber<br />

nicht, jedenfalls nicht unmittelbar, also verstehe man ihre Handlungen nicht, jedenfalls<br />

nicht unmittelbar, sondern nur vermittels immer fallibler Interpretationen<br />

und Zuschreibungen. Hier hakt das (verallgemeinerte) Privatsprachenargument<br />

an zwei eng miteinander verbundenen Stellen ein: Erstens wird bezweifelt,<br />

dass man eine Handlung versteht, wenn man die subjektive Absicht des Akteurs<br />

kennt. Genauer: Zwecke und damit auch Absichten sind nur im Rahmen geteilter<br />

89 Vgl. dazu A. Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Teil I: Institutionen, S. 202 und passim. Gehlen<br />

spricht statt von Handlungs- und Praxisformen von Institutionen; hier werden Institutionen eher als<br />

deren Vergegenständlichung bzw. Verobjektivierungen aufgefasst.<br />

90 In gewisser Weise wird damit Kants Einsicht wiederholt, dass es jenseits unserer Anschauungsformen<br />

und Begriffe keine Realität „an sich“ gibt. Kants ‚Fehler‘ (oder der seiner Interpreten) ist,<br />

dass diese Anschauungs- und Urteilsformen nicht als gemeinsame und generische konzipiert sind,<br />

sondern als universelle (im Sinne der logischen Universalität, dass eine Eigenschaft auf beliebige<br />

Individuen des universellen Gegenstandsbereiches zutrifft oder nicht zutrifft). Der Unterschied ist,<br />

dass gemeinsame Formen in Anerkennungsprozessen etabliert werden, sie sind normativ. Aus der<br />

Perspektive des urteilenden Individuums erscheinen sie aber als universelle, quasi objektive Formen,<br />

schon aus dem Grund, dass sie als vorgegebene Formen erlernt und eingeübt werden müssen.


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 153<br />

Praxen überhaupt als mögliche Zwecke verständlich zu machen. Daraus folgt<br />

nun zweitens, dass man sich selbst unmittelbar, d.h. ohne den Bezug auf anderes,<br />

etwa Handlungs- und Praxisformen, nicht verstehen kann. Da Handlungs- und<br />

Praxisformen aber nicht nur die Möglichkeit von Absichten und Handlungen<br />

konstituieren, sondern als reale Formen unserer Praxen nur in und durch Handlungen<br />

und deren gemeinsame Erfolgskontrolle, Bewertung und Anerkennung<br />

existieren, folgt, dass man sich selbst nicht ohne den Bezug auf andere verstehen<br />

kann. Ich kann mich selbst und mein Tun nur dann verstehen, wenn ich andere<br />

und ihr Tun verstehe und vice versa. Es gibt daher keinen prinzipiellen Unterschied<br />

zwischen Selbst- und Fremdverstehen, der etwa per Analogieschluss oder<br />

Einfühlung überbrückt werden müsste, sondern beides setzt die Kompetenz zur<br />

Teilnahme an den Praxen einer Gemeinschaft (oder, wenn man so will, die Teilhabe<br />

am objektiven Geist) voraus. Erst aus dem Verständnis des Wir und seiner<br />

Strukturen kann man das Ich begreiflich machen – kein Individuum ohne Dividuum,<br />

das Wir ist eine konstitutive Voraussetzung der Möglichkeit der Ausbildung<br />

eines Ich. 91<br />

Die Sprache ist dabei nicht ein (ggf. durch andere Mittel ersetzbares) Instrument<br />

der Verständigung, sondern wir verstehen etwas oder uns im Medium der<br />

Sprache, weil Handlungs- und Praxisformen immer auch sprachlich verfasst sind<br />

und sprachlicher Repräsentationen bedürfen. 92 Dies gilt selbst im Falle gegenständlich-herstellender<br />

Handlungen (etwa des Handwerks), deren Sprachlichkeit<br />

zunächst bezweifelt werden könnte, weil sie anscheinend sprachunabhängigen,<br />

instrumentellen Erfolgskriterien unterliegen. Aber: Die Bewertung des Erfolgs<br />

liegt niemals in der Handlung selbst. Was als Erfolg zählt, was als richtig und<br />

was falsch, kunstgerecht oder stümperhaft, berechtigt oder unberechtigt, ange-<br />

91 Hier sind verschiedene Fragen und Frageebenen zu unterscheiden, die in der Diskussion gewöhnlich<br />

vermengt werden: Zum einen die nach dem Träger von Überzeugungen, Absichten etc. – und<br />

das ist das Individuum, zum anderen die Frage nach den Konstitutionsbedingungen und dem Gehalt<br />

dieser Überzeugungen, Absichten etc. – und zu deren Bestimmung muss auf gemeinsame<br />

Handlungs- und Praxisformen verwiesen werden. Das Privatsprachenargument richtet sich auf die<br />

zweite Frage, ohne sich weiter um eine Antwort auf die erste zu kümmern. Vermittelt werden beide<br />

Dimensionen durch Lehren und Lernen, welche notwendige Bestandteile menschlicher Praxen<br />

ausmachen. Weiterhin muss man zwischen Fragen der Geltung und der Genese unterscheiden, wobei<br />

die methodische Ordnung gebietet, zunächst die Strukturen dessen zu explizieren, dessen Entstehung<br />

erklärt werden soll. Dass es menschlichen Individuen sind, die Praxisformen in ihren<br />

Handlungen hervorbringen, spricht deshalb nicht dagegen, dass sowohl das Individuum als auch<br />

sein Tun nur vor dem Hintergrund gemeinschaftlicher Praxisformen verständlich gemacht werden<br />

können.<br />

92 Das schließt Deutungsspielräume und die Möglichkeit von Missverständnissen natürlich nicht aus.<br />

Von Missverständnissen kann aber nur dann sinnvoll gesprochen werden, wenn man die Möglichkeit<br />

des Verstehens und damit die Möglichkeit, Missverständnisse zu beheben, als Normalfall unterstellt.<br />

Dass Missverständnisse prinzipiell lokal und korrigierbar sind, ist daher eine begriffliche<br />

Feststellung. Es ist deshalb unsinnig, Sprache und kommunikatives Verstehen von der Möglichkeit<br />

prinzipiellen Missverständnisses her konzipieren zu wollen, wie dies die cartesianisch-lockesche<br />

Tradition letztlich versucht. Auf der Grundlage bloß zufälligen Verstehens kann von Sprache nicht<br />

die Rede sein.


154<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

messen oder unangemessen, kurz: der Korpus der Zwecke, Erfüllungsbedingungen<br />

und Normen der Handlungsform, kann nur sprachlich (wenn auch nicht in<br />

jedem einzelnen Fall als explizites Regelwissen) repräsentiert werden, denn es<br />

hängt von den realen Bewertungen des jeweiligen Tuns als diese oder jene bestimmte<br />

Handlung, den entsprechenden Stellungnahmen und normativen Konsequenzen<br />

ab. Damit hängt zusammen, dass Verstehen keine primär epistemische<br />

Frage der Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens bestimmter geistiger<br />

Zustände ist, sondern eine praktische Frage der letztlich gemeinsamen, kommunikativen<br />

Festlegung und Anerkennung eines Tuns als Handlung eines bestimmten<br />

Typs. 93 Präsident werde ich nicht, oder nur in meiner Einbildung, wenn ich<br />

mir eine bunte Schärpe um den Bauch binde, den Eid spreche etc.; zum Versprechen<br />

gehört nicht nur das Versprechengeben, sondern auch die Annahme des<br />

Versprechens durch den Adressaten u.a.<br />

Vor diesem Hintergrund kehrt sich das gesamte Bild des intentionalen Geschehens<br />

um: Die Privatheit geistiger Zustände erweist sich als Mythos. Sie ist<br />

nicht der „Standardfall“, sondern bezieht sich auf Beispielfälle von Personen, die<br />

an bestimmten fundamentalen Praxen gerade nicht teilnehmen und daher nicht<br />

unter deren Rationalitätsstandards fallen. Daher sind reale Beispiele für die „echte“<br />

Privatheit von Intentionen im Grunde nur als (relativ zu unseren Praxen) „pathologische“<br />

Fälle möglich, etwa als „idealtypischer“ Autismus oder rein affektives<br />

Verhalten wie im Wutausbruch etc., also als Modi des Verhaltens, die sich<br />

unseren „Gepflogenheiten“ und deren interner Rationalität entziehen. Wo sie dies<br />

nicht tun, sind uns die geistigen Zustände anderer nicht nur prinzipiell zugänglich,<br />

sondern es kann erst unter dieser Bedingung überhaupt von Absichten gesprochen<br />

werden. (Im Falle des nichtkalkulierten Wutausbruchs z.B. sprechen<br />

nämlich weder wir noch der Wüterich von einer absichtlichen Handlung.) Im<br />

Lichte des Privatsprachenargumentes erscheint die Möglichkeit skeptischer und<br />

dann auch solipsistischer Folgerungen mit Blick auf die Möglichkeit des Verstehens<br />

anderer daher als negatives Adäquatheitskriterium für Theorien des Geistes,<br />

des Verstehens, der Kommunikation und des individuellen wie des kollektiven<br />

Handelns: Dass eine Theorie skeptische, insbesondere aber solipsistische Konsequenzen<br />

als Normalfolgerungen zulässt, zeigt, dass sie dem Privatsprachenargument<br />

und seiner Verallgemeinerung als Privathandlungsargument nicht gerecht<br />

wird.<br />

Das Privatsprachenargument benennt damit ex negativo die Bedingungen<br />

sinnvoller Rede über „den Geist“, d.h. über Wahrnehmen und Handeln, Sprechen<br />

und Denken, über Sinn und Bedeutung, Intention und Richtigkeit, nämlich den<br />

Bezug auf geteilte Handlungs- und Praxisformen. Was eine Handlung ist, versteht<br />

man erst, wenn man das Handeln in der Gemeinschaft und seine Verobjek-<br />

93 Auch dies ein Kantscher Gedanke: Wir verfügen da über (apodiktisches) Wissen, wo wir „Gesetzgeber“<br />

sind. – Wir verstehen intentionales Geschehen, wo unsere Handlungs- und Praxisformen,<br />

unsere Kompetenzen und Festlegungen für dieses Geschehen in seiner normativen Formbestimmtheit<br />

konstitutiv sind.


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 155<br />

tivierungen in gemeinsamen Praxisformen und Institutionen verstanden hat,<br />

wenn man die Gestalten des objektiven Geistes qua Gesamtheit der menschlichen<br />

Denk- und Handlungsmöglichkeiten als Bedingung der Möglichkeit individuellen<br />

Denkens, Beabsichtigens und Handelns begreift. Es bleibt dabei richtig,<br />

dass man Handlungen nur versteht, wenn man ihren geistigen Aspekt, ihre Intentionalität<br />

versteht, oder wie man mit Kambartel sagen könnte, wenn man sie als<br />

Aktualisierungen von Handlungstypen auffasst. 94 Aber das bedeutet gerade nicht,<br />

genauere Kenntnis der Zustände des individuellen Bewusstseins zu erlangen.<br />

Kurz: Das Privatsprachenargument läuft darauf hinaus, die Psychologisierung<br />

des Geistes zum individuellen Bewusstsein und damit auch den methodologischen<br />

Individualismus als allein gültige methodische Orientierung in den Geistes-<br />

und Sozialwissenschaften zurückzunehmen Denn die Psyche bleibt ohne den<br />

Hintergrund überindividueller Formen des Denkens und Handelns unverständlich.<br />

Sofern man über die Kritik irreführender Redeweisen und Problemstellungen,<br />

wie sie oben diskutiert worden sind, hinaus will, ist eine Art „Platonismus“ der<br />

kollektiven Praxisformen und Institutionen (bzw. der Sprachspiele) mit dem Privatsprachenargument<br />

nicht nur vereinbar, sondern dessen notwendige Ergänzung.<br />

Das Problem eines vernünftigen „Platonismus“ ist dabei nicht die Annahme<br />

von Praxisformen u.ä. „noumenaler“, bloß intelligibler Gegenstände – dieser<br />

und ähnliche Begriffe sind, wie das Privatsprachenargument zeigt, unvermeidlich.<br />

Das Problem ist vielmehr, wie man dem Begriff der Form eine Deutung geben<br />

kann, die sich nicht in den Fallstricken einer „Ideenlehre“ verfängt. M.a.W.:<br />

Es stellt sich die Frage nach der besonderen Existenzweise von Formen als reale<br />

Formen unserer Praxis. Nach dem Gesagten dürfte klar sein, dass diese Formen<br />

nicht in Kategorien des individuellen Handelns (gemäß dem hier kritisierten<br />

Standardmodell) expliziert werden können, sondern diesem begrifflich vorausgehen,<br />

oder Kantisch gesprochen: die Bedingung der Möglichkeit desselben darstellen.<br />

Als solche Bedingungen verweisen Praxisformen auf die normative Komponente<br />

unserer Praxen qua Systeme von miteinander verbundenen Handlungstypen,<br />

denn es geht gewöhnlich nicht nur darum, Handlungen auszuführen, sondern<br />

dies richtig, „nach den Regeln der Kunst“, zu tun. Die Trennung von „etwas<br />

tun“ und „etwas richtig tun“ ist aber nur analytisch möglich, denn als Vollzug einer<br />

Handlung zählt nur deren weitgehend richtige Ausführung – gewöhnlich sind<br />

Handlungsverben Erfolgsverben. Deutlich wird dies, wo es explizite Standards<br />

und Regeln für Handlungen eines bestimmten Typs gibt: Handauflegen zählt gewöhnlich<br />

nicht als medizinische Behandlung, selbst wenn es vom Akteur als solche<br />

intendiert ist und selbst wenn sich Heilungserfolge einstellen. Vor dem Startschuss<br />

oder in die falsche Richtung loszulaufen, zählt selbst bei Bestzeit nicht als<br />

Hundertmeterlauf. Die Identifikation einer Handlung als Aktualisierung eines<br />

94 Vgl. F. Kambartel: Autonomie, mit Kant betrachtet, S. 123ff.


156<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

Handlungstyps erfolgt über deren Bewertung als (normativ und sachlich) richtiger<br />

Vollzug. Sie beinhaltet deshalb immer Momente der gemeinsamen Anerkennung,<br />

und sie lässt praktische (normative) Schlüsse zu. Nun gibt es, wie das Privatsprachenargument<br />

zeigt, Kriterien von richtig und falsch nur in einer kollektiven<br />

Urteilspraxis. Die genannten Formen sind deshalb nicht i.S. einer besonderen<br />

Realität hinter den Phänomenen, etwa als fixe „platonische Ideen“, zu deuten,<br />

sondern als gemeinsamer Rahmen der Bewertung und Anerkennung von<br />

Handlungen – und dieser kann sich ändern, etwa indem „neue“ Fälle als akzeptable<br />

Instanzen einer Praxis anerkannt werden oder indem ehemals anerkannten<br />

Fällen dieser Status entzogen wird, oder indem abweichende normative Folgen<br />

zum Normalfall erklärt werden etc. Zur Praxis gehört deshalb immer auch eine<br />

Urteilspraxis, ein Korpus der Anwendung und Anerkennung von Kriterien der<br />

Bewertung der Angemessenheit und Richtigkeit von Handlungen. Diese Kriterien<br />

müssen nicht notwendig als explizite Regeln vorliegen (wie beim Schachspiel),<br />

meist genügt eine Reihe von allgemein anerkannten Beispielen, Gegenbeispielen<br />

und Ausnahmen. Insofern existieren Praxisformen als generische in<br />

einer Vielzahl von Einzelhandlungen und in den entsprechenden Urteilen und<br />

Bewertungen. Diese Reflexionsebene muss wiederum nicht explizit sein, z.B. als<br />

Lob oder Tadel, sondern kann sich in passenden Anschlusshandlungen zeigen.<br />

(Im einfachsten Falle etwa in der Fortsetzung einer Kooperation oder im Ausbleiben<br />

von Widerspruch.)<br />

Aus dem Bezug auf gemeinsame Urteile und Praxisformen ergibt sich nun<br />

eine Besonderheit intentionaler Rede bzw. der Rede über geistige Phänomene:<br />

Diese ist immer auch normativ, sie verändert den Status der Personen, deren Äußerungen<br />

und Handlungen zur Debatte stehen, in ihren sozialen Beziehungen. In<br />

gewisser Weise verkehrt sich deshalb das Verhältnis von deskriptiver und präskriptiver<br />

Rede, wie es vom cartesianisch-lockeschen Programm unterstellt<br />

wird. 95 Denn das Urteil, eine Person habe etwas empfunden, gemeint, beabsichtigt<br />

oder verstanden, kann nicht als Konstatierung geistiger Zustände oder Akte<br />

des Akteurs behandelt werden, d.h. nicht als Behauptung, deren Wahrheitsbedingungen<br />

objektiv, d.h. unabhängig von jeder möglichen subjektiven Perspektive,<br />

Bewertung, Zuschreibung oder Anerkennung, festliegen. Das scheint dem Privatsprachenargument<br />

zu widersprechen. Ging es nicht gerade darum, dass subjektive<br />

Bewertungen gar nichts festlegen können? Nein. Denn das Privatsprachenargument<br />

besagt nur etwas über private und in diesem Sinne subjektive Urteile eines<br />

im relevanten Sinne isolierten Individuums. Hier ist aber die Rede von den<br />

gemeinsamen Kriterien, Bewertungen und Anerkennungen der Teilnehmer einer<br />

95 Man könnte auch sagen, dass die deskriptive oder konstative Redeweise eine besondere Praxis mit<br />

besonderen Normen bildet. Entsprechend ist der Begriff der Wahrheit normativ aufzufassen. Denn<br />

er ist an bestimmte, in einer Gemeinschaft allgemein anerkannte Begründungs- bzw. Rechtfertigungsverfahren<br />

für Behauptungen, also an eine besondere Praxis, etwa der Wissenschaften, gebunden,<br />

die auf Objektivität, d.h. auf Invarianz der Behauptungen gegenüber je spezifischen Perspektiven<br />

zielen. Ohne Bezug auf diese Verfahren ist es unsinnig, Wahrheitsansprüche zu stellen.


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 157<br />

Praxis und deren kommunikativer Konvergenz und Veränderung, und diese sind<br />

notwendig an die Perspektive der Teilnehmer dieser Praxis gebunden.<br />

Die Alternative, dass jemand sich entweder im geistigen Zustand G befindet<br />

oder nicht befindet, die Intention I hat oder nicht hat, ist daher eine falsche Alternative.<br />

Denn bereits die Fragestellung präsupponiert, es gäbe hier fixe Kriterien<br />

der perspektiven- und wertungsunabhängigen Zuschreibung von geistigen Zuständen<br />

sowie dass Handlungen durch vorab fixierte Intentionen determiniert<br />

sind, mithin dass jeder Äußerung ein solcher geistiger Zustand logisch (und dann<br />

auch zeitlich) vorhergeht.<br />

Das Privatsprachenargument und seine Verallgemeinerung für Handlungen<br />

hat nun gezeigt, dass diese Annahme in Widersprüche führt. Heißt das, dass das<br />

Geistige deshalb prinzipiell unerkannt bleiben muss? Dass wir es im Falle des<br />

Seelischen mit einer Anwendung der Quineschen Unbestimmtheitsthese zu tun<br />

haben 96 , so dass Aussagen über die Absichten anderer, über das was sie glauben,<br />

lieben, fürchten etc. immer den Status von erklärenden Hypothesen aufgrund des<br />

sichtbaren Verhaltens haben, allerdings von Hypothesen, die nicht widerlegbar<br />

sind, weil uns der Blick in die Seele verwehrt ist? Hier wiederholt sich ein<br />

Grundmuster des Theoretisierens in den Bahnen naturwissenschaftlicher Erkenntnis:<br />

Beliebige Sätze werden als Konstatierungen gedeutet, Sätze, die intentionales<br />

Vokabular verwenden, entsprechend als Sätze über geistige Zustände,<br />

die, weil der Blick in die Seele nicht möglich ist, immer unsicher und unscharf<br />

sind.<br />

Damit wird der Status intentionaler Rede aber missverstanden. Denn bei der<br />

Selbst- und Fremdzuschreibung von Absichten und Überzeugungen handelt es<br />

sich nicht um sachhaltige Feststellungen, sondern um normativ gehaltvolle Festlegungen,<br />

d.h. um die Bewertung von (Sprech)Handlungen als Handlungen eines<br />

bestimmten Typs, die bestimmten Normen und Regeln unterliegen, die bestimmte<br />

praktische Folgen, etwa Statusänderungen der Person, nach sich ziehen und zu<br />

denen typische generische Absichten und Überzeugungen gehören. Die Unschärfe<br />

und Unbestimmtheit solcher Zuschreibungen ist nun kein epistemischer Mangel<br />

(das wäre sie, wenn es um Konstatierungen ginge), sondern eine notwendige<br />

Eigenschaft solcher Festlegungen. Sie hat ihren Grund darin, dass die Bewertungen<br />

und Zuschreibungen, damit sie gelten, gemeinsam anerkannt werden müssen.<br />

Denn es handelt sich dabei um praktisches Wissen mit praktischen Konsequenzen.<br />

Sie sind deshalb, wenigstens potentiell, immer auch „Verhandlungssache“,<br />

was die Möglichkeit von Revisionen ein- und letztgültige Feststellungen<br />

ausschließt. Anders als bei objektiv sachhaltigen Konstatierungen („Auf dem<br />

Hof steht eine Buche“) verändern sich die Kriterien in der gemeinsamen Urteilsund<br />

Zuschreibungspraxis, etwa indem sie an „neue“ Fälle angepasst werden bzw.<br />

diese als Beispiele des entsprechenden Handlungstyps gelten. Die Gültigkeit einer<br />

Konstatierung bemisst sich an ihrem Gegenstand, unabhängig von ihren Fol-<br />

96 So argumentiert etwa Kripke (Wittgenstein über Regeln und Privatsprache, S. 76f.).


158<br />

Frank <strong>Kannetzky</strong><br />

gen und deren Bewertung; die Geltung einer Festlegung an der Akzeptanz der<br />

Kommunikationspartner (die freilich in bestimmte Praxen eingebunden sind),<br />

und zwar durchaus mit Blick auf die normativen Konsequenzen einer solchen<br />

Festlegung. Etwa wird eine Äußerung nicht dadurch zum Versprechen, dass sie<br />

mit der richtigen Absicht geäußert wird, sondern dadurch, dass sie im gegebenen<br />

Kontext die entsprechenden Konsequenzen hat und die beteiligten Personen auf<br />

bestimmte Handlungsweisen festlegt – die Rechte und Pflichten werden neu verteilt.<br />

Das ist zwar auch etwas, das konstatiert werden kann und in die Bewertung<br />

einer Äußerung als Versprechen und die Zuschreibung entsprechender seelischer<br />

Zustände eingeht – die Frage ihrer „privaten“ Existenz im Bewusstsein des Akteurs<br />

(oder als „Hirnzustand“) ist hierbei jedoch nebensächlich und für die Festlegung<br />

auf einen Handlungstyp irrelevant. 97 Das bedeutet nicht, dass Hirnzustände<br />

generell nicht von Interesse sind, möglicherweise kann einer aus hirnphysiologischen<br />

Ursachen z.B. nicht aufrichtig sein – an der kollektiven Bewertung ändert<br />

das zunächst nichts.<br />

Vor diesem Hintergrund sollte klar geworden sein, warum die als Basis der<br />

Naturalisierung des Geistes herausgestellte, gegenständlich gemeinte Frage, ob<br />

einer nun eine Überzeugung oder Absicht hat oder nicht hat, sich in einem seelischen<br />

Zustand befindet oder nicht befindet, schief gestellt ist. Sie unterstellt, dass<br />

die genaue Untersuchung des Individuums, etwa seiner neuronalen Aktivitäten,<br />

darüber Aufschluss geben könnte und setzt daher auf falsche Kriterien. 98 Auch<br />

die introspektive Untersuchung der Person durch sich selbst, die kraft der Autorität<br />

der ersten Person weiß, was sie will und glaubt, bringt nicht weiter. Denn Intentionen<br />

gibt es nur im Rahmen einer gemeinsamen, vom Individuum beherrschten<br />

Praxis der Festlegung auf Absichten und entsprechende Handlungen,<br />

der Selbst- und Fremdzuschreibung von Absichten und Ansichten und deren gemeinsamer<br />

Anerkennung. Nicht nur, dass wir Kriterien haben, ob andere heucheln<br />

oder nicht (der Begriff des Heuchelns wäre sonst leer) 99 , sondern es ist<br />

auch möglich, dass sich einer selbst missversteht und seine Absichten nicht<br />

kennt, etwa indem er glaubt, etwas unbedingt zu wollen, aber dann, wenn es gilt,<br />

einen Rückzieher macht, oder jemand meint, ein Versprechen zu geben, obwohl<br />

das, was er verspricht, dem Adressaten eine Drohung ist.<br />

Individuelle Intentionen und Überzeugungen bilden einen wichtigen Teil von<br />

Mustern absichtlicher (oder nicht unabsichtlicher), öffentlich nachvollziehbarer<br />

97 Wittgensteins Käferbeispiel (PU 293) ist hier instruktiv: Es läuft ja nicht darauf hinaus, dass niemand<br />

einen Käfer in der Schachtel hätte, sondern dass die „Käfer in den Schachteln“ jenseits gemeinsamer<br />

Vergleichs-, Bewertungs- und Kontrollmöglichkeiten irrelevant sind.<br />

98 Ryle spricht deshalb von einer Kategorienverwechslung; Putnam argumentiert mit Blick auf die I-<br />

dentifikation geistiger Zustände deshalb für einen externalistischen Standpunkt (Die Bedeutung<br />

von „‚Bedeutung“, S. 31ff.), allerdings deutet er die für die Bestimmung der intentionalen Gehalte<br />

relevanten externen Größen in erster Linie als ‚kausale‘ Größen, während hier von soziokulturellen<br />

die Rede ist.<br />

99 Vgl. auch Wittgenstein zum Lügen: „Das Lügen ist ein Sprachspiel, das gelernt sein will wie jedes<br />

andere.“ (PU 249)


<strong>Cartesianische</strong> <strong>Prämissen</strong> 159<br />

und kontrollierbarer Handlungen (qua Aktualisierung von Handlungstypen), und<br />

als solche lassen sie sich auch identifizieren, oder genauer: dem Akteur zuschreiben.<br />

Daher sind auch Überzeugungen und Absichten des Einzelnen prinzipiell<br />

öffentlich, denn sie gehören zum Verständnis typischer Handlungen im Rahmen<br />

geteilter Praxen. Ohne diesen Rahmen hätte die Rede von Absichten und Überzeugungen<br />

keine Funktion, sie wäre sinnlos, ein „funktionsloser Schalter“ (Wittgenstein).<br />

Nur in diesem Rahmen artikuliert sie einen Unterschied, und zwar erst<br />

in zweiter Linie einen epistemischen, der die Wahrheitsbewertung von Konstatierungen<br />

betrifft. Primär geht es um praktische Unterschiede des normativen Status,<br />

etwa welche Konsequenzen einer für sein Tun zu tragen hat, welche Verpflichtungen<br />

er übernimmt, wie sein Tun und dann er selbst moralisch, d.h. mit<br />

Blick auf mögliche Kooperationen, zu beurteilen ist, welche Anschlusshandlungen<br />

möglich sind etc. Und erst in diesem Rahmen gewinnen auch die Selbstzuschreibungen<br />

und die Festlegungen der Person auf Handlungspläne, also Absichten,<br />

die gewöhnlich als Selbstauskünfte daherkommen, Gewicht. Motive, Absichten<br />

und Überzeugungen müssen deshalb nicht notwendig vor der Handlung<br />

als deren Ursache festliegen, sondern werden oft erst im Nachhinein festgelegt,<br />

eben dann, wenn es um die Neuverteilung von Rechten, Pflichten und Folgelasten<br />

geht. Wie glaubwürdig solche Selbstauskünfte dann sind, hängt nicht zuletzt<br />

davon ab, wie der Akteur in der Vergangenheit gehandelt und welche Beschreibungen<br />

seines Tuns er gewählt hat, wie er gewohnheitsmäßig handelt, welche Interessen<br />

er aus der Sicht seines tatsächlichen Handelns vermutlich verfolgt hat<br />

und wie diese in das Gesamtbild seiner Person passen. Das Publikum, welches<br />

hier als Schiedsrichter fungiert, lässt sich nicht so leicht täuschen, jedenfalls<br />

nicht so leicht, wie man sich selbst täuschen kann. 100 Dass wir die Glaubwürdigkeit<br />

von Selbstauskünften mit Gründen in Frage stellen können, zeigt, dass die<br />

Autorität der ersten Person und damit die Selbstgewissheit und Unkorrigierbarkeit<br />

des unmittelbaren Selbstbewusstseins ein Mythos ist.<br />

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100 Die Rede davon, dass einer im Spiegel seiner Taten sich selbst erkennt, ist nur vor dem Hintergrund<br />

der Möglichkeit einer Differenz der öffentlichen und der privaten Bewertung des eigenen<br />

Tuns sinnvoll, d.h. vor dem Hintergrund der doppelten Möglichkeit, nur zu glauben, einen Handlungstyp<br />

zu aktualisieren und dies dann auch einzusehen (ein tragisches Beispiel ist König Ödipus).<br />

Vor dem Hintergrund individualistischer Unfehlbarkeitsannahmen, insbesondere der Individuation<br />

von Handlungen durch individuelle Absichten, ist sie dagegen unsinnig.


160<br />

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