Andrzej Stasiuk - Polish Book Institute
Andrzej Stasiuk - Polish Book Institute
Andrzej Stasiuk - Polish Book Institute
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Henryk Waniek Der Fall Hermes<br />
16<br />
ENGEL:<br />
Ich möchte Ihnen allen eine<br />
langatmige Einleitung ersparen<br />
und sie gleich darauf<br />
hinweisen, dass ich mit Ihnen über die Bibliothek sprechen<br />
werde. Und da es sich hierbei um eine vertrauliche Angelegenheit<br />
handelt, bitte ich sie, nichts von dem, was hier gesagt<br />
werden wird, nach außen zu tragen. Ich danke Ihnen<br />
für ihr Kommen und zähle auf Ihre Unterstützung. Über<br />
Bibliotheken weiß ich so gut wie nichts. Selbstverständlich<br />
meine ich damit nicht die Regale, Kataloge und die ganze<br />
tote Ordnung der Bestände. Wie das aussieht, kann ich mir<br />
schon selbst vorstellen. Von Ihnen möchte ich etwas über<br />
die Geheimnisse hören, die sonst nicht in die Öffentlichkeit<br />
dringen, über die nur Eingeweihten vorbehaltene, tiefere<br />
Philosophie dieser bibliografischen Schatzkammern. Und da<br />
Herr Graf bereits die Augen geöffnet haben, frage ich Sie einfach<br />
zuerst. Über die Bedeutung der Bibliothek müssen Sie<br />
mir nichts erzählen. Es ist allgemein bekannt, dass sich dort<br />
die weltweit größte Sammlung von Hymnen befand. Warum<br />
eigentlich gerade Hymnen?<br />
GRAF:<br />
Entschuldigen Sie, dass ich so undeutlich spreche. Die Kälte<br />
macht meinem Unterkiefer irgendwie zu schaffen. Sehen<br />
Sie nur, wie er zittert. Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen<br />
soll. Das alles ist schon so lange her und so verworren. Vor<br />
allem weil es mit so großen Kosten, Anstrengungen und Befürchtungen<br />
verbunden war. Eine Bibliothek bedeutet eine<br />
große Verantwortung. Des Nachts träumte ich von Feuersbrünsten;<br />
von Holzwürmern, monströsen Nagekäfern, die<br />
als Anobium punctatum bekannt sind und die sich durch<br />
die Seiten von Büchern fressen; von gemeinen Diebstählen<br />
der wertvollen Exemplare; von dreisten Fälschungen.<br />
Ich denke nur ungern daran zurück, aber für Sie, Herr Rat,<br />
mache ich selbstverständlich eine Ausnahme. Das Sammeln<br />
von Gesangbüchern – und anderen Büchern, über die ich<br />
später noch sprechen werde – ist eine Familientradition, die<br />
auf meinen Großvater zurückgeht. Heutzutage denkt jeder,<br />
Hymnen seien nichts weiter als Lieder für den gemeinen Pöbel.<br />
Vergessen sind die seligen Zeiten, als man in den Salons<br />
und den Gotteshäusern, auf den Exerzierplätzen und den<br />
Schlachtfeldern sang, im reinen Bestreben, die Herzen der<br />
Menschen und mit ihnen die ganze Welt zu läutern. Bereits<br />
zu Lebzeiten meines Vaters nahm das Unheil seinen Lauf.<br />
Der Kitsch griff um sich, eine Flut von Fälschungen raubte<br />
der Hymne ihre ursprüngliche Reinheit. Zuvor hätte niemand<br />
etwas Derartiges gewagt. Eine Hymne war etwas Heiliges!<br />
Ein römischer Soldat wäre lieber gestorben, als auch<br />
nur ein Wort seines Legionsliedes zu verändern. Der Gesang<br />
entschied über den Ausgang der Schlacht – über Sieg oder<br />
Niederlage. Zahlreiche entsprechende Hinweise finden sich<br />
bei Thukydides, noch mehr bei Sueton. Hätten die Klöster<br />
nicht damit begonnen, ihre Possen mit den Hymnen zu treiben,<br />
lägen nicht so viele von ihnen heute in Trümmern. Das<br />
Gleiche gilt für die so schmählich untergegangenen Staatswesen.<br />
Und je mehr Zeit verging, desto schlimmer wurde<br />
es. Die Hymne wurde in den Schmutz billiger Tanzbuden<br />
herabgezogen. Jeder erstbeste Zirkus brauchte seine Hymne.<br />
Und zur Zeit der Aufklärung erreichte der Skandal seinen<br />
Höhepunkt. Zu den traditionellen Melodien wurden jetzt<br />
moderne, rationalistische Texte verfasst. Irgendwo in Böhmen<br />
entstand eine geheime Hymenwerkstatt. Schleichhändler<br />
verkauften ihre Erzeugnisse zum halben Preis. Natürlich<br />
waren sie ohne jeden Wert. Die Leute sangen sich die Lunge<br />
aus dem Hals, doch es half nichts. Kein Heldenmut, keine<br />
göttliche Gnade und noch nicht einmal ein wenig Hoffnung.<br />
In dieser Welt sollte meine Bibliothek zu einer Arche Noah<br />
werden, einer Festung gegen den Ansturm der Barbarei.<br />
ENGEL:<br />
Und alle Falschheit sollte an Ihrer Bibliothek zerschellen!<br />
GRAF:<br />
Bereits in jungen Jahren betrachtete ich die Rettung der<br />
Hymne als meine Lebensaufgabe. Als ich mit zehn Jahren in<br />
die Schule kam, verfügte ich auf diesem Gebiet bereits über<br />
ein beträchtliches Wissen. Mit Entsetzen musste ich feststellen,<br />
dass alle meine Mitschüler und auch die meisten meiner<br />
Lehrer Gesangbücher von zweifelhaftem Wert verwendeten,<br />
sodass alles Lernen im Grunde für die Katz war. Als ich meinem<br />
Vater davon berichtete, nahm er mich aus der Schule<br />
und vertraute meine weitere Ausbildung dem Kaplan Mayer<br />
an. Dieser Mann besaß das außergewöhnliche Talent, in<br />
zurück zum Inhaltsverzeichnis