07.11.2013 Aufrufe

Anhörung zum Bleiberecht für langjährig geduldete ... - Pro Asyl

Anhörung zum Bleiberecht für langjährig geduldete ... - Pro Asyl

Anhörung zum Bleiberecht für langjährig geduldete ... - Pro Asyl

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

ISSN 1433-4488 H 43527<br />

Ausgabe 4/04<br />

Heft 102<br />

Oktober 2004<br />

FLÜCHTLINGSRAT<br />

Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen<br />

Dokumentation:<br />

<strong>Anhörung</strong> <strong>zum</strong> <strong>Bleiberecht</strong><br />

<strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong><br />

Flüchtlinge und <strong>Asyl</strong>suchende<br />

im Neuen Rathaus Hannover am 4. Juni 2004<br />

Es nehmen Stellung:<br />

Dr. Christian Schwarz-Schilling<br />

Marieluise Beck<br />

Dr. Rita Süssmuth<br />

Herbert Schmalstieg<br />

die Wohlfahrtsverbände<br />

die Kirchen<br />

der DGB<br />

viele Flüchtlinge<br />

Fachleute u.a.<br />

<strong>für</strong> ein interkulturelles Hannover<br />

gegen Rassismus, Fremdenhass<br />

und Ausländerfeindlichkeit<br />

ROMANE<br />

AGLONIPE<br />

Roma aus Niedersachsen e.V .<br />

Herausgegeben von<br />

und dem Niedersächsischen Flüchtlingsrat


Editorial<br />

Etwa 230.000 Menschen müssen in der Bundesrepublik Deutschland ohne jene rechtlichen und<br />

sozialen Mindeststandards leben, die eine bürgerliche Existenz begründen. Es geht um die sogenannten<br />

“Geduldeten“, welche als Flüchtlinge in dieses Land gekommen sind. Nach <strong>zum</strong> Teil<br />

<strong>langjährig</strong>en <strong>Asyl</strong>verfahren ist ihnen die Anerkennung verweigert worden. Wegen drohender geschlechtsspezifischer<br />

Verfolgung, ethnisch motivierter Bedrohung, Folter, Todesstrafe, Bürgerkriegen<br />

oder fehlender Lebensgrundlagen konnten sie jedoch lange Zeit weder ausreisen noch abgeschoben<br />

werden. Sie erhielten keinen Aufenthaltsstatus, sondern wurden lediglich „geduldet“<br />

und müssen ein Leben „im Wartestand“ führen. Die Betroffenen befinden sich in einem Zustand<br />

anhaltender existenzieller Unsicherheit, in der eine über die unmittelbare Alltagsbewältigung hinausführende<br />

Lebensplanung nicht möglich ist. Besonders schwerwiegende Folgen hat dies <strong>für</strong><br />

Kinder und Jugendliche, deren alterspezifische Entwicklung, zu der die Antizipation von Zukunftsentwürfen<br />

gehört, schwer gestört wird. In fast allen sozialen Bereichen des Lebens sind die<br />

Rechte der Geduldeten auf das Äußerste beschränkt. Eine derartige staatlicherseits betriebene Degradierung<br />

zu Menschen zweiter Klasse ist zutiefst inhuman. Viele der Betroffenen verzweifeln,<br />

werden krank, zerbrechen an dieser Situation.<br />

Die Hoffnung der Menschenrechtsorganisationen, Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Flüchtlingsinitiativen<br />

bestand darin, dass mit dem Zuwanderungsgesetz, das am 1.1.2005 in Kraft tritt, endlich<br />

auch eine humanitäre Lösung <strong>für</strong> dieses <strong>Pro</strong>blem gefunden wird. Die darauf gesetzten Hoffnungen<br />

sind leider bitter enttäuscht worden. Ein humanitäres <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong><br />

Flüchtlinge ist nicht vorgesehen. Die Forderung nach einer grundlegenden Verbesserung der<br />

sozialen und rechtlichen Situation der “Geduldeten” ist daher aktueller denje.<br />

Mit der <strong>Anhörung</strong> <strong>zum</strong> <strong>Bleiberecht</strong> am 4. Juni 2004 im Hannoverschen Rathaus wurde einmal<br />

mehr ein deutliches politisches Signal <strong>für</strong> das <strong>Bleiberecht</strong> gesetzt. Neben den Flüchtlingsverbänden<br />

haben sich die Kirchen und Wohlfahrtsverbände, der DGB sowie politische RepräsentantInnen<br />

wie die Integrationsbeauftragte der Deutschen Bundesregierung, Marieluise Beck, die Vorsitzende<br />

des Sachverständigenrates <strong>für</strong> Zuwanderung und Integration der Deutschen Bundesregierung,<br />

Dr. Rita Süssmuth, und der Oberbürgermeister von Hannover, Herbert Schmalstieg, eindeutig<br />

<strong>für</strong> das <strong>Bleiberecht</strong> positioniert. Der ehemalige Bundespostminister und Internationale<br />

Streitschlichter <strong>für</strong> Bosnien und Herzegovina, Dr. Christian Schwarz-Schilling, hat in einem engagiert<br />

vorgetragenen Beitrag deutlich gemacht, warum er die restriktive Haltung der Mehrheit seiner<br />

Parteifreunde von der CDU in diesen Fragen nicht teilt, sondern ein <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong><br />

Geduldete <strong>für</strong> unabdingbar politisch, humanitär und ethisch geboten hält. Neben den Beiträgen<br />

von Fachleuten sind darüber hinaus insbesondere etliche Betroffene selbst zu Wort gekommen.<br />

Die <strong>Anhörung</strong> <strong>zum</strong> <strong>Bleiberecht</strong> hat den Flüchtlingen ein „Gesicht gegeben“, wie der Journalist Jo<br />

Schrader formulierte. Ihre Ängste und Sorgen, aber auch Hoffnungen und Forderungen, standen<br />

auf dieser Veranstaltung im Mittelpunkt und haben mehr als alles andere der Forderung nach einem<br />

humanitären Bleibberecht unmittelbaren Nachdruck verliehen. „Ich hoffe, die Politiker<br />

hören dies und halten ihre Ohren offen“, hat einer der Redner, Samir Asanovic, der <strong>zum</strong> Zeitpunkt<br />

der <strong>Anhörung</strong> kurz vor einer erzwungenen Ausreise in das ehemalige Jugoslawien stand,<br />

formuliert. Dem ist wenig hinzuzufügen.<br />

Wir danken allen Beteiligten <strong>für</strong> ihren Einsatz und <strong>für</strong> ihre Beiträge. Die <strong>Anhörung</strong> ist auch deshalb<br />

ein Erfolg geworden, weil ein breites Bündnis aus Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaft sowie<br />

Migranten- und Flüchtlingsorganisationen die Durchführung der Veranstaltung organisatorisch<br />

und finanziell gewährleistet hat. Den Flüchtlingen gebührt Dank <strong>für</strong> ihren Mut, trotz der<br />

schwierigen Lebenssituation und der jahrelangen Einschüchterung durch die politischen und<br />

behördlichen Restriktionen die Bereitschaft aufzubringen, auf einer Großveranstaltung über die<br />

eigene Situation zu sprechen. Ein herzliches Dankeschön geht an den Hannoverschen Oberbürgermeister<br />

Herbert Schmalstieg <strong>für</strong> die Übernahme der Schirmherrschaft der <strong>Anhörung</strong>. Wir<br />

hoffen, dass die hier dokumentierte Veranstaltung den verdienten politischen Nachhall findet. Wir<br />

hoffen, „die Politiker hören dies und halten ihre Ohren offen“!<br />

Achim Beinsen (Niedersächsischer Flüchtlingsrat)<br />

2


IMPRESSUM<br />

Titel:<br />

FLÜCHTLINGSRAT<br />

Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik<br />

in Niedersachsen<br />

Ausgabe:<br />

4/04 – Heft 102, Oktober 2004<br />

Herausgeber, Verleger<br />

Redaktionsanschrift:<br />

Förderverein<br />

Niedersächsischer Flüchtlingsrat e.V.<br />

Langer Garten 23 B<br />

31137 Hildesheim<br />

Tel: 05121-15605<br />

Fax: 05121-31609<br />

redaktion@nds-fluerat.org<br />

http://www.nds-fluerat.org<br />

Förderverein PRO ASYL e.V.<br />

Postfach/P.B. 160624<br />

60069 Frankfurt/M.<br />

Tel.: +49 (0) 69 - 23 06 88<br />

Fax: +49 (0 )69 - 23 06 50<br />

proasyl@proasyl.de<br />

http://www.proasyl.de<br />

Spenden<br />

Postbank Hannover<br />

BLZ: 250 100 30<br />

Kto.-Nr.: 8402-306<br />

Verantwortlich und ViSdP<br />

Achim Beinsen<br />

c/o Geschäftsstelle<br />

Redaktion dieser Ausgabe:<br />

Achim Beinsen<br />

Redaktionelle Mitarbeit:<br />

Petra Heyde<br />

Fotoredaktion und Bildbearbeitung:<br />

Achim Beinsen<br />

Layout<br />

Justus Reuleaux<br />

Druck:<br />

Druckerei Lühmann<br />

Bockenem<br />

1-3 Tausend, Oktober 2004<br />

Erscheinungsweise:<br />

4 Hefte im Jahr<br />

auch als Doppelnummer<br />

Bezug:<br />

Bezug über den<br />

Niedersächsischen Flüchtlingsrat<br />

ISSN 1433-4488<br />

© Förderverein Nds. Flüchtlingsrat<br />

e.V.<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

Die <strong>Anhörung</strong> und die hier vorliegende<br />

Dokumentation wurden finanziert<br />

aus Mitteln der Landesarbeitsgemeinschaft<br />

der Freien Wohlfahrtspflege,<br />

des DGB Niedersachsen, des<br />

Niedersächsischen Flüchtlingsrats,<br />

der Arbeitsgemeinschaft<br />

MigrantInnen und Flüchtlinge in<br />

Niedersachsen, des Hannoverschen<br />

Netzwerks Flüchtlingshilfe und<br />

Menschenrechte, der Kirchengemeinde<br />

St. Adalbert, des Janusz-<br />

Korczak-Vereins sowie von PRO<br />

ASYL.<br />

Fotos:<br />

Gisela Penteker<br />

Andrea Kothen<br />

Petra Heyde<br />

Stefan Thom<br />

Achim Beinsen<br />

1. Petition <strong>für</strong> ein <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> in<br />

Niedersachsen lebende <strong>Asyl</strong>suchende und Flüchtlinge 5<br />

2. Begrüßung / Dr. Gisela Penteker, Vorstandsmitglied<br />

des Niedersächsischen Flüchtlingsrates 9<br />

3. Einleitung / Jo Schrader, O-Ton-Team 10<br />

4. Grußwort / Hannovers Oberbürgermeister Herbert<br />

Schmalstieg 11<br />

5. Die Position der Integrationsbeauftragten der<br />

Deutschen Bundesregierung / Marieluise Beck 14<br />

6. Die von Politik vergessenen - Die Position von <strong>Pro</strong><br />

<strong>Asyl</strong> <strong>zum</strong> <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong><br />

Flüchtlinge und <strong>Asyl</strong>bewerber / Bernd Mesovic 17<br />

7. Grußwort der Vorsitzenden des Sachverständigenrates<br />

<strong>für</strong> Zuwanderung und Integration der Deutschen<br />

Bundesregierung /<br />

<strong>Pro</strong>f. Dr. H.C. Mult. Rita Süssmuth 19<br />

8. Eine Familie aus Serbien-Montenegro zwischen<br />

Integrationsbemühungen und bürokratischen Hürden /<br />

Mirsan Kurpejevic 20<br />

9. "Zu 99 <strong>Pro</strong>zent integriert " / Alvaro Juchanian 22<br />

10. Wie Flüchtlinge ins soziale Abseits gedrängt werden /<br />

Yunga Malundama 23<br />

11. Die Position der katholischen Kirche in Niedersachsen<br />

<strong>zum</strong> <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong> Flüchtlinge /<br />

<strong>Pro</strong>bst Klaus Funke 24<br />

12. Die Position der Konföderation evangelischer Kirchen<br />

in Niedersachsen <strong>zum</strong> <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong><br />

<strong>geduldete</strong> Flüchtlinge /<br />

Dr. Christoph Dahling-Sander 25<br />

13. Als alleinreisender minderjähriger Flüchtlinge in<br />

Deutschland / Ardit Rexhaj 27<br />

14. <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> unbegleitete minderjährige Flüchtlinge /<br />

Anke Wagener 28<br />

15. Für ein <strong>Bleiberecht</strong> / Dr. Christian Schwarz-Schilling,<br />

Internationaler Streitschlichter <strong>für</strong> Bosnien und<br />

Herzegovina 30<br />

16. Verantwortung <strong>für</strong> die Opfer rassistischer Gewalt /<br />

Ulrike Grund, Mobile Beratung <strong>für</strong> Opfer<br />

rechtsextremer Gewalt in Sachsen-Anhalt 36<br />

17. "Diese Gesetze sind gefühllos!" / Samir Asanovic 37<br />

18. Das Schicksal der Familie Kisivu / Lothar Flachsbart 38<br />

19. "Warum dürfen wir nicht zuhause bleiben" /<br />

Suleyman Bulut 39<br />

Inhalt<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

3


Inhalt<br />

20. Das Leben im Ausreisezentrum "<strong>Pro</strong>jekt X" / Abdullah Birsen 40<br />

21. Vortrag über das Schicksal der Familie Begolli / Joachim Piontek, Dechant des<br />

Dekanats Hannover Nord der katholischen Kirche und Pfarrer von St. Adalbert 42<br />

22. Kosovo oder Bosnien ? Ein Ehepaar aus dem ehemaligen Jugoslawien hat Angst<br />

vor der Trennung der Familie / Ragip und Hatidja Ferizi 44<br />

23. Traumatisierte Flüchtlinge benötigen ein <strong>Bleiberecht</strong> / Stefica Ban, Psychotherapeutin 45<br />

24. "Wir wollen Leben, wie Menschen es verdient haben" / Sokol Tafa 46<br />

25. Vortrag zur Northeimer <strong>Bleiberecht</strong>sinitiative Libasoli / Samir Meri und Souheila<br />

Souleiman Trugq 47<br />

26. Die Position des DGB-Bezirk Niedersachsen-Bremen-Sachsen-Anhalt <strong>zum</strong><br />

<strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong> Flüchtlinge / Frank Ahrens 49<br />

27. "Es ist, als wenn man einen deutschen in ein fremdes Land schickt / Sehrat und<br />

Kezban Aldemir 50<br />

28. "Am Schlimmsten ist, dass unsere Familie getrennt werden soll" / Mergim Tahiri 52<br />

29. "Wer hier mit Skepsis Hergekommen ist, muss ohne Skepsis diese Veranstaltung<br />

verlassen" / Klaus-Peter Brechmann; Migrationspolitischer Sprecher der<br />

SPD-Fraktion im Niedersächsischen Landtag 53<br />

30. Fazit des Vorsitzenden der LAG der freien Wohlfahrtspflege /<br />

Dr. Hans-Jürgen Marcus 54<br />

31. Memorandum zur <strong>Asyl</strong>- und Flüchtlingspolitik der Niedersächsischen<br />

Landesregierung / LAG und Nds. Flüchtlingsrat 55<br />

32. Landtagsdebatte <strong>zum</strong> Thema “Für eine humanitäre Altfallregelung” vom 25. Juni 2004 62<br />

4


1. Petition <strong>für</strong> ein <strong>Bleiberecht</strong><br />

<strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> in Niedersachsen lebende<br />

<strong>Asyl</strong>suchende und Flüchtlinge<br />

Am 19. November 1999 beschloss die Ständige<br />

Konferenz der Innenminister und -Senatoren des<br />

Bundes und der Länder die letzte <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />

<strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> in der Bundesrepublik lebende<br />

Flüchtlinge und <strong>Asyl</strong>suchende. Durch den Beschluss<br />

sollten Flüchtlingsfamilien mit minderjährigen<br />

Kindern, die bis <strong>zum</strong> 30.06.1993 bzw. Alleinstehende,<br />

die bis <strong>zum</strong> 31.12.1989 in die Bundesrepublik<br />

geflüchtet waren, begünstigt werden. Da die Flüchtlinge<br />

mit dem Erhalt der Aufenthaltsbefugnis auch<br />

einen Anspruch auf Erteilung einer Arbeitsberechtigung<br />

erwarben, konnten die meisten der Flüchtlinge<br />

ihren Lebensunterhalt seit diesem Zeitpunkt ohne<br />

Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen bestreiten.<br />

Sie entlasteten somit die öffentlichen Kassen in<br />

erheblichem Umfang.<br />

Ausdrücklich ausgenommen von dieser Regelung<br />

waren jedoch die Flüchtlinge aus dem gesamten<br />

ehemaligen Jugoslawien. Wegen dieser Einschränkung<br />

konnten Flüchtlinge aus dem gesamten ehemaligen<br />

Jugoslawien, die die Stichtagsregelung<br />

ansonsten erfüllten und sogar vor diesen Daten in<br />

die Bundesrepublik geflüchtet waren, nicht von der<br />

Regelung profitieren. Von den 2000-2001 verabschiedeten<br />

Beschlüssen der Innenministerkonferenzen<br />

zur Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen konnten in<br />

Niedersachsen u.a. wegen der schwierigen Arbeitsmarktlage<br />

nur wenige Flüchtlinge profitieren.<br />

Unter den Flüchtlingen aus Jugoslawien, die seit<br />

Ende der 80er Jahre in Deutschland leben, befinden<br />

sich sehr viele Angehörige ethnischer Minderheiten.<br />

Sie wurden aus dem auseinander brechenden Jugoslawien<br />

gewaltsam vertrieben oder flohen vor Diskriminierungen<br />

und gegen sie gerichtete Gewalttätigkeiten.<br />

Ihre <strong>Asyl</strong>anträge wurden generell negativ<br />

entschieden. Sie wurden wegen der im gesamten<br />

Staatsgebiet Jugoslawiens beginnenden bürgerkriegsähnlichen<br />

Auseinandersetzungen seit Anfang<br />

der 1990er Jahre geduldet. Das mit der früheren<br />

jugoslawischen Regierung abgeschlossene Rückübernahmeabkommen<br />

wurde nicht in die Praxis<br />

umgesetzt.<br />

Neben den zahlreichen Kosovoalbanern, die<br />

Anfang der neunziger Jahre nach Deutschland<br />

Petition<br />

Die “Petition <strong>für</strong> ein <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> in Niedersachsen lebende <strong>Asyl</strong>suchende und Flüchtlinge”<br />

wurde dem Niedersächsischen Landtag am 10.05.2004 von der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien<br />

Wohlfahrtspflege in Niedersachsen, dem DGB, dem Niedersächsischen Flüchtlingsrat sowie anderen<br />

Organisationen zur Beschlussfass-ung vorgelegt.<br />

geflohen und hier mittlerweile heimisch geworden<br />

sind, leben auch viele Angehörige nichtalbanischer<br />

Bevölkerungsgruppen aus Kosovo,<br />

insbesondere Roma und Ashkali, in Deutschland.<br />

Die Angehörigen dieser Gruppen sind in<br />

Kosovo nach wie vor rassistischen Diskriminierungen<br />

ausgesetzt und massiv von Angriffen<br />

auf Leib und Leben bedroht. Diese Menschen<br />

benötigen eine sichere Lebensperspektive in<br />

Deutschland.<br />

Die Stichdaten der letzten <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />

(31.12.1989 <strong>für</strong> Alleinstehende bzw. 30. Juni 1993<br />

<strong>für</strong> Flüchtlingsfamilien) sind mittlerweile veraltet.<br />

Die Zahl der Krisenherde in der Welt, das Ausmaß<br />

von politischer Repression, ökologischen und ökonomischen<br />

Katastrophen sowie Bürgerkriegen hat<br />

auch in den neunziger Jahren nicht abgenommen,<br />

im Gegenteil. Auch in der letzten Dekade flohen<br />

Menschen aus zahlreichen Krisengebieten in die<br />

Bundesrepublik Deutschland und nach Niedersachsen.<br />

Zu den Hauptherkunftsländern dieser Flüchtlinge<br />

gehören u.a. Jugoslawien, Afghanistan, Angola,<br />

Kongo, Togo und Liberia. Auch die Situation im<br />

Nahen Osten trieb Menschen aus Irak, Libanon<br />

und Syrien in die Flucht.<br />

Derzeit verhandelt der Vermittlungsausschuss von<br />

Bundestag und Bundesrat über das geplante<br />

Zuwanderungsgesetz. Allerdings bietet dieses<br />

Gesetz noch keine Lösung <strong>für</strong> die <strong>langjährig</strong> hier<br />

lebenden Flüchtlinge. Denn eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />

ist bisher nicht vorgesehen. Die hohe Zahl<br />

<strong>langjährig</strong> hier lebender Flüchtlinge macht jedoch<br />

eine klare und generelle Lösung erforderlich.<br />

Die im Zuwanderungsgesetz vorgesehene Härtefallregelung<br />

kann eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung nicht<br />

ersetzen. In einem Gremium <strong>für</strong> ausländerrechtliche<br />

Härtefälle sind langwierige Prüfungen erforderlich.<br />

Daher kann eine Härtefallregelung nur in Einzelfällen<br />

hilfreich sein. Das derzeit gültige Ausländergesetz<br />

von 1990 enthält dagegen in § 100 die<br />

gesetzliche Möglichkeit <strong>für</strong> eine Übergangsregelung,<br />

die anlässlich seines Inkrafttretens Flüchtlingen mit<br />

einem <strong>langjährig</strong>em Aufenthalt ein allgemeines Bleiberrecht<br />

gewährte.<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

5


Petition<br />

Die meisten der <strong>langjährig</strong> hier lebenden Flüchtlinge<br />

sind sehr gut integriert. Für ihre hier geborenen<br />

bzw. aufgewachsenen Kinder ist Niedersachsen zur<br />

Heimat geworden. Sie besuchen hier die Schule,<br />

sprechen die deutsche Sprache besser als die Sprache<br />

ihrer Eltern und kennen die Heimat ihrer Eltern nur<br />

aus Erzählungen. Ihnen ist eine Rückkehr wegen<br />

der erfolgten Integration nicht mehr zu<strong>zum</strong>uten.<br />

Geduldete Flüchtlinge unterliegen in Niedersachsen<br />

einem faktischen Arbeitsverbot.<br />

Wegen des sogenannten Nachrangigkeitsprinzips<br />

erhalten sie auch bei Nachweis eines Arbeitsplatzes<br />

keine Arbeitserlaubnis. Jugendliche, die ein<br />

Lehrstellenangebot haben, können den Ausbildungsplatz<br />

nicht annehmen, da ihnen die Arbeitserlaubnis<br />

verweigert wird. Sie werden damit bewusst<br />

in den Bezug von öffentlichen Leistungen gedrängt,<br />

der sich wiederum nachteilig auf Möglichkeiten einer<br />

Aufenthaltsverfestigung auswirkt. Die jahrelange<br />

erzwungene Beschäftigungslosigkeit und die belastenden<br />

Lebensbedingungen, unter denen <strong>geduldete</strong><br />

Flüchtlinge und <strong>Asyl</strong>suchende und ihre Kinder ohne<br />

Aufenthaltsstatus über lange Jahre leben müssen,<br />

führen bei vielen zu Depressionen, Antriebslosigkeit,<br />

Resignation und Verlust des Selbstwertgefühls.<br />

Da dieser Zustand <strong>für</strong> viele Flüchtlinge bereits<br />

über Jahre anhält, wenden wir uns an den Petitionsausschuss<br />

des Niedersächsischen Landtages<br />

und bitten darum, die Landesregierung<br />

<strong>zum</strong> Handeln aufzufordern. Der Petitionsaus-<br />

6


Petition<br />

schuss möge der Landesregierung empfehlen,<br />

sich auf Bundesebene <strong>für</strong> eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />

<strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> hier lebende <strong>Asyl</strong>suchende<br />

und <strong>geduldete</strong> Flüchtlinge einzusetzen und einen<br />

entsprechenden Vorschlag in das derzeit anhängige<br />

Gesetzgebungsverfahren einzubringen.<br />

Wie frühere Erfahrungen zeigen, ist durch eine solche<br />

Regelung zu erwarten, dass die überwiegende<br />

Mehrheit der begünstigten Flüchtlinge in der Lage<br />

sein wird, ihre Lebenshaltungskosten selbst zu tragen.<br />

Darüber hinaus entlastet eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />

Behörden und Gerichte.<br />

Ohne eine baldige <strong>Bleiberecht</strong>sregelung müssen<br />

viele Flüchtlinge und ihre Kinder weiter in<br />

einer aufenthaltsrechtlichen Unsicherheit<br />

leben. Eine solche langfristige Perspektivlosigkeit,<br />

Unsicherheit und Angst führt in vielen<br />

Fällen zu sozialen, psychischen und gesundheitlichen<br />

Krisen.<br />

Aus einem Potenzial, das geflüchtete Menschen in<br />

vielfacher Hinsicht <strong>zum</strong> Nutzen der Allgemeinheit<br />

einbringen könnten, droht ein Potenzial zu werden,<br />

das durch verordnete Untätigkeit in die dauerhafte<br />

Passivität führen kann. Besonders die hervorragend<br />

integrierten Kinder der Flüchtlinge können einen<br />

positiven Beitrag <strong>für</strong> die Gesellschaft leisten.<br />

Im Rahmen einer <strong>Bleiberecht</strong>sregelung sollten daher<br />

mehrjährig <strong>geduldete</strong> Flüchtlinge, <strong>Asyl</strong>bewerber<br />

mit einem <strong>langjährig</strong>en <strong>Asyl</strong>verfahren sowie sonstige<br />

Ausreisepflichtige ein gesetzlich verankertes <strong>Bleiberecht</strong><br />

erhalten. Familien, deren Kinder bei der<br />

Einreise minderjährig waren oder in Deutschland<br />

geboren wurden, sollte nach einer kurzen Frist von<br />

wenigen Jahren ein <strong>Bleiberecht</strong> eingeräumt werden.<br />

Eine ähnliche Regelung muss <strong>für</strong> ältere, schwer<br />

kranke und behinderte Menschen gefunden werden.<br />

Für traumatisierte Menschen stellt eine gesicherte<br />

Lebensperspektive die Grundvoraussetzung <strong>für</strong> die<br />

Einsetzung eines Heilungsprozesses dar. Nur eine<br />

gesicherte Lebensperspektive schützt darüber hinaus<br />

vor Retraumatisierungen, deren Ursachen häufig<br />

in der Angst vor der Abschiebung und den, die<br />

prekäre Aufenthaltssituation begleitenden Lebensumständen,<br />

liegen. Daher sollte traumatisierten<br />

Menschen, die sich <strong>zum</strong> Zeitpunkt des Inkrafttretens<br />

der <strong>Bleiberecht</strong>sregelung in Deutschland aufhalten,<br />

sofort ein <strong>Bleiberecht</strong> erteilt werden. Auch<br />

<strong>für</strong> unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ist eine<br />

Lösung zu finden, die den speziellen Entwicklungsund<br />

Schutzbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen<br />

Rechnung trägt.<br />

Darüber hinaus sollen Menschen, die als Opfer rassistischer<br />

Angriffe in Deutschland traumatisiert<br />

oder erheblich verletzt sind, ein Aufenthaltsrecht erhalten.<br />

Dies kann den physischen und psychischen<br />

Heilungsprozess der Betroffenen unterstützen.<br />

Gleichzeitig positioniert sich der Staat gegen die anhaltenden<br />

rassistischen Attacken und signalisiert<br />

Tätern und Sympathisanten, dass er nicht bereit ist,<br />

der dahinterstehenden menschenverachtenden Logik<br />

der Einschüchterung und Vertreibung von Migranten<br />

zu folgen.<br />

Die Erteilung eines <strong>Bleiberecht</strong>s darf nicht von der<br />

Ausübung einer Arbeit bzw. dem Vorhandensein ei-<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

7


Petition<br />

ner Unterhaltssicherung abhängig gemacht werden.<br />

Dieser Zusammenhang ist insbesondere deshalb<br />

widersinnig, weil vielen Geduldeten der Zugang<br />

<strong>zum</strong> Arbeitsmarkt bekanntermaßen rechtlich bzw.<br />

faktisch verwehrt war. Eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung,<br />

die die Chance zu einer Arbeit zunächst eröffnet,<br />

anstatt sie vorauszusetzen, setzt als aktive Integrationspolitik<br />

Zeichen. Den Betroffenen soll bundesweit<br />

die Aufnahme jeder Arbeit ohne Beschränkungen<br />

ermöglicht werden. Auch selbstständige<br />

Erwerbstätigkeit ist entgegen der bisherigen Praxis<br />

zuzulassen. Maßnahmen der Arbeits-, Sprach- und<br />

Ausbildungsförderung sind zu gewährleisten.<br />

Ein fehlender Pass sowie ein zeitweilig illegaler Aufenthalt<br />

darf kein Ausschlussgrund sein.<br />

Das Aufenthaltsrecht soll in ein Niederlassungsrecht<br />

münden, wenn der Lebensunterhalt gesichert<br />

ist. Weitere Voraussetzungen müssen nicht vorliegen.<br />

Bei Alleinerziehenden, Familien mit kleinen<br />

Kindern, unbegleiteten Kindern und Jugendlichen,<br />

Auszubildenden, alten Menschen, Arbeitsunfähigen,<br />

Kranken und Behinderten darf ein eventueller<br />

Sozialhilfebezug der Verfestigung des Aufenthaltes<br />

nicht entgegenstehen.<br />

Das Aufenthaltsrecht sollte eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen und deswegen<br />

Folgendes beinhalten:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

eine unbeschränkte Arbeits- und Ausbildungserlaubnis<br />

das Recht auf Familiennachzug<br />

keinerlei Wohnsitz- oder Aufenthaltsbeschränkungen<br />

Anspruch auf Kinder- und Erziehungsgeld und sonstige Familienleistungen<br />

Anspruch auf Sprachförderung, Ausbildung und Arbeitsförderung<br />

im Bedarfsfall Anspruch auf Leistungen nach dem BSHG<br />

Die <strong>Bleiberecht</strong>sregelung sollte uneingeschränkt <strong>für</strong> alle Herkunftsländer von Flüchtlingen gelten.<br />

8


Gisela Penteker (Niedersächsischer Flüchtlingsrat) - Begrüßung<br />

Wir bitten den Petitionsausschuss des Landtags, sich da<strong>für</strong> einzusetzen, dass bis <strong>zum</strong> Erlass<br />

einer <strong>Bleiberecht</strong>sregelung keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegen potentiell<br />

anspruchsberechtigte Flüchtlinge ergriffen werden. Ihnen soll bis <strong>zum</strong> Inkrafttreten einer <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />

eine Duldung oder, wenn möglich, Aufenthaltsbefugnis erteilt werden. Die<br />

geltenden ausländerrechtlichen Bestimmungen sollten ansonsten großzügig umgesetzt werden.<br />

Dr. Hans-Jürgen Marcus<br />

Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in Niedersachsen (Zusammenschluss<br />

von Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonisches Werk, Jüdische Wohlfahrt,<br />

Paritätischer Wohlfahrtverband)<br />

Die Petition wird mitgetragen von:<br />

AWO Niedersachsen, Caritas in Niedersachsen, AMFN, Deutscher Gewerkschaftsbund Niedersachsen,<br />

Diakonisches Werk der ev. Luth. Landeskirche Hannover e.V., Förderverein Niedersächsischer Flüchtlingsrat,<br />

Niedersächsischer Integrationsrat, Jüdische Wohlfahrt, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband<br />

Niedersachsen, Deutsches Rotes Kreuz Niedersachsen, Romane Aglonipe - Roma in Niedersachsen<br />

e.V. Netzwerk Flüchtlingshilfe und Menschenrechte e.V.<br />

--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------<br />

Inzwischen haben sich Regierung und Opposition auf das neue Zuwanderungsgesetz geeinigt. Eine<br />

<strong>Bleiberecht</strong>sregelung ist im Kontext der ausländerrechtlichen Neuregelugen nicht vorgesehen. In einer<br />

der nächsten Ausgaben diese Zeitschrift werden wir uns näher mit dem Zuwanderungsgesetz und dessen<br />

Implikationen <strong>für</strong> den Aufenthaltsstatus von <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong>n Flüchtlingen und <strong>Asyl</strong>bewerbern<br />

beschäftigen.<br />

Die Redaktion<br />

2. Begrüßung<br />

Dr. Gisela Penteker,<br />

Vorstandsmitglied des Niedersächsischen Flüchtlingsrates<br />

Sehr geehrte Damen und<br />

Herren,<br />

im Namen der Veranstalter<br />

möchte ich Sie herzlich zu unserer<br />

<strong>Anhörung</strong> <strong>zum</strong> <strong>Bleiberecht</strong><br />

<strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong><br />

Flüchtlinge und <strong>Asyl</strong>bewerber<br />

willkommen heißen.<br />

Zunächst sollen die Mitveranstalter<br />

noch einmal genannt<br />

werden: Es sind:<br />

Arbeiterwohlfahrt” in Niedersachsen,<br />

Caritas” in Niedersachsen,<br />

Arbeitsgemeinschaft Migrantinnen und Flüchtlinge<br />

in Niedersachsen,<br />

Deutscher Gewerkschaftsbund,<br />

Diakonisches Werk der evangelisch-lutherischen<br />

Landeskirche Hannover,<br />

Jüdische Wohlfahrt,<br />

Deutscher Paritätische Wohlfahrtsverband,<br />

Deutsches Rote Kreuz.<br />

Romane Aglonipe” - der Verein der Roma,<br />

Netzwerk Flüchtlingshilfe” und Menschenrechte<br />

e.V.,<br />

Republikanische Anwältinnen- und Anwaltsverein”<br />

sowie<br />

Runder Tisch <strong>für</strong> ein interkulturelles Hannover<br />

gegen Rassismus, Fremdenhass und Ausländerfeindlichkeit,<br />

Niedersächsischer Flüchtlingsrat.<br />

Ich freue mich, dass so viele Betroffene die Bereitschaft<br />

und den Mut aufgebracht haben, heute hier<br />

vor einem so großen Kreis über ihre Situation zu<br />

sprechen. Einer musste dieses Recht sogar vor Gericht<br />

einklagen.<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

9


Jo Schradert - Einleitung<br />

Ich bedanke mich im Namen der Veranstalter bei<br />

den engagierten Fachleuten, die hier sprechen werden<br />

und auch bei den ehrenamtlichen Unterstützern<br />

der Flüchtlinge, ohne deren Engagement diese Veranstaltung<br />

in dieser Form nicht möglich gewesen<br />

wäre. Und einen möchte ich herausheben. Wir bedanken<br />

uns bei Achim Beinsen, der mit Unterstützung<br />

von verschiedenen Seiten federführend und<br />

verantwortlich diese Veranstaltung konzipiert und<br />

vorbereitet hat. (Applaus)<br />

Wir bedanken uns, dass Sie, Herr Oberbürgermeister<br />

Schmalstieg, die Schirmherrschaft <strong>für</strong> die Veranstaltung<br />

übernommen haben, und die <strong>Anhörung</strong><br />

heute hier im Neuen Rathaus in Hannover stattfinden<br />

kann. Besonders freuen wir uns auch, dass Sie,<br />

Frau Beck und Herr Schwarz-Schilling - der später<br />

dazukommen wird - sowie Bernd Mesovic von <strong>Pro</strong><br />

<strong>Asyl</strong> die Zeit gefunden haben, uns heute Ihre Positionen<br />

<strong>für</strong> ein <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> Flüchtlinge vorzutragen.<br />

Nun übergebe ich an Herrn Schrader vom Journalistenbüro<br />

o-ton-team”, der uns moderierend durch<br />

diese Veranstaltung begleitet.<br />

Danke schön. (Applaus)<br />

ROMANE<br />

AGLONIPE<br />

Roma aus Niedersachsen e.V.<br />

<strong>für</strong> ein interkulturelles Hannover<br />

gegen Rassismus, Fremdenhass<br />

und Ausländerfeindlichkeit<br />

3. Einleitung<br />

Jo Schrader, o-ton-team<br />

Sehr verehrte Damen und Herren, sehr verehrter<br />

Herr Oberbürgermeister, Herr Bürgermeister, sehr<br />

verehrte Damen und Herren Landtagsabgeordnete,<br />

liebe Vertreter von Initiativen und Betroffene, die<br />

wir heute hier hören wollen,<br />

ich begrüße Sie und selbstverständlich<br />

auch alle anderen<br />

Interessierten, die zu dieser<br />

Veranstaltung gekommen<br />

sind, ganz herzlich!<br />

Das Wesentliche bei dieser<br />

<strong>Anhörung</strong> ist es, den Menschen,<br />

die seit vielen Jahren in<br />

diesem Lande leben, ein Gesicht<br />

zu geben. Diese Menschen<br />

kennen zu lernen und<br />

zu begreifen, durch welches<br />

Schicksal sie gehen müssen.<br />

Nicht nur, dass sie in ihrer<br />

Heimat teilweise viele schreckliche<br />

Erlebnisse durchleiden<br />

Foto: Jo Schrader, o-ton-team u. Achim<br />

Beinsen, Nds. Flüchtlingsrat<br />

mussten, sondern dass sie auch in unserem Land,<br />

dessen Grundgesetz beginnt mit “Die Würde des<br />

Menschen ist unantastbar”, ein Schicksal haben, das<br />

vielfach wirklich anrührend ist und uns die Notwendigkeit<br />

von Veränderungen<br />

vor Augen führt. Um diesen<br />

Menschen ein Gesicht zu<br />

geben, muss man sie persönlich<br />

kennen lernen.<br />

Ich selber lernte im Oktober<br />

einen jungen Menschen kennen,<br />

der in einem Übergangswohnheim<br />

wohnte. Er hieß<br />

Houmajun und war 16 Jahre<br />

alt, also noch minderjährig.<br />

Seine Eltern lebten in Kabul,<br />

er hatte sie lange nicht mehr<br />

gesehen. Und jeder weiß, zu<br />

dieser Zeit fielen Bomben auf<br />

Kabul. Die Vorstellung, als 16-<br />

Jähriger in einem fremden<br />

10


Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg - Grußwort<br />

Land zu sein, dessen Kultur nicht zu verstehen,<br />

dessen Sprache nicht zu kennen, und ohne Kontakt<br />

zu Menschen der eigenen Kultur leben zu müssen,<br />

ohne Wissen, wie es den Eltern geht, das ist wirklich<br />

furchtbar. So etwas gibt es vielfach. Houmajun<br />

lebt immer noch in Deutschland und ihm droht,<br />

nun nach mehreren Jahren, die Abschiebung zurück<br />

nach Afghanistan in eine durchaus ungewisse Zukunft.<br />

Dieses Beispiel hat mir persönlich gezeigt,<br />

wie Menschen leben müssen, die in Deutschland geduldet<br />

werden und keine Rechte haben. Und diesen<br />

Menschen das Recht zu geben, hier zu bleiben, das<br />

ist nicht zuletzt eines der wesentlichen Ziele dieser<br />

Veranstaltung.<br />

Ich freue mich, dass viele Betroffene gekommen<br />

sind, die uns den Blick öffnen <strong>für</strong> das Schicksal von<br />

Flüchtlingen. Darüber hinaus werden wir interessante<br />

Fachvorträge und Berichte von ehrenamtlichen<br />

Unterstützern hören, die uns aus ihrer jeweiligen<br />

Perspektive das Schicksal und die Situation von<br />

Flüchtlingen näher bringen, damit wir dann<br />

entsprechend handeln können.<br />

(Applaus)<br />

4. Grußwort<br />

durch Hannovers Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg<br />

Meine sehr verehrten Damen und Herren,<br />

ich freue mich darüber, dass wir heute hier zu einer<br />

wichtigen <strong>Anhörung</strong> <strong>zum</strong> Thema des <strong>Bleiberecht</strong>s<br />

im Hodler-Saal zusammen gekommen sind. Ich darf<br />

sie alle ganz herzlich begrüßen und freue mich auch,<br />

dass sie, verehrte Frau Beck, nach Hannover gekommen<br />

sind. Wir beschäftigen uns mit einem Thema,<br />

wobei wir uns nach meinem Wunsch an dem<br />

Bild hier in diesem Hodler-Saal orientieren sollten.<br />

Lassen Sie mich dies kurz erklären. Der Raum ist<br />

benannt nach dem Schweizer Maler Ferdinand<br />

Hodler, der während der Erbauung des Rathauses<br />

im Jahr 1911 den Auftrag bekam, ein Gemälde anzufertigen,<br />

welches das Bekenntnis der Hannoveraner<br />

zur Reformation darstellen sollte. Erstaunlich<br />

dabei war, dass ein deutscher Stadtdirektor einem<br />

Schweizer Maler damals einen derartigen Auftrag<br />

erteilte.<br />

Lieber <strong>Pro</strong>bst Funke: Ich bitte um Nachsicht, dass<br />

ich dieses Thema anspreche, aber die Teilnehmer<br />

der Veranstaltung sollten wissen, wo sie sich befinden.<br />

Am 26. Juni 1533 hatten sich die Hannoveraner<br />

zwischen Marktkirche und altem Rathaus<br />

einstimmig und einmütig - deswegen heißt dieses<br />

Gemälde auch “Einmütigkeit” - zur Reformation<br />

bekannt. Die katholischen Glaubensbrüder und der<br />

katholische Bürgermeister mussten die Stadt verlassen.<br />

In Hildesheim erhielten sie Schutz. Nach einiger<br />

Zeit kamen sie von dort nach Hannover zurück.<br />

Und wenn da nur Männer zu sehen sind, meine Damen<br />

und Herren, so liegt das daran, dass es damals<br />

leider noch keine Frauenbeauftragten gab, die da<strong>für</strong><br />

gesorgt haben, dass auch Frauen mit abstimmen<br />

konnten und abstimmen durften. Dies ist ein überaus<br />

wichtiges Gemälde, das übrigens noch eine<br />

zweite Ausführung hat. Wenn Sie einmal nach<br />

Zürich kommen und die dortige Kunsthalle aufsuchen,<br />

können Sie das Gemälde dort in der gleichen<br />

Größe noch einmal sehen.<br />

Soviel zu dem Raum und dem Gemälde. Ich wäre<br />

sehr froh darüber, wenn es auch in der Diskussion<br />

um ein <strong>Bleiberecht</strong> eine solche Einmütigkeit gäbe.<br />

Ich hoffe sehr, dass es eines Tages ein Zuwanderungsgesetz<br />

geben wird, das den Namen Zuwanderungsgesetz<br />

auch verdient hat. Ob das, was jetzt<br />

ausgehandelt worden ist, dieses Prädikat verdient,<br />

will ich nicht kommentieren. Ich hätte mir etwas anderes<br />

gewünscht als das, was jetzt zustande gekommen<br />

ist.<br />

Vor mehr als 80 Jahren formulierte Kurt Schwitters:<br />

Hannovers Rathaus gehört den Hannoveranerinnen<br />

und Hannoveranern. Und deswegen gehört das<br />

Rathaus allen, die hierher kommen. Wir haben ein<br />

offenes Rathaus und täglich besuchen mehrere hundert,<br />

teilweise über 1.000 Menschen das Gebäude.<br />

Die Offenheit gilt <strong>für</strong> alle Einwohnerinnen und<br />

Einwohner unserer Stadt und ganz besonders auch<br />

<strong>für</strong> den Teil unserer Einwohnerinnen und Einwohner,<br />

die zu dieser Veranstaltung gekommen sind,<br />

weil das heutige Thema <strong>für</strong> sie wirklich von existenzieller<br />

Bedeutung ist. Aus diesem Grund habe ich<br />

auch sehr gern die Schirmherrschaft <strong>für</strong> diese Veranstaltung<br />

übernommen. Es geht um das <strong>Bleiberecht</strong><br />

ausländischer Einwohnerinnen und Einwohner,<br />

deren Aufenthalt nur geduldet wird, obwohl sie<br />

<strong>zum</strong> Teil seit vielen Jahren hier leben. Diese Menschen<br />

sind zur Ausreise verpflichtet, im Weigerungsfall<br />

müssen sie ihre Abschiebung be<strong>für</strong>chten.<br />

In Hannover leben nach dem jetzigen Stand 1.851<br />

<strong>Asyl</strong>berechtigte, und 1.575 Duldungsinhaber<br />

(Stand: 31.122003). Wir haben zwar die Gesamtdauer<br />

ihres Aufenthalts statistisch nicht erfasst, wis-<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

11


Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg - Grußwort<br />

“Einmütigkeit” von Ferdinand Hodler<br />

sen allerdings, dass die größte Zahl dieser Flüchtlinge<br />

mit einer Duldung seit längeren Jahren in unserer<br />

Stadt lebt. Viele von ihnen sind hier heimisch geworden,<br />

haben hier Freunde. Ihre Kinder besuchen<br />

die Kindergärten in der Stadt oder die Schulen und<br />

sind weitgehend integriert. Deshalb wäre es aus humanitärer<br />

aber vor allem auch aus einwanderungspolitischer<br />

Sicht betrachtet wünschenswert und hilfreich,<br />

wenn es hier zu einer <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />

kommen würde. (Applaus)<br />

Es lässt sich, meine Damen und Herren, darüber<br />

diskutieren, inwieweit die ursprünglichen Zielsetzungen<br />

dieses so genannten Zuwanderungsgesetzes<br />

mit jenen Regelungen erreicht werden, wie sie jetzt<br />

nach über drei Jahren Verhandlungsdauer zwischen<br />

Regierung und Opposition vereinbart wurden. Die<br />

Feststellung bleibt bestehen, dass wir hier in<br />

Deutschland in der Zukunft Einwanderung brauchen<br />

- und ich will jetzt gar nicht über demographische<br />

Entwicklungen sprechen - aber wenn wir nicht<br />

in einem Land, welches mitten im Zentrum Europas<br />

liegt, zu Einwanderungsregelungen kommen,<br />

werden wir in ein paar Jahren unser Land nicht wiedererkennen.<br />

Dann ist es sicherlich in weiten Teilen<br />

verödet, weil dort keine Menschen mehr leben. Und<br />

deshalb muss man auch aus diesen Gesichtspunkten<br />

heraus darüber nachdenken, in welcher Weise Einwanderung<br />

stattfinden kann. Dabei muss darauf<br />

hingewiesen werden, dass eine nachhaltige Integration<br />

ohne eine bundesweite <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />

und ohne den Zugriff auf die Potenziale der bisher<br />

hier nur <strong>geduldete</strong>n Flüchtlinge nicht denkbar ist.<br />

Die derzeitige Duldungspraxis ist bei rund 230.000<br />

betroffenen Menschen in Deutschland, davon<br />

26.000 in Niedersachsen, ohne konkrete Lösungsversuche<br />

sowohl gesellschaftspolitisch als auch gegenüber<br />

den Betroffenen unverantwortlich. (Applaus)<br />

Ich könnte aus meiner Erfahrung sehr viele<br />

Beispiele nennen, höchst tragische Fälle, weil die betroffenen<br />

Menschen hier fünf, sechs, sieben und<br />

mehr Jahre gelebt haben und es keine Möglichkeit<br />

gab, sie hier in der Stadt zu halten. Unsere Ausländerbehörden<br />

würden manchmal das eine oder andere<br />

gerne selbst regeln, wenn es dort stärkere, größere<br />

Ermessensspielräume gäbe. In einem mir bekannten<br />

Fall handelte es sich um eine junge Frau aus<br />

Bulgarien, die hier mit ausgezeichneten Leistungen<br />

ihr Abitur gemacht hat. Trotzdem gab es schließlich<br />

keine Chance, sie in Deutschland zu halten. Ich war<br />

zu der Zeit Abgeordneter des Landtages und hatte<br />

12


Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg - Grußwort<br />

das Glück, eine Petition in diesem Fall bearbeiten zu<br />

können. Ich habe mir die größte Mühe gegeben, um<br />

noch ein Jahr und noch ein Jahr und noch ein Jahr<br />

Aufenthalt <strong>für</strong> diese Frau herauszuholen, aber eines<br />

Tages ging es nicht länger. So etwas darf und kann<br />

nicht sein. Es muss, so glaube ich, hier eine Regelung<br />

gefunden werden, die menschliche Lösungen<br />

ermöglicht. (Applaus)<br />

Die Zuwanderungskommission unter Leitung von<br />

Rita Süssmuth hat deshalb Erleichterungen beim<br />

Zugang zu einer Aufenthaltsbefugnis vorgeschlagen.<br />

Im Kommissionsbericht heißt es: Es liegt im originären<br />

Interesse jedes Aufnahmelandes, dass Ausländer,<br />

deren Aufenthalt aus humanitären Gründen<br />

auf längere Zeit nicht beendet werden kann, und<br />

die deshalb voraussichtlich auf Dauer im Lande<br />

bleiben werden, so früh wie möglich integriert werden.<br />

Ausländer, die nur geduldet sind, leben in unsicheren<br />

rechtlichen Verhältnissen mit negativen Folgen<br />

auch <strong>für</strong> das Aufnahmeland. Auch die Ausländerbeauftragten<br />

der Länder erklärten im Mai 2002<br />

mit Blick auf das Zuwanderungsgesetz, dass es <strong>für</strong><br />

den integrationspolitischen Erfolg mit entscheidend<br />

sei, wie viele Menschen aus dem Kreis der bisher<br />

Geduldeten künftig einen rechtmäßigen Aufenthalt<br />

erhalten werden. Sie haben eine klare und bundesweit<br />

einheitliche Altfallregelung <strong>für</strong> bisher Geduldete<br />

gefordert. Die Diskussion um den bisher erzielten<br />

Kompromiss <strong>zum</strong> so genannten Zuwanderungsgesetz<br />

ändert nichts an diesen Einsichten und am dringenden<br />

Handlungsbedarf. Auch ohne Regelungen<br />

im Zuwanderungsgesetz müssen die Geduldeten,<br />

die schon lange Mitglieder unserer Gesellschaft<br />

sind, aus ihrem weitgehend rechtlosen Status befreit<br />

werden und die Chance zu einem menschenwürdigen<br />

und gleichberechtigten Dasein erhalten. Es ist<br />

hoffentlich noch nicht zu spät, in Ergänzung zu den<br />

bisherigen Beschlüssen über das Zuwanderungsgesetz,<br />

die Weichen hier<strong>für</strong> richtig zu stellen.<br />

Eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung <strong>für</strong> diesen Personenkreis<br />

könnte aber auch unabhängig vom Zuwanderungsgesetz<br />

von den Innenministern der Bundesländer<br />

beschlossen werden. Verschiedene Regelungen <strong>für</strong><br />

Geduldete hat es in den vergangenen Jahrzehnten<br />

bereits gegeben, obwohl diese so gestaltet waren,<br />

dass viele derer, <strong>für</strong> die sie gedacht waren, sie gar<br />

nicht in Anspruch nehmen konnten. Häufig scheiterten<br />

sie an der geforderten Unabhängigkeit von<br />

der Sozialhilfe bei gleichzeitig eingeschränktem Arbeitsmarktzugang,<br />

der faktisch einem Arbeitsverbot<br />

gleichkommt. Eine ernsthaft gemeinte <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />

muss zunächst deshalb bundesweit auch<br />

eine Chance zu einer Arbeit eröffnen. Ich begrüße<br />

es daher, dass in Niedersachsen ein Bündnis existiert,<br />

das sich mit der heutigen <strong>Anhörung</strong>, aber<br />

auch mit einer Petition, <strong>für</strong> ein <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> langfristig<br />

in Niedersachsen lebende <strong>Asyl</strong>suchende und<br />

Flüchtlinge einsetzt. Dabei nimmt auch der Runde<br />

Tisch hier in unserer Stadt, der "Runde Tisch <strong>für</strong> ein<br />

Interkulturelles Hannover gegen Rassismus, Fremdenhass<br />

und Ausländerfeindlichkeit", eine wichtige<br />

Rolle ein. Hier in Hannover ist unter seiner Mitwirkung<br />

einiges erreicht worden, wie <strong>zum</strong> Beispiel die<br />

Ausarbeitung eines Konzeptes zur Unterbringung<br />

von Flüchtlingen und Aussiedlern sowie <strong>für</strong> unbegleitete<br />

minderjährige Flüchtlinge.<br />

<strong>Bleiberecht</strong>, meine Damen und Herren, ist Integrationspolitik.<br />

Eine generelle <strong>Bleiberecht</strong>sregelung auf<br />

Bundesebene schafft deshalb nicht nur <strong>für</strong> die Betroffenen<br />

eine Rechtssicherheit und Lebensperspektive,<br />

sondern erleichtert auch die Integrationsbemühungen<br />

in unseren Städten. Ich hoffe, dass alle<br />

diejenigen, die heute hier hergekommen sind - als<br />

Vortragende aber auch als diejenigen, die Fragen<br />

stellen, die mit diskutieren wollen - gemeinsam in einem<br />

Ziel einig bleiben: Es muss eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />

geben im Interesse der Menschen, weil<br />

das, was Herr Schrader eingangs gesagt hat, völlig<br />

klar ist: Ganz gleich, in welcher Stellung man sich<br />

befindet, ob man hier lebt als jemand, der einen<br />

deutschen Pass hat und deutsche Eltern oder einen<br />

türkischen oder einen Pass aus Nigeria oder woher<br />

auch immer, <strong>für</strong> alle gilt: Die Würde des Menschen<br />

ist unantastbar.<br />

(Applaus)<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

13


Marieluise Beck - Integrationsbeauftragte der Deutschen Bundesregierung<br />

5. Die Position der Integrationsbeauftragten<br />

der Bundesregierung <strong>zum</strong> Thema <strong>Bleiberecht</strong><br />

Marieluise Beck<br />

Einen schönen guten Tag, meine sehr geehrten Damen<br />

und Herren,<br />

ich möchte mich zunächst einmal bedanken bei<br />

denjenigen, die über viele Jahre hinweg mit sehr viel<br />

Energie und auch der Bereitschaft, Enttäuschungen<br />

auszuhalten, hier in der Flüchtlingsarbeit tätig sind.<br />

Sie geben den Menschen, die ganz am Rand unserer<br />

Gesellschaft stehen, schon dadurch Hoffnung, dass<br />

sie überhaupt Unterstützung bekommen, dass jemand<br />

da ist, der sie durch schwierige Situationen,<br />

durch Zurückweisungen und durch zähe Formalitäten<br />

begleitet. Es ist wichtig, dass sie diese Arbeit leisten<br />

und sich auch nicht entmutigen lassen durch<br />

problematische Entscheidungen, die es ja gerade im<br />

Bereich der Flüchtlings- und Ausländerpolitik immer<br />

wieder gibt. Das hat sich eigentlich auch in den<br />

letzten 15 Jahren nicht grundlegend verändert. Es<br />

hat immer mal wieder die Möglichkeit gegeben, die<br />

Tür ein bisschen zu öffnen <strong>für</strong> <strong>Bleiberecht</strong>sregelungen,<br />

über die wir jetzt sprechen.<br />

Das war <strong>zum</strong> einen – Sie werden sich erinnern,<br />

wenn sie aus der aktiven Flüchtlingsarbeit kommen<br />

- die <strong>Bleiberecht</strong>sregelung von 1999. Diese Regelung<br />

war sehr hart umkämpft. Zur Ehrenrettung des<br />

Bundesinnenministers, zu dem ich ja kein unkompliziertes<br />

Verhältnis habe, muss ich sagen, dass diese<br />

<strong>Bleiberecht</strong>sregelung nur zustande gekommen<br />

ist, weil er die Landesinnenminister an diesem<br />

Punkt in der Bund-Länder-Innenministerkonferenz<br />

so gedrängt hat, dass dann immerhin eine relativ<br />

kleine und bescheidene Lösung beschlossen wurde.<br />

Die Länder wollten zunächst definitiv überhaupt<br />

keine einzige Altfallregelung mehr machen.<br />

Wir haben dann wiederum im Jahr 2000 in zäher<br />

und mühseliger Arbeit das <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> etwa<br />

8000 traumatisierte Bosnierinnen und Bosnier ermöglicht.<br />

Von den insgesamt etwa 340.000 Menschen,<br />

die aus Bosnien-Herzegowina in unser Land<br />

gekommen waren, kehrte die Mehrzahl zurück, andere<br />

sind in die USA, nach Kanada und nach Neuseeland<br />

gegangen. Im Fall der Traumatisierten hatten<br />

wir in manchen Bundesländern skandalöse Verfahren<br />

über die Art der Gutachtenerstellung, wodurch<br />

traumatisierte Menschen noch mal und noch<br />

mal in ein gutachterliches Verfahren gezwungen<br />

worden sind. In Berlin wurde dies dann dem polizeiärztlichen<br />

Dienst übertragen, dessen Mitarbeiter<br />

überhaupt nicht wussten, was eine Traumatisierung<br />

eigentlich ist.<br />

Durch die Intervention von Herrn Schwarz-Schilling,<br />

der die ganzen Jahre eine aufrechte Unerschrockenheit<br />

an den Tag gelegt hat, wurde schließlich<br />

eine Art Schlussregelung <strong>für</strong> das ehemalige Jugoslawien<br />

gefunden. Dies war allerdings immer<br />

mühselig und immer wieder mit Hürden versehen.<br />

So wurde die <strong>Bleiberecht</strong>sregelung an die eigenständige<br />

Existenzsicherung geknüpft und scheiterte daher<br />

<strong>für</strong> viele an der schlechten Arbeitsmarktsituation.<br />

Dies ereignete sich vor der Zuwanderungsdebatte,<br />

vor der Erkenntnis, dass wir eine vergreisende Gesellschaft<br />

sind und im eigenen Interesse Menschen,<br />

die eingewandert sind, hier auch behalten sollten.<br />

Es wurde überhaupt keine Verbindung hergestellt<br />

zwischen diesen beiden politischen Sachverhalten.<br />

Also kehrten die Bosnier zurück.<br />

Nachdem der Bundeskanzler hier in Hannover die<br />

CeBIT besucht hatte und die Green Card-Regelung<br />

ankündigte, schien es, als gäbe es einen Umschwung<br />

in der Debatte, einen migrationspolitischen Frühling.<br />

Sowohl die Süssmuth-Kommission als auch die<br />

Müller-Kommission erstellten Berichte, die schlichtweg<br />

von Vernunft geprägt waren. Vernünftig ist es,<br />

Menschen, die seit vielen Jahren hier leben und an-<br />

14


Marieluise Beck - Integrationsbeauftragte der Deutschen Bundesregierung<br />

fangen, sich niederzulassen und deren Kinder hier<br />

geboren werden, in dieses Land zu integrieren. Es<br />

ist dann wie eine Verbannung, wenn man sie nach<br />

vielen Jahren wieder des Landes verweist. (Applaus)<br />

Solch ein Denken in Kategorien der Verbannung<br />

gibt es in verschiedenen Bereichen. Beispielsweise<br />

im Fall junger Ausländer, die keine Flüchtlinge sind,<br />

in Deutschland geboren wurden, jedoch keinen<br />

deutschen Pass besitzen, und denen aufgrund unseres<br />

Rechtes die Ausweisung droht, sollten sie<br />

straffällig werden. Dann heißt es: Ausweisung in ein<br />

unbekanntes „Heimatland“.<br />

Wie auch der Fall Mehmet in München einer Verbannung<br />

gleich kam - öffentlich und medienwirksam<br />

inszeniert. Derartige mediale Inszenierungen<br />

vermitteln immer auch die Botschaft an die<br />

aufnehmende Bevölkerung: Wir setzen diese Ausländer,<br />

die eben wirklich nicht zu uns gehören, vor<br />

die Tür, wenn sie in irgendeiner Weise von uns als<br />

störend empfunden werden. Mit den Berichten der<br />

Süssmuth- und der Müller-Kommission schien sich<br />

nun die Atmosphäre zu verändern. Es bestand Einigkeit<br />

darüber, dass Integration auch bedeutet:<br />

Dort, wo eine faktische Integration allein über die<br />

Zeit der Anwesenheit stattgefunden hat, muss das<br />

mit dem entsprechenden Aufenthaltstitel rechtlich<br />

nachvollzogen werden. Die Hoffnungen richteten<br />

sich auf eine Zuwanderungsregelung.<br />

nicht wieder fortgeschickt werden konnten, waren<br />

gleichwohl – teilweise auf unabsehbare Zeit - nur<br />

geduldet. Denn sie kamen aus Ländern, in denen es<br />

keine staatlichen Strukturen mehr gab. Wenn nunmehr<br />

nichtstaatliche und geschlechtspezifische Verfolgung<br />

endlich als Fluchtgrund auch ausländerrechtlich<br />

Anerkennung findet, werden diese Menschen<br />

eher einen Flüchtlingsstatus und in der Folge<br />

einen gesicherten Aufenthalt bekommen.<br />

Es wird außerdem in einem neuen § 25 Abs. 5 AufenthG<br />

definiert, wie in anderen Fällen anstelle einer<br />

Duldung ein Aufenthaltsrecht erteilt werden kann.<br />

Bei einem absehbaren längeren Aufenthalt der betroffenen<br />

Menschen kann ein Aufenthaltsrecht erteilt<br />

werden. Zudem kann die Aufenthaltserlaubnis auch<br />

erteilt werden, wenn keine eigene Existenzsicherung<br />

durch Erwerbstätigkeit und Beruf möglich ist.<br />

Das sind im Wesentlichen jene Bereiche, in denen es<br />

Erleichterungen geben kann und wird. Für einige<br />

Betroffene wird es darüber hinaus Erleichterungen<br />

Der Gesetzentwurf <strong>zum</strong> Zuwanderungsgesetz jedoch,<br />

der dann auf den Tisch kam, war schon mit<br />

der Schere im Kopf erstellt, nämlich mit der Schere<br />

einer oppositionellen Union, von der man wusste,<br />

dass sie über den Bundesrat mit am Tisch saß. Es<br />

war keine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung mehr vorgesehen.<br />

Es gab und gibt eine Diskussion über die Beendigung<br />

von Kettenduldungen, die im Kontext der<br />

Forderung nach einem <strong>Bleiberecht</strong> steht. An dieser<br />

Stelle will ich Ihnen sagen, welche Entwicklung sich<br />

in den vorliegenden Teilen der Gesetzesänderungen<br />

in Bezug auf diese Kettenduldungen abzeichnet. Es<br />

wird keine grundsätzliche Abschaffung der Kettenduldungen<br />

geben. Das ist bitter, aber ich will das<br />

hier ganz klar aussprechen. Es hat keinen Sinn, vier<br />

Wochen bevor der Text vielleicht dann endgültig auf<br />

dem Tisch liegt, nicht auch ehrlich zu sagen, was ansteht.<br />

Wir werden keine grundsätzliche Absage an<br />

Kettenduldungen erreichen. Es wird über andere<br />

Rechtsbereiche mittelbar Entlastungen geben <strong>für</strong><br />

Menschen, die bisher in der Kettenduldung gelandet<br />

wären, nun aber in anderen Bereichen gleich mit<br />

einem verfestigten Aufenthalt bedacht werden.<br />

Dies betrifft zunächst jene Flüchtlinge, die einer<br />

nichtstaatlichen und/oder einer geschlechtsspezifischen<br />

Verfolgung ausgesetzt waren. Viele Menschen,<br />

deren persönliche Verfolgung niemals von irgendjemandem<br />

infrage gestellt wurde und die auch<br />

durch eine weitere Regelung, die neu in das Gesetz<br />

aufgenommen wird, geben. Hierbei handelt es sich<br />

um die Härtefallkommissionen auf Länderebene.<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

15


Marieluise Beck - Integrationsbeauftragte der Deutschen Bundesregierung<br />

Allerdings handelt es sich auch hier um eine Kann-<br />

Regelung <strong>für</strong> die Länder. Das heißt, die Länder können,<br />

müssen jedoch keine Härtefallkommissionen<br />

einrichten. Dort, wo es diese Härtefallkommissionen<br />

geben wird, können sie dazu dienen, humanitäre<br />

Lösungen <strong>zum</strong> Beispiel in Fällen zu finden, in denen<br />

ansonsten eine haarsträubende Unmenschlichkeit<br />

zu beklagen wäre. Die Härtefallkommissionen<br />

ermöglichen Einzelentscheidungen<br />

<strong>für</strong> ein <strong>Bleiberecht</strong> auf der Grundlage eines flexiblen<br />

Rechts, das einen gewissen Ermessensspielraum<br />

vorsieht.<br />

Das ist nicht das Gesetz, welches ich mir wünsche -<br />

auch der Oberbürgermeister hat sich eben sehr<br />

deutlich erklärt.<br />

Sie alle lesen Zeitung, sie alle haben gesehen, wie<br />

sich das Drama in den letzten drei Jahren abgespielt<br />

hat. Ich weiß nicht, ob die Zeit noch reicht, in den<br />

nächsten Wochen so einen politischen Druck zu<br />

entfachen, dass gerade im Bereich der Kettenduldungen<br />

und im Bereich des <strong>Bleiberecht</strong>s noch mal<br />

ein deutlicher Schub nach vorne gelingt.<br />

Ich kann nur darum bitten, dass mit den eindeutigen,<br />

den ganz eindeutigen Bekenntnissen und Haltungen,<br />

die sie gerade hier geäußert haben, doch<br />

auch bitte noch einmal in die Sozialdemokratie hinein<br />

gewirkt wird. (Applaus)<br />

das möchte ich hier auch sagen, trotz aller Kritik,<br />

die mit Sicherheit zu Recht kommen wird, doch erklären,<br />

dass mein Kollege Volker Beck bis an den<br />

Rand seiner psychischen und physischen Kräfte gegangen<br />

ist in den vielen Wochen der Verhandlungen,<br />

wo es wenig Hemmungen gab, auch unter die<br />

Gürtellinie zu gehen. Das möchte ich hier ganz offen<br />

aussprechen: Also wenn es noch eine Chance<br />

gibt, brauchen wir dazu vor allen Dingen auch eine<br />

andere Entschiedenheit in der großen Partei der Sozialdemokratie.<br />

Ob die Zeit da<strong>für</strong> reicht, kann ich<br />

nicht sagen. Wenn nicht, werden wir alle weiterhin<br />

wie bisher in Sisyphusmanier den herunterrollenden<br />

Ball wieder aufnehmen und anfangen, ihn erneut<br />

hinauf zu schieben. Das heißt, wenn das Gesetz so<br />

kommt, wie es sich jetzt abzeichnet, wird die Auseinandersetzung<br />

um eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung <strong>für</strong><br />

die Menschen, die schon lange hier sind, mit dem<br />

Tag der Unterzeichnung wieder beginnen. Wir werden<br />

dann wie immer und wie in den letzten Jahren<br />

schon gehabt, auf die Bund-Länder-Innenministerkonferenz<br />

zugehen, auf die Oberbürgermeister zugehen,<br />

auf die Parteipräsidien zugehen und versuchen,<br />

einzelnen Menschen aus diesen überaus belastenden<br />

Lebenssituationen, in denen wir ihnen<br />

nicht gestatten, die Koffer auszupacken, obwohl sie<br />

ihren Platz in dieser Gesellschaft haben und haben<br />

könnten, herauszuhelfen. Wir werden mit dieser<br />

Auseinandersetzung dann wieder von vorne anfangen.<br />

(Applaus)<br />

Als Grüne vertreten wir nicht gerade den stärksten<br />

Part in dieser Regierung. Ich glaube ich kann, und<br />

16


Bernd Mesovic -<strong>Pro</strong> <strong>Asyl</strong><br />

6. Die von der Politik Vergessenen - Position<br />

von <strong>Pro</strong> <strong>Asyl</strong> <strong>zum</strong> <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong><br />

<strong>geduldete</strong> Flüchtlinge und <strong>Asyl</strong>bewerber<br />

Bernd Mesovic<br />

Meine sehr verehrten Damen und Herren,<br />

es wäre sicher schön gewesen, wenn Herr Schwarz-<br />

Schilling noch vor mir gesprochen hätte, weil das eines<br />

belegt hätte - er wird das ja selbst vielleicht<br />

nachher noch belegen: Die Frage des Schicksals der<br />

dauer<strong>geduldete</strong>n Menschen in Deutschland, ihres<br />

<strong>Bleiberecht</strong>s, ist eine, bei der das Engagement<br />

durchaus über Parteigrenzen hinweggeht. Das hat<br />

sich im Verlauf der Jahre, die diese Kampagne <strong>für</strong><br />

ein <strong>Bleiberecht</strong> jetzt läuft, gezeigt: Gerade auf der<br />

Ebene der Kommunalpolitik gibt es Bürgermeister,<br />

Kommunalpolitiker aller Couleur, die durchaus wissen,<br />

wovon sie reden und die eine Lösung wollen.<br />

Eine Lösung, die sich von der unterscheidet, die<br />

vermutlich jetzt gefunden wird im Rahmen des Zuwanderungsgesetzes.<br />

Je näher die Politiker also an<br />

den <strong>Pro</strong>blemen der Menschen dran sind - Herr<br />

Schmalstieg hat das sehr plastisch geschildert -<br />

desto mehr Verständnis gibt es da<strong>für</strong>, dass die Forderung<br />

nach einem <strong>Bleiberecht</strong> eben nichts Abstraktes<br />

ist und dass es dabei keineswegs um die<br />

Menschen geht, die nach tagespolitischem Kalkül<br />

als Beispiel <strong>für</strong> angeblichen Missbrauch herangezogen<br />

werden: Diejenigen, die ihre Identität verschleiern,<br />

die nach dieser Auffassung angeblich selbst<br />

daran schuld sind, dass es zu einem einen langen<br />

Aufenthalt hierzulande gekommen ist.<br />

Wir hatten im Vorfeld darüber gesprochen, wie die<br />

Überschrift meines Beitrages hier lauten könnte. Ich<br />

denke, ich möchte eigentlich über die "von der<br />

Politik Vergessenen" sprechen. Nach alledem, was<br />

an Gesetzestexten bisher vorliegt, vertrete ich die<br />

Auffassung, dass dieses Zuwanderungsgesetz die<br />

meisten der Menschen, um die es uns bei der <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />

geht, auch wieder vergessen wird.<br />

Das ist leider unsere Be<strong>für</strong>chtung. Ich denke, dass es<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

17


Bernd Mesovic - <strong>Pro</strong> <strong>Asyl</strong><br />

sich lohnt, jetzt noch mal Druck zu machen. Aber<br />

ich sehe es auch so wie Sie, Frau Beck: Wir werden<br />

den langen Atem brauchen. Wir werden auch nach<br />

Ende Juli weiter darauf aufmerksam machen müssen:<br />

Die Leute sind da. Es ist unrealistisch sie abzuschieben,<br />

inhuman ist es sowieso. Was in Deutschland<br />

fehlt, wenn ich das in sentimentalem Rückblick<br />

auf die Süßmuth-Kommission sehe, ist, so glaube<br />

ich, eine Mischung aus common sense und Humanität.<br />

Wenn ich daran denke, dass viele EU-Staaten in den<br />

letzten 10, 15 Jahren eine Reihe von Legalisierungsregelungen<br />

eingeführt haben - meistens dann, wenn<br />

ein neues und von der Zielrichtung her <strong>zum</strong>eist<br />

durchaus restriktives Ausländerrecht<br />

eingeführt<br />

wurde, habe ich den<br />

Eindruck: Deutschland<br />

schafft dies nicht einmal<br />

<strong>für</strong> die vergleichsweise<br />

geringe Zahl derer, die<br />

wir als Menschen mit<br />

Daueraufenthalt im Auge<br />

haben. Wenn es nicht gelingt,<br />

sie zu regularisieren,<br />

dann fehlt in diesem Lande<br />

etwas. Und wenn hingegen<br />

Kinder, die hier<br />

groß geworden sind, die<br />

die Sprache nur dieses<br />

Landes sprechen, in Staaten<br />

abgeschoben werden,<br />

die <strong>für</strong> sie auf keinen Fall<br />

Heimat sind, nur weil ihre<br />

Eltern nicht mehr als eine<br />

Duldung haben, dann<br />

fehlt uns beides, nämlich<br />

common sense, also eine<br />

pragmatische Haltung<br />

<strong>zum</strong> Faktischen und das<br />

Gespür da<strong>für</strong>, dass die<br />

Abschiebung in diesen<br />

Fällen im Grunde eine<br />

zutiefst inhumane Aktion<br />

ist. Sie, Frau Beck, haben<br />

es mit Verbannung bezeichnet.<br />

Manche Politiker<br />

trauen sich nicht, es beim Namen zu nennen.<br />

Auch wir würden das Wort Verbannung <strong>für</strong> Abschiebungsaktionen<br />

dieser Art verwenden.<br />

Die Dauer-Geduldeten in Deutschland: Dabei handelt<br />

es sich um eine Zahl, die ich hier noch mal in<br />

den Raum stellen will. Je nachdem, wie man die<br />

Grenze zieht, kann man davon ausgehen: Ca.<br />

150.000 Menschen haben ihre Duldung 5 Jahre oder<br />

mehr. Diese Tatsache weist im Prinzip bereits auf<br />

eine rechtswidrige Verfahrensweise dieses Staates<br />

selbst. Die <strong>Pro</strong>blemgruppe sollte es eigentlich gar<br />

nicht geben, denn die Duldung war nie als Mittel<br />

zur Regelung eines Daueraufenthaltes gedacht. Und<br />

auf diese Tatsache hat die Süßmuth-Kommission<br />

hingewiesen, hat die Ausländerbeauftragte, haben<br />

auch Andere immer wieder hingewiesen. Darauf,<br />

dass es eigentlich um eine Legalisierung unseres eigenen<br />

Rechtsverständnisses geht, das die Existenz<br />

von Kettenduldungen bislang hingenommen hat. In<br />

der Konsequenz wegzukommen von diesen Dauerduldungen<br />

hin zu einer klaren Entscheidung <strong>für</strong> die<br />

Regelung eines verfestigten Aufenthaltes.<br />

Ich sehe es so: Mit der nun im Raum stehenden<br />

zeitlichen Höchstgrenze <strong>für</strong> die Erteilung einer Duldung<br />

im neuen Zuwanderungsgesetz<br />

ist nicht viel<br />

geregelt, weil die zusätzlichen<br />

Voraussetzungen,<br />

die verlangt werden - so<br />

man die jetzt kursierenden<br />

Texte zugrundelegt -<br />

sehr schwer zu erbringen<br />

sein werden. Es wird immer<br />

wieder behauptet<br />

werden - aus Gründen des<br />

tagespolitischen Distinktionsgewinns<br />

gegenüber<br />

den Unterstützern dieser<br />

Personengruppe - sie seien<br />

an ihrer Situation selbst<br />

schuld. Wer selbst freiwillig<br />

ausreisen könnte, dem<br />

soll auch künftig kein<br />

Daueraufenthalt gewährt<br />

werden, selbst wenn er<br />

nicht abgeschoben werden<br />

kann. Diese Konstruktion<br />

ist de facto ein großes<br />

<strong>Pro</strong>blem und ich nehme<br />

an, das neue Gesetz wird<br />

es nicht lösen, jedenfalls<br />

nicht im Sinne von<br />

Rechtssicherheit <strong>für</strong> die<br />

Betroffenen. Stattdessen<br />

wird es wieder ein Hauen<br />

und Stechen geben um jeden<br />

Einzelfall vor Gericht,<br />

in Härtefallkommissionen usw. Trotzdem, wir<br />

machen weiter, wir nehmen auch diese Herausforderung<br />

an. Aber common sense wäre stattdessen<br />

gewesen, ein größtmögliches Maß an Rechtssicherheit<br />

zu schaffen. Deswegen sind wir mit dem Gesetz<br />

unzufrieden, aber wir bleiben kämpferisch. Die<br />

Kampagne wird auch von PRO ASYL, den Flüchtlingsräten<br />

und, wie ich hoffe, von allen bisherigen<br />

Unterstützern weitergeführt, weil die betroffenen<br />

Menschen eben da sind und bleiben sollen. Danke.<br />

(Applaus)<br />

18


Rita Süssmuth- Sachverständigenrat <strong>für</strong> Zuwanderung und Integration<br />

7. Grußwort<br />

der Vorsitzenden desSachverständigenrates<br />

<strong>für</strong> Zuwanderung und Integration der<br />

Deutschen Bundesregierung<br />

<strong>Pro</strong>f. Dr. Dr. h.c. mult. Rita Süssmuth<br />

Sehr geehrte Damen und Herren,<br />

die Veranstalter dieser <strong>Anhörung</strong> haben mich gebeten,<br />

meine Position als Vorsitzende der Unabhängigen<br />

Kommission Zuwanderung <strong>zum</strong> Thema <strong>Bleiberecht</strong><br />

<strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong> Flüchtlinge darzulegen.<br />

Gern komme ich dieser Bitte nach.<br />

Als wir im Juli des Jahres 2001<br />

den Abschlussbericht unserer<br />

vom Ministerium des Inneren<br />

eingesetzten Unabhängigen<br />

Kommission Zuwanderung<br />

unter dem Titel "Zuwanderung<br />

gestalten - Integration<br />

fördern" der Öffentlichkeit<br />

vorstellten, verbanden wir damit<br />

gleichzeitig die Hoffung,<br />

dass die Arbeitsergebnisse und<br />

Empfehlungen der Kommission<br />

in absehbarer Zeit in neue<br />

gesetzliche Regelungen münden<br />

würden. Denn, so die Ergebnisse<br />

unserer Arbeit, im<br />

Bereich Migration und Zuwanderung<br />

herrscht ein deutlicher<br />

Regelungsbedarf, um den<br />

aktuellen Herausforderungen<br />

besser begegnen und auf neue<br />

Entwicklungen internationaler Migrationsprozesse -<br />

aber auch auf den Bedarf nach qualifizierten Fachkräften<br />

- in unserem Land angemessen reagieren zu<br />

können. Aus verschiedenen Gründen ist es zu gesetzlichen<br />

Neuregelungen bisher nicht gekommen.<br />

Die zurückliegenden Jahre seit der Veröffentlichung<br />

unseres Abschlussberichtes waren von schweren internationalen<br />

Erschütterungen, von dem schrecklichen<br />

terroristischen Anschlag am 11. September<br />

2001 in den USA, von den Kriegen in Afghanistan<br />

und zuletzt im Irak sowie den daraus erwachsenen<br />

politischen <strong>Pro</strong>blemen gekennzeichnet.<br />

In diesem Rahmen wächst der Bundesrepublik<br />

Deutschland eine immer größere Verantwortung<br />

<strong>für</strong> die Bewahrung des Friedens und <strong>für</strong> die Achtung<br />

der Menschenrechte zu. Dabei muss die Bundesrepublik<br />

Deutschland ihre Verpflichtung und<br />

Verantwortung als wichtiges Mitglied der Staatengemeinschaft<br />

nicht zuletzt <strong>für</strong> den Geltungsbereich<br />

und die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention<br />

und der Europäischen Menschenrechtskonvention<br />

wahrnehmen.<br />

Der Einsatz <strong>für</strong> die weltweite<br />

Achtung der Menschenrechte<br />

und die Stärkung des Völkerrechts<br />

bedeutet auch, den<br />

<strong>langjährig</strong> in Deutschland lebenden<br />

Flüchtlingen eine<br />

menschenwürdige Existenz<br />

und eine rechtlich-formale Integration<br />

mit den dazugehörigen<br />

Rechten und Pflichten zu<br />

ermöglichen.<br />

Hier hat sich insbesondere in<br />

Bezug auf Flüchtlinge, die aus<br />

humanitären oder faktischen<br />

Gründen nicht in ihren Heimatstaat<br />

zurückkehren können,<br />

eine sowohl aus rechtlichen<br />

als auch aus menschlichen<br />

Gründen inakzeptable<br />

Praxis herausgebildet. Obwohl<br />

Duldungen nach der Intention des Ausländerrechts<br />

nicht länger als <strong>für</strong> ein Jahr erteilt werden sollen,<br />

sieht die Wirklichkeit anders aus. In weit über der<br />

Hälfte der Fälle wird die Jahresfrist um ein vielfaches<br />

überschritten. Die Duldungen sind daher zu einem<br />

"Ersatzaufenthaltsrecht" geworden, welches<br />

die Betroffenen in administrativer Hinsicht zu Menschen<br />

zweiter und dritter Klasse degradiert. Geduldete<br />

Flüchtlinge dürfen ihre Familien nicht nachholen,<br />

sie erhalten herabgesetzte Sozialleistungen, ihre<br />

Freizügigkeit ist ebenso wie die Möglichkeit, eine<br />

Erwerbstätigkeit auszuüben, stark eingeschränkt.<br />

Für die Betroffenen ist eine solche Situation extrem<br />

belastend. Fachleute weisen immer wieder darauf<br />

hin, dass dies zu psychischen oder physischen Erkranken<br />

führen kann.<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

19


Mirsan Kurpejevic<br />

Integration zu verweigern. Dies ist ein unwürdiger<br />

und bedrückender Umgang <strong>für</strong> die Betroffenen. In<br />

dem Abschlussbericht unserer "Unabhängigen<br />

Kommission Zuwanderung" formulierten wir: "Es<br />

liegt im originären Interesse jeden Aufnahmelandes,<br />

dass Ausländer, deren Aufenthalt aus humanitären<br />

Gründen über längere Zeit nicht beendet werden<br />

kann und die deshalb voraussichtlich auf Dauer im<br />

Lande bleiben werden, so früh wie möglich integriert<br />

werden."<br />

Es ist daher nicht vertretbar, die Betroffenen über<br />

Jahre hinweg in eine rechtlich ungesicherte Situation<br />

zu drängen und ihnen faktisch die Möglichkeit der<br />

Die Bundesregierung möge da<strong>für</strong> Sorge tragen, dass<br />

dem unhaltbaren Zustand <strong>für</strong> die <strong>langjährig</strong> Geduldeten<br />

so bald wie möglich im Rahmen einer <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />

abgeholfen wird. In diesem Sinne<br />

wünsche ich den Veranstaltern dieser <strong>Anhörung</strong> bei<br />

der Realisierung ihres Anliegens viel Erfolg.<br />

8. Eine Familie aus Serbien-Montenegro<br />

zwischen Integrationsbemühungen<br />

und bürokratischen Hürden<br />

Mirsan Kurpejevic<br />

Sehr geehrte Damen und Herren,<br />

mein Name ist Mirsan Kurpejovic. Ich komme aus<br />

Serbien-Montenegro, bin muslimischer Abstammung<br />

und werde Ihnen unsere <strong>Pro</strong>bleme mit dem<br />

Duldungsstatus jetzt näher erläutern:<br />

Wir sind am 05.Mai 1992 in Deutschland eingereist<br />

und leben seit 12 Jahren in unserem Ort "Großefehn"<br />

in Ostfriesland. Und jetzt kommen wir zu den<br />

<strong>Pro</strong>blemen mit dem Duldungsstatus die uns betreffen:<br />

Mein Vater, bald 49 Jahre alt, beantragte mehrmals<br />

und jahrelang eine Arbeitserlaubnis bei verschiedenen<br />

Firmen und bekam sie nicht. Selbst die Rechtsanwältin<br />

konnte ihm nicht helfen. Nur durch einen<br />

Zufall bekam mein Vater eine Stelle bei der Firma<br />

Nils Bogdol GmbH als Gebäudereiniger in Vechta,<br />

weil sich der Chef <strong>für</strong> ihn eingesetzt hat und kein<br />

deutscher Mitkonkurrent diese Stelle haben wollte.<br />

Dies wurde aber vorher vom Arbeitsamt eingehend<br />

geprüft, so dass kein Deutscher oder EU-Bürger<br />

diese Stelle in Anspruch nehmen wollte. Doch die<br />

Arbeitsstelle ist an die Laufzeit der Duldung gebunden<br />

und mein Vater darf nur in den Regionen Ostfriesland<br />

und Emsland arbeiten. Hierzu ein Beispiel:<br />

20


Misan Kurpejevic<br />

Ist die Duldung <strong>für</strong> 3 Monate verlängert worden, so<br />

darf mein Vater nur in dieser Zeit arbeiten und nur<br />

in dieser Zeit die Region verlassen und sich frei bewegen.<br />

Dann muss ein neuer Antrag von der Firma<br />

ausgefüllt und an das Arbeitsamt geschickt werden.<br />

Parallel dazu muss auch das Kindergeld immer neu<br />

beantrag werden. Die Firma will meinen Vater fest<br />

einstellen, doch das geht nicht. Es besteht auch die<br />

Gefahr, dass die Firma meinen Vater nicht länger<br />

behält, weil sie diese Strapazen nicht mehr auf sich<br />

nehmen kann und ihm einfach kündigt. Das alles<br />

läuft jetzt seit 2 ½ Jahren.<br />

Meine Mutter , 45 Jahre alt, hat dieselben <strong>Pro</strong>bleme,<br />

wie mein Vater. Doch der Unterschied liegt darin,<br />

dass meine Mutter noch nie eine Arbeitserlaubnis<br />

bekommen hat, wegen dem Duldungsstatus, obwohl<br />

sie auch viele Firmen fand, die sie nehmen<br />

wollten.<br />

Jetzt kommen wir zu meinem Zwillingsbruder Mirhan<br />

Kurpejovic. Er ist 20 Jahre alt, hat die Schule<br />

<strong>für</strong> Körper- und Geistigbehinderte beendet und<br />

wartet seit 3 Jahren auf Arbeit. Er ist zu 100% behindert.<br />

Er hatte eine Stelle beim "Institut <strong>für</strong> Erwachsenenbildung"<br />

und bei den "Werkstätten <strong>für</strong><br />

Behinderte", später aber wurden sie ihm nicht gewährt.<br />

Doch sie haben uns gesagt, wenn wir einen<br />

Aufenthaltsstatus bekommen sollten, wären sie dazu<br />

bereit, eine Stelle <strong>für</strong> ihn zu besorgen. Trotz einer<br />

Behinderung könnte er ein zufriedener Mensch<br />

sein, wenn er die entsprechende Förderung bekäme<br />

und eine Arbeit ausführen könnte, die seinen Fähigkeiten<br />

entspricht.<br />

Als nächstes kommen wir zu mir: Ich selber wollte<br />

privat Praktika absolvieren, um die verschiedenen<br />

kaufmännischen Berufe sowie Betriebe kennen zu<br />

lernen. Das wurde mir nicht gewährt. Als nächstes<br />

habe ich eine Ausbildungsstelle bei der Firma<br />

"Edeka" als Einzelhandelskaufmann gefunden. Alles<br />

lief prima, bis ich den Antrag auf Arbeitserlaubnis<br />

beim Arbeitsamt abgegeben hatte. Dort musste<br />

ich einen Monat auf die Entscheidung warten, obwohl<br />

ich schon längst hätte anfangen müssen.<br />

Schließlich habe ich die Stelle nicht bekommen<br />

wegen dem Duldungsstatus, und mir bleibt nichts<br />

anderes übrig, als weiter zur Schule zu gehen, und<br />

ich hoffe, dass ich im nächsten Jahr, 2005, mein<br />

Abitur schaffe.<br />

Ein anderes <strong>Pro</strong>blem entsteht auch, wenn wir<br />

unsere Verwandten besuchen wollen, die nicht in<br />

unserem Bundesland leben. Dann müssen wir <strong>zum</strong><br />

Landkreis gehen und eine Genehmigung einholen,<br />

dass wir unseren Ort verlassen dürfen und in ein<br />

anderes Bundesland reisen möchten. Und diese<br />

ganzen <strong>Pro</strong>bleme begleiten uns jahrelang durch das<br />

tägliche Leben. So lange wir den Duldungsstatus<br />

haben, können wir unsere Wünsche nicht erfüllen.<br />

Das war's von meiner Seite. Vielen Dank.<br />

(Applaus)<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

21


Alvaro Juchanian<br />

9. "Zu 99 <strong>Pro</strong>zent integriert"<br />

Alvaro Juchanian<br />

Vielen Dank dass Sie mir das Wort geben. Ich habe<br />

nicht erwartet, dass ich so schnell zu Wort komme,<br />

hatte eigentlich keine Hoffnung. Ja, ich habe einen<br />

Brief gekriegt, dass ich fünf Minuten sprechen<br />

kann, das ist sehr wenig. Und ich habe nachgedacht,<br />

was kann ich sagen, ich<br />

habe soviel zu sagen.<br />

Der junge Mann hat<br />

viele ähnliche Geschichten<br />

erzählt, wie<br />

ich sie mit meiner Familie<br />

auch kenne. Wir,<br />

meine Familie und ich,<br />

sind seit elf Jahren in<br />

Deutschland. Meine<br />

Tochter ist 24 Jahre<br />

alt, mein Sohn ist 16<br />

Jahre alt. Meine<br />

Tochter studiert an<br />

der Universität Hildesheim<br />

"Internationale<br />

Fachkommunikation"<br />

und mein Sohn<br />

ist in der 9. Klasse des<br />

Scharnhorst-Gymnasiums.<br />

Ich bin Elternratssprecherin<br />

<strong>für</strong> ausländische<br />

Kinder im<br />

Scharnhorstgymnasium.<br />

Ja, und wie der<br />

junge Mann sagte, kriegen<br />

wir auch immer<br />

wieder drei Monate<br />

Duldung, ohne Arbeitserlaubnis,<br />

ohne uns<br />

frei bewegen zu können<br />

in diesem Land und wir<br />

haben mehrere Male versucht,<br />

eine Aufenthaltserlaubnis<br />

zu kriegen.<br />

Wir hatten viel Hilfe, viele<br />

gute Beziehungen und deutsche<br />

Freunde, die uns helfen<br />

wollten, aber es klappte nicht.<br />

Aber wir haben uns bemüht,<br />

mein Mann und ich, haben irgendwie von unserer<br />

Sozialhilfe gespart und haben Deutschkurse mit<br />

Zertifikat bestanden. Mein Mann hat die C-Lizenz<br />

als Fußballtrainer erworben, und er hat das neun<br />

Jahre lang kostenlos gemacht und nichts gekriegt,<br />

nur geholfen. Seine Mannschaften waren die<br />

Besten.<br />

Jetzt trainiert er die Hildesheimer Frauenmannschaft,<br />

die sind Bezirks-Champion geworden und es<br />

läuft ganz gut, aber ohne irgendetwas, ohne Vertrag,<br />

ohne Geld und gar nichts. Meine Tochter studiert,<br />

sie ist im sechsten Semester, sie hat vor fünf Jahren<br />

eine Aufenthaltsbefugnis <strong>für</strong> zwei Jahre bekommen.<br />

Da haben wir uns gefreut, sie hat Gott sei Dank<br />

eine Arbeitserlaubnis gekriegt, damals. Und dann<br />

nach zwei Jahren wurde sie ihr weggenommen,<br />

obwohl sie ihr Studium behalten konnte. Sie bezahlt<br />

das selber, sie hat Aushilfejobs. Sie bekommt kein<br />

BAFÖG, gar nichts, keine Sozialhilfe, keinen Cent<br />

vom Staat. Und da haben wir auch gesagt, ok, wir<br />

wollen gar nichts vom Staat, wir können<br />

uns hier irgendwie, wenn wir eine Arbeitserlaubnis<br />

kriegen, integrieren. Meine<br />

Kinder sind bereits zu 99 % integriert.<br />

Ein <strong>Pro</strong>zent sind sie noch Armenier.<br />

Mein Sohn kann überhaupt kein armenisch,<br />

obwohl ich<br />

versuche, mit ihm ein<br />

wenig zu sprechen.<br />

Aber diese Ungewissheit,<br />

alle drei Monate<br />

<strong>zum</strong> Ausländeramt zu<br />

gehen. Ich kann nicht<br />

mehr. Ich bin zwei Jahre<br />

lang im Landeskrankenhaus<br />

in der Psychiatrie<br />

gewesen, nur<br />

aus diesem Grund. Ich<br />

war (vorher) kerngesund.<br />

Aber jetzt, wenn<br />

ich daran denke, ach,<br />

wir müssen hin, dann<br />

fängt das Zittern an.<br />

Es geht nicht, es geht<br />

nicht mehr weiter so<br />

zu leben. Und ich bitte<br />

Sie, ich war letztes Jahr<br />

auch bei einer ähnlichen<br />

Veranstaltung<br />

wie dieser, wir haben<br />

uns getroffen und dieses<br />

Jahr wieder. Wissen<br />

Sie was, ich möchte<br />

nicht, dass wir uns<br />

nächstes Jahr wieder<br />

hier treffen (Applaus).<br />

Es sei denn, wir haben<br />

unsere Aufenthalts<br />

erlaubnis und können<br />

unseren Gewinn feiern.<br />

(Applaus)<br />

22


10. Wie Flüchtlinge<br />

ins soziale Abseits gedrängt werden<br />

Yunga Malundama<br />

Meine Name ist Yunga Malundama. Ich komme aus<br />

Zaire, heute Kongo. Ich bin im April 1992 nach<br />

Deutschland gekommen und habe einen <strong>Asyl</strong>antrag<br />

gestellt, der abgelehnt worden ist.<br />

Im Jahr 1993 habe ich mich in der Volkshochschule<br />

eingeschrieben, um die deutsche Sprache zu lernen,<br />

<strong>für</strong> eine bessere Integration. Ich habe die deutsche<br />

Sprache gelernt und ein Zertifikat erhalten.<br />

Anschließend habe ich nach Arbeit gesucht. Im<br />

September 1994 habe ich eine Arbeit bekommen<br />

beim Maritim Hotel in Hannover. Ich habe einen<br />

unbefristeten Arbeitsvertrag bekommen, und ich<br />

habe acht Jahre lang gearbeitet, bis 2002.<br />

In der ganzen Zeit hatte ich immer nur eine Duldung<br />

und keine Aufenthaltsgenehmigung. Da die<br />

Arbeitserlaubnis mit dem Aufenthaltsstatus zusammenhängt,<br />

gab es oft <strong>Pro</strong>bleme mit dem Arbeitsamt.<br />

Es musste jedes Mal wieder eine Arbeitserlaubnis<br />

beantragt werden, und das hat oft <strong>Pro</strong>bleme<br />

verursacht. Des öfteren wollte das Arbeitsamt die<br />

Arbeitserlaubnis nicht erteilen. Wegen der Duldung<br />

sollte der Arbeitsplatz Deutschen oder Ausländern<br />

aus der Europäischen Union überlassen werden. Ich<br />

hatte daher immer <strong>Pro</strong>bleme, weil mein Arbeitgeber<br />

immer mit dem Arbeitsamt verhandeln musste, damit<br />

meine Arbeitserlaubnis verlängert oder erneuert<br />

wird. Jedes mal, wenn es ein <strong>Pro</strong>blem<br />

mit meiner Duldung gab, brachte das<br />

Schwierigkeiten mit meiner Arbeitserlaubnis<br />

mit sich. Das war der Grund,<br />

weshalb ich nach acht Jahren, als meine<br />

Arbeitserlaubnis nicht verlängert wurde,<br />

meine Arbeit verlor, da mein Arbeitgeber<br />

mich nicht beschäftigen<br />

konnte. Auf jeden Fall wollte mein<br />

Chef mich bei der Arbeit behalten. Er<br />

hat bei der Stadt Hildesheim gefragt, ob<br />

sie mir eine Aufenthaltserlaubnis geben<br />

könnten. Er hat auch das Arbeitsamt<br />

gebeten, mir eine Arbeitserlaubnis zu<br />

geben. Aber die Antwort war negativ.<br />

Vom Arbeitsamt wurde mir gesagt, da<br />

ich nur eine Duldung habe, kann die<br />

Arbeitserlaubnis nicht verlängert werden.<br />

Wegen all dem wurde ich krank und<br />

depressiv. Deswegen wurde ich auch<br />

schon zwei Mal im Krankenhaus<br />

behandelt. Bis heute bin ich in einer<br />

Therapie.<br />

Yunga Malundama<br />

Ich will noch hinzufügen, was ich sehr merkwürdig<br />

finde, dass jetzt, wo ich arbeitslos bin und Arbeitslosenhilfe<br />

nehmen muss, das Arbeitsamt mir droht<br />

und sagt, ich soll eine Arbeit suchen. Dabei wissen<br />

sie genau, dass ich meine Arbeit verloren habe, weil<br />

ich keine Arbeitserlaubnis bekommen habe. Und sie<br />

sind zuständig, mir eine Arbeitserlaubnis zu geben.<br />

Ich weiß nicht, wie ich ohne Arbeitserlaubnis Arbeit<br />

finden soll. Ich habe immer noch die gleiche Duldung.<br />

Die Sachbearbeiter haben die Akten und sie<br />

haben mein Kündigungsschreiben gesehen, wo<br />

deutlich steht, dass ich nicht mehr arbeiten darf,<br />

weil die Arbeitserlaubnis fehlt. Da, wo ich gearbeitet<br />

habe, hatte ich einen unbefristeten Arbeitsvertrag.<br />

Wenn ich eine richtige Arbeitserlaubnis bekomme,<br />

kann ich auch wieder arbeiten.<br />

Ich kann nicht zurück in den Kongo. Die Situation<br />

hat sich noch nicht geändert. Ich habe dort<br />

niemanden mehr, es ist Krieg und alles ist katastrophal.<br />

Ich bin in Deutschland integriert. Ich habe<br />

alles gemacht, was man machen kann. Ich habe die<br />

Sprache gelernt und dann gearbeitet. Ich habe mich<br />

gut bei den Deutschen integriert. Das ist alles was<br />

man machen kann. Ich möchte hier normal leben<br />

und arbeiten.<br />

(Applaus)<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

23


<strong>Pro</strong>bst Klaus Funke - Katholische Kirche<br />

11. Die Position der Katholischen Kirche<br />

in Niedersachsen <strong>zum</strong> <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong><br />

<strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong> Flüchtlinge<br />

<strong>Pro</strong>bst Klaus Funke<br />

Sehr geehrte Frau Beck, sehr geehrter Herr Dr.<br />

Schwarz-Schilling, meine sehr verehrten Damen<br />

und Herren,<br />

ich darf die Grüße der katholischen<br />

Bischöfe von<br />

Niedersachsen hier mit<br />

einbringen und im Namen<br />

der katholischen Kirchen,<br />

die in Niedersachsen vertreten<br />

sind, eine kurze<br />

Stellungnahme abgeben.<br />

Ich weiß, dass die persönlichen<br />

Zeugnisse der drei,<br />

die wir gerade gehört haben,<br />

sicher eine ganz andere<br />

Strahlkraft besitzen,<br />

weil sie spüren lassen, wie<br />

konkret auch das Anliegen<br />

ist, um das es geht. Trotzdem<br />

wollen auch die Kirchen<br />

zeigen, dass wir nicht<br />

nur dem Namen nach als<br />

Mittragende genannt sind,<br />

sondern dass wir uns<br />

wirklich um die Betroffenen<br />

sorgen. Nicht aus ein<br />

bisschen Nächstenliebe,<br />

sondern es ist unser Beruf,<br />

auf der Seite der Schwachen,<br />

der Armen, auf der<br />

Seite derer zu stehen, die<br />

in Not sind.<br />

bung an den unabweisbaren Mindestanforderungen<br />

ausrichten. Vielmehr müssen wir uns fragen, was<br />

theologisch und ethisch geboten ist. Und da ist ganz<br />

besonders die Familie im Blick. Ihr kommt ein besonderer<br />

Schutz zu.<br />

Dazu gehört das<br />

Recht, dass Eltern zusammenleben,<br />

ihre<br />

Kinder erziehen und<br />

Kinder in der Familie<br />

ihrer Eltern leben. Die<br />

Kirchen setzen sich<br />

darum nachdrücklich<br />

<strong>für</strong> die Sicherung der<br />

Familieneinheit und<br />

<strong>für</strong> die Familienzusammenführung<br />

ein.<br />

Diese sind gerade<br />

auch in der Gesetzgebung<br />

und in der Verwaltungspraxis<br />

zu sichern.<br />

Der 5. Internationale<br />

Kongress der<br />

Pastorale <strong>für</strong> Migranten<br />

und Flüchtlinge,<br />

der im November vergangenen<br />

Jahres in<br />

Rom stattfand, appelliert<br />

unter anderem an<br />

die Regierungen und<br />

gesetzgebenden Körperschaften,<br />

indem er<br />

formuliert:<br />

Deshalb: Auf die Frage, warum sich die Kirchen<br />

um Migranten sorgen, müssen wir antworten: Weil<br />

ihnen das von ihrem Herrn aufgegeben ist, und weil<br />

auch in diesen Menschen und in ihren Nöten Gott<br />

selbst um Dienst bittet. Darum nehmen sich die<br />

Kirchen der Fremden und Bedrängten an und treten<br />

als Anwalt und Verteidiger ihrer Rechte auf, wo<br />

es Not tut. Menschen sollen leben können, gesund<br />

werden, zu sich selbst finden, sich annehmen und<br />

Annahme erfahren. Sie sollen unter menschengerechten<br />

gesellschaftlichen und politischen Bedingungen<br />

in Freiheit leben können.<br />

Aus christlicher Sicht genügt es dabei nicht, dass<br />

sich der Schutz von Flüchtlingen und Migranten<br />

und eine dementsprechende Politik und Gesetzge-<br />

1. Die Menschenwürde und die Menschenrechte<br />

der Migranten und Flüchtlinge zu respektieren<br />

und zu schützen, unabhängig davon, ob sie legale<br />

oder illegale Einwanderer sind. Es wird dazu<br />

aufgefordert, den Terrorismus nicht als Vorwand<br />

zu benutzen, diese Rechte zu reduzieren.<br />

2. Den Kindern unter den Migranten, den Jugendlichen<br />

und den Frauen ist eine besondere Aufmerksamkeit<br />

zu widmen und es sind schwere<br />

Sanktionen im Falle ihrer Ausbeutung vorzusehen.<br />

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wir<br />

dann zur Kenntnis nehmen müssen, dass es sich bei<br />

den 26.000 in Niedersachsen <strong>geduldete</strong>n Migranten<br />

24


Christoph Dahling-Sander Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers<br />

oft um Familien mit Kindern handelt, die hier aufgewachsen<br />

oder sogar hier die Kinder geboren<br />

sind, - wir haben ja gerade schon Beispiele gehört -<br />

dann können wir mit diesem Zustand um Gottes<br />

Willen nicht zufrieden sein. (Applaus) Obwohl diese<br />

Menschen sich mit guten Gründen viele Jahre in<br />

Deutschland aufhalten, können sie in aller Regel<br />

keine regulären Aufenthaltstitel und damit auch keine<br />

Aufenthaltsverfestigung erlangen. Die Lebensplanung<br />

von "Geduldeten", die oft über Jahre hinweg<br />

einer nicht realisierbaren Ausreiseverpflichtung<br />

unterliegen, ist einer massiven Unsicherheit unterworfen.<br />

Wiederum gilt dies besonders <strong>für</strong> Familien<br />

mit Kindern im Vorschul- und Schulalter sowie <strong>für</strong><br />

Jugendliche, denen berufliche Ausbildung verschlossen<br />

ist. Eine Reihe von öffentlichen Leistungen,<br />

unter anderem auch das Kindergeld, werden<br />

Geduldeten nicht gewährt, Familiennachzug ist ausgeschlossen.<br />

Statt frühzeitig einen Integrationsprozess in Gang<br />

zu setzen und verlässliche rechtliche Rahmenbedingungen<br />

zu schaffen, wird über Jahre hinweg eine<br />

Duldung verlängert. Bei jedem Antrag auf Verlängerung<br />

der Duldung wird jedoch von den meisten<br />

zuständigen Behörden nur überprüft, ob nicht doch<br />

eine Abschiebung möglich bzw. rechtlich geboten<br />

ist. In den seltensten Fällen wird dabei über die<br />

Möglichkeit von Integrationsmaßnahmen oder gar<br />

eine Aufenthaltsverfestigung nachgedacht.<br />

Werden diese Menschen, diese Familien, diese Kinder<br />

so nicht um ihre Zukunft betrogen?<br />

Vor diesem Hintergrund ist eine Reform der rechtlichen<br />

Bestimmungen dringend geboten Ob dies<br />

das neue Zuwanderungsgesetz leisten kann, muss<br />

dahingestellt sein. Eine <strong>für</strong> die Betroffenen dringend<br />

notwendige und sowohl gesellschaftlich als<br />

auch politisch vertretbare Lösung würde eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />

darstellen, wie sie von der Kampagne<br />

"Recht auf <strong>Bleiberecht</strong> in Niedersachsen" gefordert<br />

wird und als Petition an den niedersächsischen<br />

Landtag gerichtet worden ist. Wir unterstützen<br />

diese Petition. (Applaus)<br />

12.Die Position der Konföderation Evangelischer<br />

Kirchen in Niedersachsen <strong>zum</strong> <strong>Bleiberecht</strong><br />

<strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong> Flüchtlinge<br />

Dr. Christoph Dahling Sander<br />

Sehr geehrte Damen und Herren,<br />

der humanitäre Schutz von Flüchtlingen und ihren<br />

Familien stellt <strong>für</strong> die Evangelischen Kirchen eine<br />

elementare Aufgabe dar.<br />

Das Evangelium befreit die Christen zu einem verantwortlichen<br />

Dienst <strong>für</strong> alle Menschen, ausnahmslos.<br />

Besonders hebt die biblische Überlieferung den<br />

humanitären Schutz von Fremden hervor. „Wenn<br />

ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht<br />

bedrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält,<br />

soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst<br />

ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde<br />

in Ägypten gewesen.“ (3. Mose 19,33f) Im Neuen<br />

Testament werden die Grenzen der Fremdheit<br />

überwunden durch das Gebot der Nächstenliebe<br />

(z.B. Lk 10,25-37).<br />

Menschenwürde und Menschenrechte gründen <strong>für</strong><br />

die Kirchen in der biblischen Botschaft. Aus der Bestimmung<br />

des Menschen als Ebenbild Gottes und<br />

der darin gründenden Würde ergeben sich die elementaren<br />

Grundlagen menschlichen Zusammenlebens.<br />

(1. Mose 1,26f) Keinem Menschen ist die<br />

Würde abzusprechen. Wenn Menschen unwürdig<br />

behandelt werden, widerspricht dies der Bestimmung<br />

Gottes. Nach christlichem Verständnis ist die<br />

Menschenwürde unantastbar, unabhängig <strong>zum</strong> Beispiel<br />

von der Herkunft, vom Geschlecht, von der<br />

Religion, dem Familienstand oder der Gesundheit<br />

jedes einzelnen Menschen.<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

25


Christoph Dahling-Sander Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers<br />

Dies korrespondiert mit den Menschenrechtserklärungen<br />

und mit den im Grundgesetz verbürgten<br />

Grundrechten. Ein Perspektivenwechsel ist hier besonders<br />

im Blick auf Flüchtlinge dringend nötig. Es<br />

ist nicht entscheidend, wer der Verfolger ist, sondern<br />

ob jemand einer Verfolgung ausgesetzt ist. Aus<br />

diesem Grund ist den Kirchen besonders wichtig,<br />

dass nach der Genfer Flüchtlingskonvention diejenigen<br />

Menschen einen Anspruch auf Schutz haben, die<br />

wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Nationalität,<br />

ihres Geschlechts, ihrer Religion, ihrer Zugehörigkeit<br />

zu einer bestimmten sozialen Gruppe<br />

oder wegen ihrer politischen Überzeugung an Leib<br />

und Leben in Freiheit bedroht sind. Die Genfer<br />

Flüchtlingskonvention muss uneingeschränkt angewendet<br />

werden. Nicht-staatliche Verfolgung muss<br />

also dringend anerkannt werden. (Dies fordern die<br />

Kirchen immer wieder ein, z.B. in der EKD-Handreichung<br />

„Zuwanderung gestalten“ vom Dezember<br />

2002, durch EKD-Ratspräsident Bischof Huber am<br />

4. März 2004 und zuletzt durch die „Liebfrauenberg-Erklärung“<br />

am 12. Mai 2004.)<br />

Humanitärer Flüchtlingsschutz ist allerdings nicht<br />

mit der bloßen Aufnahme erledigt.<br />

wenn die „Geduldeten“ schon über Jahre hier leben,<br />

ihren Beitrag <strong>zum</strong> gesellschaftlichen Leben leisten<br />

und in ihrem persönlichen Umfeld menschliche Anerkennung<br />

finden. Deshalb legen die Kirchen im<br />

aktuellen Diskussionsprozess <strong>zum</strong> Niedersächsischen<br />

Handlungsprogramm Wert darauf, dass auch<br />

„Geduldete“ in den Blick kommen und integriert<br />

werden. Ein Leben ohne sichere Zukunft und ein<br />

Leben ohne von der Politik gewollte und abgesicherte<br />

Integration ist menschenunwürdig, es ist ein<br />

Leben „draußen vor der Tür“. Deshalb sind „Kettenduldungen“<br />

von Menschen – wo immer möglich<br />

– abzuschaffen und durch einen sicheren Aufenthaltsstatus<br />

mit Zukunftsperspektiven zu ersetzen.<br />

In der Bevölkerung gibt es Angst vor Gewalt und<br />

Terror, gerade nach den Anschlägen in Istanbul und<br />

Madrid. Zugleich sorgen sich viele, dass unsere<br />

rechtsstaatlichen Regelungen missbraucht und unterwandert<br />

werden. Diese Ängste und Sorgen sind<br />

ernst zu nehmen. Es versteht sich von selbst, dass<br />

die Forderung nach einem sicheren Aufenthaltsstatus<br />

nicht <strong>für</strong> schwer straffällig gewordene Menschen<br />

gilt. Zugleich setzen die Kirchen auf die Fähigkeit<br />

aller Menschen, hier klar zu unterscheiden. Unterstellungen<br />

und Pauschalurteile schaden den Zuwanderern<br />

ebenso wie den Einheimischen; sie missachten<br />

die einzelnen Menschen. Landesbischöfin Dr.<br />

Margot Käßmann hat gestern vor der Synode unterstrichen:<br />

„Die Menschenwürde darf der Angst<br />

vor dem Terror nicht geopfert werden.“<br />

Es ist zu betonen: Zur Zuwanderung und <strong>zum</strong> humanitären<br />

Flüchtlingsschutz gibt es keine Alternative.<br />

Wer Integration ernsthaft anstrebt, muss diejenigen<br />

<strong>zum</strong> Ausgangspunkt nehmen, die sich faktisch<br />

in Deutschland aufhalten und ihnen gleiche Rechte<br />

und Lebenschancen einräumen. Faire Chancen zur<br />

Integration sind zwingend erforderlich.<br />

Bedrohte Menschen sind würdig zu behandeln.<br />

Dies erfordert, ihnen einen sicheren Aufenthaltsstatus<br />

einzuräumen, besonders den Menschen, die<br />

schon lange hier leben. Die sogenannten „Kettenduldungen“<br />

zielen immer wieder neu nur auf eine<br />

kurzfristige Duldung, <strong>zum</strong> Teil <strong>für</strong> einen Monat.<br />

Die so Geduldeten können gar nicht erst Zukunftsperspektiven<br />

entwickeln. Wir als Kirchen bedauern,<br />

dass im Niedersächsischen Handlungsprogramm<br />

zur Integration „Geduldete“ nicht berücksichtigt<br />

werden. Sie sollen demnach nicht beraten werden,<br />

nicht am gesellschaftlichen Leben teilhaben, keine<br />

Möglichkeit haben, sich frei zu bewegen, sich zu bilden<br />

und einer Arbeit nachzugehen. Dies gilt selbst,<br />

Ein besonderes Augenmerk richten die Kirchen auf<br />

die unwürdige Trennung von Familien. Der Erhalt<br />

und Schutz von Ehe und Familie hat <strong>für</strong> die Kirchen<br />

eine große Bedeutung. Nach christlicher Überzeugung<br />

ist die Familie als Keimzelle des Lebens<br />

und Zusammenlebens eine elementare Form der<br />

Schöpfung Gottes. Ehe und Familie dienen der<br />

Weitergabe des Lebens, der Weitergabe des Glaubens<br />

und dem konstruktiven Erhalt von Gesellschaft<br />

und Kultur. Diese soziale Dimension von<br />

Ehe und Familie macht sie nach christlicher Überzeugung<br />

besonders schützenswert. Dies korrespondiert<br />

mit Art. 6 des Grundgesetzes: „Ehe und Familie<br />

stehen unter dem besonderen Schutz der<br />

staatlichen Ordnung.“<br />

Die Beraterinnen und Berater der Kirchen und Diakonischen<br />

Werke fragen sich allerdings zunehmend,<br />

ob dieser grundrechtliche Schutz von Ehe und Fa-<br />

26


Ardit Rexhaj<br />

milie ausschließlich <strong>für</strong> Familien mit deutschem<br />

Pass gilt. Immer öfter wird in letzter Zeit berichtet,<br />

dass Ausländerbehörden Familien trennen, um deren<br />

Aufenthalt hier zu beenden. Mehr noch: durch<br />

die Trennung der Familien wird offenbar versucht,<br />

eine so genannte „freiwillige Ausreise“ herbeizuführen.<br />

Aus behördlicher Sicht mag dies Erfolg versprechen.<br />

Aus menschlicher Sicht stellt sich die Frage,<br />

ob dies unmenschliche Vorgehen noch im Einklang<br />

mit Artikel 6 des Grundgesetzes steht.<br />

Oft tauchen diese Menschen unter, selbst ihre medizinische<br />

Grundversorgung wird fraglich, und die<br />

in der Legalität Verbliebenen erkranken psychisch.<br />

Werden hier die Familien getrennt so ist in anderen<br />

Fällen die Zusammenführung der Familien nicht<br />

möglich. Nur drei konkrete Forderungen möchte<br />

ich nennen:<br />

1. Ein Rechtsanspruch auf Familiennachzug unter<br />

Verzicht auf Wartefristen sollte gewährt werden.<br />

2. Ehegatten sollten bereits nach zwei-jähriger Ehebestandszeit<br />

ein eigenes Aufenthaltsrechts erhalten.<br />

(vgl. EKD, Zusammenleben gestalten, 20).<br />

3. Nehmen Sie bitte auch die Perspektive der Kinder<br />

ein! Kinder brauchen ein uneingeschränktes<br />

Recht, mit ihren Eltern zusammenzuleben.<br />

Statt restriktiver Interpretationen dessen, was Ehe<br />

und Familie sei, ist eine Politik erforderlich, die Familien<br />

nicht trennt und die Chancen der zusammengeführten<br />

Familie <strong>für</strong> die Integrationsprozesse<br />

erkennt. Dazu sind unter anderem im Rahmen von<br />

Erlassen klärende Handlungsanweisungen erforderlich.<br />

Denn nur so verhilft die Politik zur gesellschaftlichen<br />

Anerkennung und Durchsetzung des<br />

besonderen Schutzes von Ehe und Familie nach<br />

dem Grundgesetz Artikel 6.<br />

Vielen Dank <strong>für</strong> Ihre Aufmerksamkeit! (Applaus)<br />

13. Als alleinreisender minderjähriger<br />

Flüchtling in Deutschalnd<br />

Ardit Rexhaj<br />

Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer,<br />

mein Name ist Ardit Rexhaj. Ich bin 17 Jahre alt<br />

und Kosovo-Albaner aus der Stadt Bujanovic, die<br />

heute serbisch-montenegrinisches Gebiet ist. Seit<br />

meiner Ankunft vor drei Jahren lebe ich hier in einer<br />

Jugendwohngruppe vom Jugendamt mit sieben<br />

anderen deutschen und ausländischen Kindern.<br />

Meine Betreuerinnen und Betreuer helfen mir dort<br />

in Schul- und Alltagsproblemen, und sie bereiten<br />

mich auf ein selbständiges Leben vor. Ich besuche<br />

gerade die 9. Klasse auf der Ada-Lessing-Schule in<br />

Bothfeld. Nächstes Jahr möchte ich die 10. Klasse<br />

und eventuell den Realschulabschluss machen.<br />

Dann will ich einen Ausbildungsplatz<br />

suchen oder eine<br />

weiterführende Schule besuchen.<br />

Ich spiele gern Schach<br />

und Fußball in meiner Freizeit<br />

und bin Mitglied eines<br />

Sportvereines.<br />

Mein Leben ist durch meinen<br />

Aufenthaltsstatus sehr<br />

eingeschränkt. Mein <strong>Asyl</strong>antrag<br />

wurde abgelehnt, und<br />

ich werde hier nur geduldet.<br />

Jedes Mal, wenn ich mit der<br />

Schule oder mit der<br />

Wohngruppe einen<br />

Ausflug außerhalb<br />

von Hannover unternehme, muss ich zur Ausländerbehörde,<br />

eine Genehmigung holen, was nicht<br />

immer so einfach und spontan machbar ist.<br />

Vor drei Jahren bin ich nach Deutschland geflüchtet,<br />

weil ich und meine Eltern Angst um mein Leben<br />

hatten, und heute noch haben. Ich habe in Kosovo<br />

schlimme und brutale Seiten des Krieges miterlebt<br />

und konnte damit nicht fertig werden. Ich<br />

werde zur Zeit auch therapeutisch betreut, um das<br />

alles zu verarbeiten. Ich wünsche mir, dass ich wieder<br />

gesund werden und meine<br />

Behandlung fortsetzen<br />

kann. Ich wünsche mir, dass<br />

ich weiterhin hier bleiben<br />

kann, um eine Perspektive <strong>für</strong><br />

die Berufsausbildung zu haben.<br />

Ich möchte meine Zukunft<br />

planen können, wie alle<br />

anderen Jugendlichen auch.<br />

Ich bedanke mich <strong>für</strong> die Gelegenheit,<br />

hier zu sprechen,<br />

und danke Ihnen <strong>für</strong>s<br />

Zuhören. (Applaus)<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

27


Anke Wagener-Nordelbische Ev. Luth. Kirche<br />

14. <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong><br />

Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge<br />

Anke Wagener<br />

Erlauben Sie mir<br />

bitte, dass ich aus<br />

der Bibel zitiere,<br />

wie ich es immer<br />

dann tue, wenn<br />

ich in Hamburg<br />

ehrenamtliche<br />

Vormünder werbe.<br />

"Und Jesus<br />

stellte ein Kind<br />

in ihre Mitte, und<br />

er sagte, wenn<br />

ihr dieses Kind<br />

aufnehmt, nehmt<br />

ihr mich auf."<br />

Ich hoffe, dieses Zitat richtig wiedergegeben zu haben.<br />

Dieser Bibeltext bewegt Ehrenamtliche häufig<br />

dazu, Vormundschaften <strong>für</strong> Flüchtlingskinder zu<br />

übernehmen.<br />

Von einigen Betroffenen haben wir heute bereits<br />

gehört, welche <strong>Pro</strong>bleme ihnen das Verwaltungshandeln<br />

bereitet. Von diesen <strong>Pro</strong>blemen sind auch<br />

viele Flüchtlingskinder betroffen. Damit Sie verstehen,<br />

wie es diesen Kindern geht, möchte ich Ihnen<br />

einige Beispiele nennen und durch diese Beispiele<br />

quasi die Kinder selbst zu Wort kommen lassen.<br />

In einem Fall, über den ich berichten will, geht es<br />

um sechs Kinder im Alter von sechs bis 17 Jahren,<br />

die der Gruppe der Roma angehören. Fast alle Geschwister<br />

sind in Hamburg geboren worden, der älteste<br />

Junge lebt seit 16 Jahren in dieser Stadt. Die<br />

Kinder sind in Pflegefamilien und Lebensgemeinschaften<br />

in Hamburg untergebracht, denn die Mutter<br />

ist untergetaucht und nicht auffindbar, und der<br />

Vater lebt in Serbien-Montenegro. Seit über einem<br />

Jahr betreibt die Ausländerbehörde die Abschiebung<br />

der Geschwister. Eines der Geschwister, ein<br />

von mir betreuter Junge, hat vor einiger Zeit gesagt,<br />

er kenne gar kein anderes Land als Deutschland, seine<br />

Heimat sei Deutschland. Dieser Junge hat in einem<br />

langen Brief an den Bundespräsidenten seine<br />

Sorgen und Hoffnungen beschrieben.<br />

Eine ehrenamtliche Vormundin und ich reisten in<br />

Begleitung eines NDR-Journalisten vor einiger Zeit<br />

nach Montenegro und bestätigten, dass die kindgerechte<br />

Versorgung der Kinder dort nicht gegeben<br />

ist. In einer Baracke von zwölf Quadratmetern, die<br />

nur aus Holz, Pappe und Stoff besteht und in der es<br />

keine Heizung und kein fließendes Wasser gibt, lebt<br />

der fast blinde, schwer diabeteskranke Vater mit drei<br />

weiteren Kindern. Erwachsene Menschen können<br />

in dieser vielleicht anderthalb Meter hohen Baracke<br />

nicht einmal aufrecht stehen. Der Mann erhält keinerlei<br />

soziale oder finanzielle Unterstützung seitens<br />

der montenegrinischen Behörden.<br />

Dennoch behauptet die Ausländerbehörde, dass er<br />

in der Lage sei, seine Kinder aufzunehmen und aufzuziehen.<br />

In einem weiteren dramatischen Fall will die Ausländerbehörde<br />

einen sechs Jahre alten Jungen abschieben,<br />

dessen Vater, Mutter und Bruder seit Jahren<br />

legal im Hamburg leben. Gerade jetzt, wo dieser<br />

Junge - in der Schule ist er Klassenbeste - beginnt,<br />

Freunde zu finden und sich zu integrieren, soll er<br />

das Land verlassen. Denn seine Familie hatte versäumt,<br />

in seinem Fall den Familiennachzug zu beantragen.<br />

Hier wird deutlich, wie inhuman und absurd<br />

die Bürokratie in vielen Fällen handelt.<br />

Schließlich will ich Ihnen noch von einem dritten<br />

Fall berichten. Es geht dabei um ein zwölf Jahre altes<br />

Mädchen aus Sierra Leone mit einem grausamen<br />

Schicksal. Das Mädchen ist von diesem Schicksal<br />

gezeichnet; als ich sie kennen lernte, hatte sie bereits<br />

das Gesicht einer 30-Jährigen. In dieser Angelegenheit<br />

bat mich ein Student vom sierraleonischen Verein<br />

in Hamburg um Hilfe, da er be<strong>für</strong>chtete, dass<br />

die Behörden das Kind <strong>für</strong> älter erklären werden, so<br />

wie es seit Jahren in Hamburg praktiziert wird.<br />

Das Mädchen zeigte mir damals eine Geburtsurkunde<br />

sowie etliche Fotos ihrer Familie. Einige dieser<br />

Fotos waren sehr grausam, auf ihnen waren Leichen<br />

zu sehen. Diese Fotos haben mich sehr bewegt<br />

und lange beschäftigt. Der Vater des Mädchens ist<br />

ein wichtiger Mann im Militär gewesen. Auf Fragen<br />

nach ihrer Herkunft reagiert das Mädchen immer<br />

noch mit Weinkrämpfen oder mit Apathie. Glücklicherweise<br />

konnte sie in die Familie der Vormundin<br />

Mama Lilo aufgenommen werden. Mit deren Hilfe<br />

blieb es ihr auch erspart, amtlich <strong>für</strong> älter erklärt<br />

und nach Ostdeutschland umverteilt zu werden.<br />

Das Mädchen lebt heute mit zwei weiteren Kinderflüchtlingen<br />

und sechs deutschen Kindern in einem<br />

Hamburger Kinderhaus. Es gelingt nicht oft, so eine<br />

Möglichkeit <strong>für</strong> Flüchtlingskinder zu erstreiten.<br />

Einige Wunden sind geheilt, aber noch immer hat<br />

dieses Mädchen Albträume. Die deutsche Sprache<br />

beherrscht sie mittlerweile perfekt. Sie besucht eine<br />

28


Anke Wagener-Nordelbische Ev. Luth. Kirche<br />

Regelschule und strebt den Hauptschulabschluß an.<br />

Eine Operation am Herzen hat sie gut überstanden.<br />

Eine weitere Operation, um die Folgen einer Genitalverstümmelung<br />

zu behandeln, steht ihr noch bevor..<br />

Noch immer ist das Mädchen nicht in der Lage,<br />

alle grausamen Erinnerungen im Detail zu schildern.<br />

Trotz ihrer grausamen Vergangenheit und ihres<br />

schweren Schicksals ist der Aufenthaltsstatus<br />

nach wie vor nicht gesichert.<br />

Das sind drei Beispiele aus Hamburg. New Yorker<br />

und Londoner Zeitungen berichteten im Herbst<br />

2003, dass Hamburg die erste europäische Stadt ist,<br />

die Kinderrechte missachtet, weil sie nämlich Kinder<br />

abschiebt. Es gibt mehrere Tausend in Deutschland<br />

lebende Kinderflüchtlinge. Ihre Zahl ist in letzter<br />

Zeit nicht mehr konkret zu bennenen, weil nur<br />

die unter Sechzehnjährigen gezählt werden. Es gibt<br />

fragwürdige Alterseinschätzungen sowie Umverteilungen<br />

aus Großstädten wie Hamburg und Berlin in<br />

andere Bundesländer. Immer mehr Kinder leben<br />

deshalb in der Illegalität, melden sich gar nicht mehr<br />

bei den Behörden und schlafen in Wohnunterkünften,<br />

wo sich teilweise zwei Kinder ein Bett teilen<br />

müssen. Diese "Kinder in der Illegalität" können<br />

nicht erfasst und unterstützt werden.<br />

Kinderflüchtlinge aus den Hauptfluchtländern verfügen<br />

regelmäßig nicht über ein Aufenthaltsrecht,<br />

da sie nur selten eine politische Einzelverfolgung im<br />

klassischen Sinne nachweisen können? Der aufenthaltsrechtliche<br />

Status beschränkt sich, soweit kein<br />

Abschiebungshindernis festgestellt werden kann,<br />

weitgehend auf die Duldung des Aufenthaltes. Das<br />

<strong>Asyl</strong>verfahren ist rechtlich nicht kindgerecht ausgestaltet,<br />

Kinder werden dem gleichen Verfahren mit<br />

den gleichen Fragen unterzogen wie erwachsene<br />

Flüchtlinge. Solche Fragen lauten beispielsweise:<br />

"Wo warst Du aktiv?", "Wann bist Du gekommen?",<br />

"Wie sah das Schiff aus, mit dem Du gekommen<br />

bist?". Kinder, die häufig noch unter dem Eindruck<br />

der Flucht und der Schrecken im Heimatland stehen,<br />

sind mit diesen Fragen meistens völlig überfordert.<br />

Eigentlich sollte es ein sinnvolles Clearingverfahren<br />

geben, in welchem die individuelle Situation jedes einzelnen<br />

Kindes zu klären ist. Gemeint ist die Suche<br />

nach kinderspezifischen Fluchtgründen. Wird jedoch<br />

lediglich eine Duldung erteilt, so erschwert das<br />

jede angemessene pädagogische Weiterversorgung<br />

von Minderjährigen. Die psychosoziale Situation<br />

der Kinder, die ungewisse Lebensplanung und die<br />

ständige Angst vor der Abschiebung sind der Auslöser<br />

<strong>für</strong> eine Flucht Minderjähriger in die Illegalität.<br />

Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht. So verlangt<br />

es unser Grundgesetz und das achte Buch des Sozialgesetzbuches,<br />

das Kinder- und Jugendhilfegesetz.<br />

Denn die minderjährigen Flüchtlinge sind in erster<br />

Linie Kinder, und sie sollten auch als solche behandelt<br />

werden. Diese Kinder haben ein Recht auf<br />

Schule, auf Ausbildung, und auf Arbeit. Die Teilnahme<br />

an Schulreisen und Gruppenausflügen stellen<br />

beispielsweise immer wieder ein <strong>Pro</strong>blem dar,<br />

selbst wenn die Reise nur von Schleswig-Holstein<br />

nach Dänemark geht. Ich könnte noch zahlreiche<br />

Beispiele nennen, die zeigen, wie stark Flüchtlingskinder<br />

benachteiligt sind. Benachteiligungen erstrecken<br />

sich auf die Förderung im Rahmen der Jugendhilfe,<br />

auf das Leben in einem Familienverbund<br />

oder in gleichwertigen Gemeinschaften, auf den<br />

Schutz tragfähiger Bindungen, auf die gesundheitliche<br />

Versorgung, auf die individuelle Förderung zu<br />

einem eigenverantwortlichen Handeln und auf<br />

Wertschätzung und Liebe.<br />

Die Kinder haben das Recht auf einen gleichberechtigten<br />

Platz in unserer Gesellschaft. Und so wie<br />

die Kinder uns heute brauchen, so braucht die Gesellschaft<br />

diese Kinder morgen.. Sie werden einmal<br />

ihren sozialen Beitrag leisten, wie es Frau Beck bereits<br />

während dieser Veranstaltung formulierte.<br />

Herr Oberbürgermeister Schmalstieg wies darauf<br />

hin, dass die Länder leer aussehen werden, wenn wir<br />

keine Kinder haben. Und die Kinder selbst brauchen<br />

einfach eine Lebensperspektive und eine Zukunft.<br />

Da<strong>für</strong> setzen wir vom "Bundesfachverband<br />

Unbegleiteter Minderjähriger Flüchtlinge" uns ein.<br />

(Applaus)<br />

Hieraus ergeben sich folgende Forderungen:<br />

Langjährig in Deutschland lebende Flüchtlingskinder<br />

müssen unbedingt ein <strong>Bleiberecht</strong> erhalten, das<br />

ihren Aufenthalt absichert und eine gleichberechtigte<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

29


Christian Schwarz-Schilling - Internationaler Streitschlichter<br />

15. Für ein <strong>Bleiberecht</strong><br />

Dr. Christian Schwarz-Schilling, Internationaler Streitschlichter<br />

<strong>für</strong> Bosnien und Herzegovina<br />

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe<br />

Freunde,<br />

zunächst möchte ich mich bedanken, dass ich hier<br />

eine Einladung bekommen habe, um hier bei diesem<br />

Hearing dabei zu sein. Es ist schön, dass man<br />

wieder das Gefühl hat, dass man ja doch unter verschiedenen<br />

Gruppen und Menschen gleiche Auffassungen<br />

wiederfindet, die so unglaublich wichtig<br />

sind, wenn wir an die Menschenrechte denken.<br />

Wenn wir an das Schicksal der Menschen außerhalb<br />

Deutschlands denken, aber auch wenn wir an das<br />

Schicksal von Menschen in der Bundesrepublik<br />

Deutschland denken. Ich möchte mich also<br />

zunächst bedanken und auch <strong>für</strong> die eindrucksvollen<br />

Beiträge, die ich bisher hören durfte. Ich konnte<br />

leider nicht pünktlich kommen, weil ich in einem<br />

Stau stand und dadurch meine Ankunft hier verspätet<br />

war.<br />

Es war im Monat Mai, also vor drei Wochen etwa,<br />

da gab es innerhalb von einer Woche zwei Fälle: Der<br />

eine Fall, eine Familie aus der Türkei, über zehn Jahre<br />

hier, die Eltern werden abgeschoben, die drei<br />

Kinder bekommen davon Wind; sie sind schon auf<br />

dem Weg zur Schule - als sie dort davon erfahren,<br />

rennen sie aus der Schule weg und tauchen unter in<br />

die Illegalität. Die Eltern - abgeschoben nach Istanbul.<br />

Eine Woche später, genau das umgekehrte Beispiel:<br />

Die Mutter, schwer krank, kann nicht abgeschoben<br />

werden, der Vater ist mit seinem Sohn auf<br />

Reisen und wurde nicht angetroffen. Aber die anderen<br />

drei Kinder waren zu Hause, morgens um sechs<br />

wurden sie aufgefordert sich fertig <strong>zum</strong>achen, teilweise<br />

sogar mit Handschellen <strong>zum</strong> Flughafen gebracht<br />

und abgeschoben.<br />

Was hier gerade auch die Vertreter der Kirchen gesagt<br />

haben, sollte uns zutiefst anrühren. Wenn wir<br />

das Wort "christlich" überhaupt noch irgendwie<br />

in den Mund nehmen wollen,<br />

dann schreit es wirklich <strong>zum</strong> Himmel, wie<br />

wir durch behördliche Erlasse Familien<br />

auseinander sprengen und wahrscheinlich<br />

<strong>für</strong> ihr ganzes weiteres Leben ins Unglück<br />

stürzen. Dass dieses in unserem Lande<br />

geschieht, immer wieder geschieht, ist eigentlich<br />

<strong>für</strong> jeden, der politisch in diesem<br />

Lande tätig ist, unerträglich. Und ich<br />

möchte mich deswegen jetzt nicht auf die<br />

religiösen Fragen beziehen, da haben die<br />

Kirchen ihr Wort gesagt und andere ihre<br />

Beiträge geliefert. Aber wenn man in der<br />

Politik ist, dann hat man ja wohl als Oberstes<br />

da<strong>für</strong> zu sorgen, dass wir ein Rechtsstaat<br />

sind und bleiben. Doch wenn der<br />

Staat selber Unglück über Familien bringt<br />

und familiäre Tragödien produziert,<br />

kommt die Frage, was ist heute ein<br />

Rechtsstaat? Ich glaube, dass die Gratwanderung,<br />

die wir hier gehen, immer<br />

komplizierter und immer fragwürdiger<br />

wird. Aber dabei können wir nicht stehen<br />

bleiben.<br />

Was heute alles gemacht wird, um irgendein<br />

abstraktes Ziel von Recht zu erreichen,<br />

kann nicht durch konkretes Unrecht<br />

geschehen (Applaus). Alle Welt und<br />

hier natürlich auch unser Staat, regen sich<br />

darüber auf, wenn Kriminelle den Schutz<br />

unseres Staates suchen und bekommen;<br />

und dieses wird als schlimmes Unrecht<br />

30


Christian Schwarz-Schilling - Internationaler Streitschlichter<br />

empfunden. Wenn sie sehen, wie in den Medien z.<br />

B. der Fall Kaplan bis zur Hysterie breitgetreten<br />

wird, dann stelle ich mir immer die Frage: Gut, da<br />

mögen ja bestimmte rechtsstaatliche Regelungen<br />

nicht vollkommen sein, sodass so einer krimineller<br />

Typ immer durchs Netz schlüpft und das tut, was er<br />

will. Richtig - so etwas muss unterbunden werden!<br />

Aber wer regt sich eigentlich auf bei den Tausenden<br />

von Menschen, die unschuldig sind und durch das<br />

Netz des Rechtsstaates fallen? (Applaus) Die nichts<br />

verbrochen haben, die nur friedlich hier mit uns leben<br />

wollen und daran gehindert werden und mit einer<br />

teilweise unmenschlichen Gewalt aus unserem<br />

Lande vertrieben werden? Nur in der allernächsten<br />

Umgebung, bei den Nachbarn, den Freunden, den<br />

Klassenkameraden, den Kollegen gibt es dann einmal<br />

einen Aufschrei der Empörung - doch bald<br />

wird alles wieder ruhig. Und die Politiker, die es eigentlich<br />

angeht, beruhigen sich ebenfalls und freuen<br />

sich, dass die lästigen Bittsteller nichts mehr von<br />

sich hören lassen - bis <strong>zum</strong> nächsten Fall. Die Gewöhnung<br />

an dieses Ritual ist wirklich besorgnis erregend.<br />

Es kann auch nicht die Entschuldigung gelten,<br />

dass Gesetze nie vollkommen sein können und<br />

dass immer wieder irgendwo Späne fallen, wo gehobelt<br />

wird. So leicht darf man das sich in der<br />

Politik nicht machen. In Wirklichkeit geht<br />

es gar nicht um individuelle Härtefälle, es<br />

geht um den "Härtefall Rechtsstaat Bundesrepublik<br />

Deutschland" in dem nämlich<br />

Gesetze gelten, die in einer völlig anderen<br />

Zeit gemacht worden sind und heute den<br />

Herausforderungen in keinster Weise gerecht<br />

werden können; oder es geht um Regelungen,<br />

wo sie schon vorausschauen können,<br />

dass sie zu einer Unzahl von schicksalmäßigen<br />

Verkettungen führen werden<br />

oder wo neue Regelungen zu Vorfällen mit<br />

Menschen führen, die auf unserem Boden<br />

mit uns zusammenleben wollen und wo es<br />

zu unendlichen Folgen von Ängsten führen<br />

wird. Das heißt also, hier liegt ein gravierender<br />

Systemfehler vor! Es ist nicht so,<br />

dass wir gute Gesetze haben, dass wir gute<br />

Verwaltungsvorschriften haben, und irgendwo<br />

haben wir etwas übersehen, sondern<br />

ein Systemfehler in der gesamten<br />

Handhabung auf diesem Gebiet ist seit geraumer<br />

Zeit deutlich sichtbar. Denn sonst<br />

könnten wir nicht Tausende solcher Fälle<br />

haben und jeden Tag irgendwo in der Bundesrepublik<br />

Deutschland werden ein/zwei<br />

neue Fälle bekannt (Applaus). Fälle, wo Eltern<br />

und Kindern oder eine ganze Familie<br />

in das Mahlwerk der Bürokratie geraten<br />

und ihres Lebens nicht mehr froh werden.<br />

ehemaliges Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.<br />

Und ich möchte ihnen sagen, es geht ja jedem<br />

so: Man ist nicht 100 % mit seiner Partei zufrieden,<br />

sondern hat hier oder da einmal mehr oder<br />

weniger großen Dissens. Entscheidend ist meines<br />

Erachtens, dass man seine Dissense benennt, begründet<br />

und zu seinen eigenen Auffassungen steht.<br />

(Applaus) (Zur Bundesintegrationsbeauftragten<br />

Marie-Luise Beck gewandt) Ich erinnere mich noch<br />

sehr gut, wie Sie, Frau Beck in der Opposition sitzend<br />

über die ganz große Katastrophe Srebrenica<br />

im Deutschen Bundestag berichtet haben. Und das<br />

war, glaube ich, noch vor dem furchtbaren Massaker,<br />

war noch in der Zeit der Eingeschlossenheit der<br />

Bevölkerung, der Flüchtlinge in dieser Stadt, wo das<br />

Wasser chemisch verunreinigt worden ist und die<br />

biologischen Grundlagen der Bevölkerung mehr<br />

und mehr zerstört worden sind. Man hörte Sie an,<br />

etwas ungläubig aber keiner hat es besonders Ernst<br />

genommen. Und dann ist alles Schlimme passiert,<br />

was man sich nur vorstellen kann. Dazu will ich<br />

noch eines sagen: Wir sprechen immer vom 11.<br />

September - das war etwas Furchtbares, darüber<br />

gibt es keinen Zweifel - aber dass dreimal so viel<br />

Menschen innerhalb von drei bis vier Tagen in Sre-<br />

Sie wundern sich vielleicht, weil ich als Mitglied<br />

der CDU hier bin (Gelächter) oder als<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

31


Christian Schwarz-Schilling - Internationaler Streitschlichter<br />

brenica systematisch umgebracht worden sind, davon<br />

weiß heute kaum einer etwas und dennoch liegt<br />

es uns viel näher, nämlich mitten in Europa und das<br />

ist auch noch passiert, weil der Westen versagt hat.<br />

In dem er die UN-Friedenszonen eingerichtet hat,<br />

die Flüchtlinge mussten ihre Waffen abgeben, weil<br />

sie sich angeblich in Sicherheit befinden, wie man<br />

ihnen sagte, und dann wurden sie wehrlos den Angreifern<br />

ausgesetzt und niedergemacht. Die so genannte<br />

Schutztruppe der UN, damals UNPRO-<br />

FOR, suchte das Weite. Es waren hier also nicht islamistische<br />

Fundametalisten, die das anrichteten,<br />

was da geschah, sondern es war die Unzuverlässigkeit<br />

der UN, Europas und des Westens insgesamt.<br />

Ist uns dies hier in Deutschland, in Europa bewusst?<br />

Ich muss Ihnen sagen, als Streitschlichter komme<br />

ich alle sechs bis acht Wochen dort hin nach<br />

Bosnien-Herzegovina und arbeite dort etwa zehn<br />

Tage, um in verschiedenen Kommunen und Kantonen<br />

die verschiedenen Parteien und Verwaltungen<br />

an einen Tisch zu bringen. Über 100 Verträge habe<br />

ich jetzt abgeschlossen, war in über 50 Gemeinden<br />

tätig. Aber jetzt war ich neulich wieder in Srebrenica<br />

und wissen Sie: wenn man dann sieht, dass da ein<br />

so genanntes UNDP-<strong>Pro</strong>gramm (United Nations<br />

Development <strong>Pro</strong>gramme) in Gang gesetzt werden<br />

sollte, um dieser Region nach dieser größten Katastrophe<br />

in Europa nach dem 2. Weltkrieg etwas zu<br />

helfen und wir zunächst von vierzig Millionen<br />

Dollar sprachen, der <strong>Pro</strong>jektumfang dann zwölf<br />

Millionen Dollar betragen hat, und dann schließlich<br />

ganze sechs Millionen zusammengekommen sind,<br />

und von den sechs Millionen dann drei Millionen<br />

bis jetzt zur Verfügung standen und wenn man dann<br />

erfährt, dass die Bundesrepublik Deutschland leider<br />

Gottes mit überhaupt nichts daran beteiligt ist, dann<br />

stellt man sich ja schon die Frage, wer muss sich hier<br />

eigentlich schämen? Diejenigen, die dort die Hölle<br />

erlebt haben oder diejenigen, die wie ich ihre Besuche<br />

machen, das Unglück sehen und aus einem<br />

Land kommen, das eigentlich anders hätte handeln<br />

müssen, damals wie heute. Ich sage das deswegen,<br />

weil im Grunde genommen das Leid sich immer<br />

weiter fortsetzt. Es ist schlimm, dass wir uns immer<br />

weiter daran gewöhnen und uns der Brutalität<br />

schon gar nicht mehr bewusst sind. Aber die Ausländerbeamten,<br />

haben sie eine Ahnung, was hier mit<br />

den Flüchtlingen vorgeht, wenn sie das Wort Srebrenica<br />

aussprechen oder in irgendein Dokument<br />

eintippen? Können sie wissen, was in diesen Menschen<br />

vorgeht?<br />

Oder ein anderes Beispiel der Unsensibilität und<br />

Unsinnigkeit: Wir reden bei der Debatte um das Zuwanderungsgesetz<br />

ständig von den notwendigen Integrationskursen<br />

und streiten uns um die Kosten,<br />

die damit zusammenhängen. Ja wozu brauchen wir<br />

eigentlich solche Kurse, wenn Flüchtlinge oder Ausländer<br />

die voll integriert sind, dann von uns wieder<br />

wegschickt werden? (Applaus) Was soll das? Kinder,<br />

die hier aufgewachsen sind, fließend Deutsch sprechen,<br />

kaum eine andere Schule in ihrem Leben gesehen<br />

haben, manchmal auch eben hier geboren<br />

sind, jetzt acht Jahre, zehn Jahre, zwölf Jahre alt<br />

sind. Ja was wollen wir denn mit Integrationskursen<br />

mehr erreichen, als was diese jungen Menschen erreicht<br />

haben? Also - wo ist hier die Glaubwürdigkeit?<br />

Wo ist hier die Logik? Wo ist hier das Verständnis<br />

dessen, was wir eigentlich wollen?<br />

Und es ist ja auch nicht so, dass wir hier vor Kinderfülle<br />

bersten und nicht mehr wissen, wo wir sie<br />

alle unterbringen können. Wir sollten froh sein,<br />

wenn wir noch ein paar, in intakten Familien aufgewachsene,<br />

vernünftige Menschen hier haben, die<br />

sich selbst bewiesen haben, dass sie sich integrieren<br />

können und friedliche Bürger dieses Landes werden<br />

wollen (Applaus).<br />

In diesem Sinne habe ich mich bemüht, wo immer<br />

ich konnte, tätig zu sein. Ich habe damals im Jahre<br />

2000, zusammen mit Parteien des Deutschen Bundestages<br />

einen Beschluss initiiert, der <strong>zum</strong>indest <strong>für</strong><br />

die damaligen Verhältnisse die wirkliche <strong>Pro</strong>bleme<br />

angesprochen und sowohl die Bundesregierung als<br />

auch vor allem die Länder gebeten hat, auf die humanitären<br />

Gesichtspunkte und Belange bei Rückführungen<br />

von Flüchtlingen zu achten und zu respektieren.<br />

Und dabei wurde dann im Einzelnen<br />

aufgezählt, wer eben nicht "zurückgeführt" werden<br />

soll, um dieses merkwürdige Wort zu gebrauchen,<br />

sondern wer ein <strong>Bleiberecht</strong> erhalten sollte. Und da<br />

sind eine ganze Menge differenzierte Kategorien<br />

genannt worden, welche in einem Rechtstaat, der<br />

die Würde des Menschen achtet, wie es im Artikel 1<br />

unseres Grundgesetzes heißt, würdig und angemessen<br />

gewesen wären.<br />

Hätte man das aufgegriffen und hätte man das von<br />

den damaligen Fall Bosnien-Herzegovina auf weitere,<br />

gleich gelagerte Fälle länger hier lebender Flüchtlinge<br />

übertragen, dann hätten wir mindestens 80%<br />

bis 90% derjenigen, die heute in diese katastrophale<br />

Lage der Beendigung von Duldungen hineingekommen<br />

sind, nicht als tragische Fälle auf unseren<br />

Schreibtischen. Und dann hätte man noch von Härtefällen<br />

sprechen können, wenn die letzten zehn<br />

oder fünfzehn <strong>Pro</strong>zent nicht gelöst werden können,<br />

weil man an etwas nicht gedacht hat, weil man eine<br />

Kategorie vergessen hat, weil es irgendeine menschliche<br />

Situation gibt, die man als Gesetzgeber oder<br />

Verordnungsgeber nicht voraussehen kann. Dann<br />

könnte man zu Recht von "Härtefällen" sprechen.<br />

Ich hoffe ja immer noch, dass das zu einem Kompromiss<br />

kommt. Ich war auch einer derjenigen, der<br />

bei dem Zuwanderungsgesetz seine Stimme dem<br />

Regierungsentwurf gegeben hat, weil ich der Meinung<br />

war, dass, auch wenn dieses Gesetz nicht voll-<br />

32


Christian Schwarz-Schilling - Internationaler Streitschlichter<br />

kommen ist, es in jedem Falle immer noch gerechter<br />

ist, als die Zustände, die im Moment herrschen.<br />

Aus dem Grunde war es meines Erachtens auch eine<br />

Pflicht desjenigen, der diese Dinge aus eigener<br />

Erfahrung wirklich kennt, dem seine Stimme zu geben.<br />

Jetzt reden wir seit etwa vier, fünf Jahren von Veränderungen,<br />

und wir haben sie immer noch nicht<br />

erreicht. Politik geht ja heute langsam voran, aber so<br />

langsam wie beim Zuwanderungsgesetz, ich muss<br />

schon sagen, solche Gesetzgebungswerke gibt es eigentlich<br />

kaum. Zumal es eben offensichtlich ist,<br />

dass hier durch bewusste Politisierung eine so große<br />

Meinungsverschiedenheit in unserer Gesellschaft<br />

herrscht, meistens durch Fehlinformation bzw.<br />

Nichtinformation und durch eine falsche Auffassung<br />

über das, was in unserem Land geschieht und<br />

was Menschenwürde bedeutet. Dass die Menschenwürde<br />

eben nicht gebunden ist an deutsche Staatsbürgerschaft,<br />

und dass sie gültig ist <strong>für</strong> alle diejenigen,<br />

die auf unserem Boden leben. Und so hat es<br />

das Grundgesetz auch formuliert und vorgesehen,<br />

ungeachtet ethnischen, staatsbürgerlichen oder religiösen<br />

Zugehörigkeiten.<br />

Ich muss Ihnen allerdings eines sagen, und das<br />

macht mich sehr besorgt: In dem Moment, wo ein<br />

Rechtsstaat, der bekanntermaßen aus drei Gewalten<br />

besteht, Legislative, also der Gesetzgeber, Exekutive,<br />

die Verwaltung oder die Regierung und Judikative,<br />

das Rechtswesen, Arm in Arm in eine Richtung<br />

marschiert und die eigentliche Aufgabe der gegenseitigen<br />

Kontrolle nicht mehr wahrnimmt, da muss<br />

man sich die Frage stellen, was ist hier überhaupt<br />

passiert und was könnte passieren, wenn es so weitergeht?<br />

Ich muss Ihnen sagen, dass mich das beunruhigt,<br />

was z. B. durch die anonymen Konferenzen<br />

der Innenminister beschlossen wird und ohne wirkliche<br />

Kontrollen - denn wer kontrolliert denn diese<br />

Beschlüsse - so etwas ist in unserer Verfassung jedenfalls<br />

nicht vorgesehen. Wir erleben es jetzt dann<br />

und wann einmal bei der Kultusministerkonferenz,<br />

dass Eltern sagen, ja was ist das denn <strong>für</strong> ein Unsinn,<br />

der da beschlossen worden ist. Es ist aber kein<br />

Parlament da, was diese Beschlüsse jedes Mal kontrollierend<br />

begleitet, ändert oder kritisiert. Nein,<br />

wenn es eine Konferenz der entsprechenden Minister<br />

gibt, die alle zu einer Meinung gekommen sind,<br />

dann ist das sakrosant und richtig und keiner wagt<br />

mehr, in irgendeinem Parlament dazu irgendetwas<br />

noch zu sagen. Wenn es eine Rechtschreibreform<br />

gibt, da werden dann plötzlich ausgedehnte Diskussionen<br />

geführt, weil man merkt, dass man jahrelang<br />

die Entwicklung nicht zur Kenntnis genommen hat<br />

und spürt, dass die Weisheit hier auch nicht mit Löffeln<br />

gegessen wurde. Ähnlich bei der Innenministerkonferenz:<br />

Hier werden Regelungen getroffen,<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

33


Christian Schwarz-Schilling - Internationaler Streitschlichter<br />

die jeweils den ganzen Menschen betreffen, die<br />

große Gruppen von Menschen betreffen, die aber<br />

nur von einem Segment der Politik, nämlich der Innenpolitik,<br />

ausformuliert und bestückt werden. Alle<br />

anderen Gesichtspunkte, die mit dem Menschen etwas<br />

zu tun haben, bleiben außen vor, weil es nur eine<br />

Gruppe von Menschen ist, nämlich die Innnenpolitiker,<br />

die hier in kollegialer Solidarität übereinstimmend<br />

ihre Entscheidungen treffen. Das Gesamtparlament<br />

ist in der Praxis ausgeblendet. Wo<br />

sind die Innenminister, die zur Konferenz kommen<br />

und sagen: "Also liebe Leute, jetzt habe ich hier wieder<br />

drei Fälle auf dem Tisch liegen, die mit unserer<br />

jetzigen Regelung einfach nicht lösbar sind, deswegen<br />

sage ich, hier müssen dringend Änderungen<br />

eintreten." Stattdessen sagt dieser Innenminister zu<br />

seinen Beamten - sofern er die Unsinnigkeit der<br />

strikten Anwendung vorgesehener Regelungen<br />

sieht: " Leute, macht diesen Fall jetzt nicht so Aufsehen<br />

erregend, vielleicht<br />

können wir dadurch, dass<br />

wir den Fall erst einmal<br />

wieder nach unten in den<br />

Aktenstoß packen die<br />

nächsten Monate darüber<br />

Ruhe bewahren - vielleicht<br />

gibt´s ja später mal ´ne Regelung,<br />

wir verhandeln ja<br />

noch weiter, sodass wir diese<br />

Frage jetzt nicht aufgreifen<br />

sollten."<br />

Für ein in Ordnung befindliches<br />

Rechtswesen eine<br />

merkwürdige Situation!<br />

Oder wenn Ihnen dann ein<br />

anderer Innenminister sagt,<br />

"Ja, also, was wollen Sie<br />

denn eigentlich, wenn Sie<br />

wirklich einen schwierigen<br />

Fall haben, dann melden<br />

Sie sich doch mal bei mir,<br />

ich werde dann sehen, was<br />

wir in der Sache tun können<br />

und wie wir eine Regelung<br />

finden können, die<br />

das <strong>Pro</strong>blem aus der Welt schafft". Ja wo oder in<br />

welchem Land leben wir eigentlich? (Applaus), dass<br />

man mit guten Beziehungen die Sache weiter nach<br />

vorne bringt? Das ist nicht der Staat, den wir wollen!<br />

Wir wollen, dass jeder gleiches Recht hat, vor einem<br />

legal verankerten Staat. Und was machen die<br />

Petitionsausschüsse? Was machen die Innenausschüsse?<br />

Wer hat sich wirklich mit diesen Fragen beschäftigt?<br />

Es kann doch nicht wahr sein, dass diese<br />

Fülle von Fällen bei den Ausschüssen kollektiv immer<br />

gleich negativ verabschiedet werden und jeweils<br />

immer nur eine entsprechende Empfehlung von<br />

dem gleichen Minister kommt, dessen Behörde entschieden<br />

hat und dessen Behörde die dazu gehörige<br />

Verordnung ausgearbeitet hat! Meine Damen und<br />

Herren, ich glaube hier ist ein grundsätzliches <strong>Pro</strong>blem,<br />

und wenn wir die <strong>Pro</strong>blematik nicht in dieser<br />

Frage, wo es eigentlich offensichtlich wird, aufgreifen,<br />

könnte es in anderen, komplexeren Fragen<br />

noch viel gefährlicher werden. (Applaus)<br />

Meine Damen und Herren, ich habe mich damals,<br />

vor einigen Monaten dieser Kampagne von <strong>Pro</strong><br />

<strong>Asyl</strong> "Wer lange hier lebt muss bleiben dürfen" angeschlossen,<br />

so stark ich konnte. Ich habe viele <strong>Pro</strong>minente<br />

angeschrieben, ich habe teilweise befriedigende,<br />

meistens aber keine befriedigenden Antworten<br />

bekommen. Und man merkt natürlich immer<br />

schon, wo die aktenmäßigen Versatzstücke benutzt<br />

werden, wo also längst ausgediente Argumente<br />

dann jeweils von den Referenten zusammengestellt<br />

werden. Und dann macht man sich so seine Gedanken,<br />

wer wie seine Briefe<br />

schreibt und beantwortet.<br />

Ich hoffe wirklich, dass wir<br />

im Zuwanderungsgesetz<br />

auch nach meinem Gesamteindruck<br />

der Antworten<br />

zu einem Kompromiss<br />

kommen, obwohl dieser<br />

Kompromiss, wie man ja<br />

schon heute sehen kann,<br />

weitere Härtefälle produzieren<br />

wird - nicht nur andere<br />

beseitigen, sondern<br />

eben neue wieder produzieren<br />

wird. Wo Dinge zu<br />

eingegrenzt und restriktiv<br />

festgelegt werden, wo zeitliche<br />

Grenzen ohne die<br />

Praxis des Lebens eingezogen<br />

werden, wo man jetzt<br />

schon sieht, dass die Kompromisslinien<br />

sich in diese<br />

Richtung bewegen, da weiß<br />

man schon jetzt, dass es<br />

nicht funktionieren wird,<br />

<strong>zum</strong>indestens nicht in dem<br />

Umfang, wie es funktionieren<br />

könnte. Z. Bsp. wenn ein Mensch, der hier jahrelang<br />

gelebt hat, der seine Arbeitsstelle hat und der<br />

von seinem Arbeitgeber durch Zertifikat besonders<br />

gelobt wird, bei der Vorsprache beim Arbeits- oder<br />

Ausländeramt zu hören bekommt: "Ja, wo ist denn<br />

das "besondere öffentliche Interesse", dass Sie hier<br />

weiter leben und arbeiten müssen." Wenn diese Formulierung<br />

nun dahin abgeändert wird, dass man das<br />

Wort "besonders" streicht und nur noch das "öffentliche<br />

Interesse" als notwendig anerkennen will,<br />

dann weiß ich nicht, worin hier ein großer Unterschied<br />

besteht, denn die Tatsache, dass friedliebende<br />

Menschen, die längere Zeit hier sind auch<br />

34


Christian Schwarz-Schilling - Internationaler Streitschlichter<br />

tatsächlich hier bleiben sollen, habe ich als ein "öffentliches<br />

Interesse" noch nicht formuliert gehört.<br />

Wenn dies unser Staatsverständnis sein sollte, nehme<br />

ich alles zurück. Bei den entsprechenden Staatsbeamten<br />

habe ich das jedenfalls noch nicht in der<br />

Weise interpretiert gehört.<br />

Wenn ich <strong>zum</strong> Arbeitsamt gegangen bin oder zu einer<br />

Ausländerbehörde, dann war das immer die Frage,<br />

ja wo ist denn hier das "öffentliche Interesse",<br />

dass dieser Mann jetzt hier bleiben muss. Wir werden<br />

sehen, was dieser Unterschied bei der Behörde<br />

bedeuten wird. Es geht in jedem Falle meistens<br />

nicht um den Menschen, sondern es ging dann darum,<br />

ob in der Branche besondere Interessen <strong>für</strong> den<br />

Staat herrschen, wie viele Leute arbeitslos sind, wie<br />

viele Leute vielleicht auch in dieser Branche arbeitslos<br />

sind. Und so wurden, wie ich es erwähnt habe,<br />

die Argumente <strong>für</strong> diesen vor uns stehenden Menschen<br />

durch statistische Fakten zugeschüttet und<br />

die überlegene Antwort der Behörde war immer die<br />

Statistik, die natürlich so anonym ist, dass man jeden<br />

Menschen damit psychisch erschlagen kann.<br />

Von daher gesehen, habe ich große Zweifel, dass z.<br />

Bsp. eine solche Begriffsveränderung, die in dem<br />

neuen Zuwanderungsgesetz eingeführt werden soll,<br />

wirklich eine Änderung in den Entscheidungsparametern<br />

bewirken wird. Nein, wir müssen wieder das<br />

in den Mittelpunkt stellen, was das Grundgesetz in<br />

den Mittelpunkt gerückt hat, dass die Person das<br />

oberste Kriterium in unserem Staat ist. Haben wir<br />

denn vergessen, dass der Unterschied von der Weimarer<br />

Republik zur Bundesrepublik der ist, dass in<br />

der Weimarer Verfassung der Ausgangspunkt aller<br />

weiteren Gesetze der Staat war, währenddessen in<br />

der Bundesrepublik Deutschland das Grundgesetz<br />

seinen Ausgangspunkt bei der Person und seiner<br />

Würde hat und der Staat erst dahinter kommt. Haben<br />

wir in unserem Bewusstsein überhaupt begriffen,<br />

was die Väter und Mütter des Grundgesetzes,<br />

die damals nach der Katastrophe des nationalsozialistischen<br />

Staates beraten haben, sich überhaupt dabei<br />

gedacht haben? Das war sehr bewusst so gemacht<br />

worden und wir müssen das schnellstens<br />

nachvollziehen, denn sonst werden wir den Fährnissen,<br />

vor denen wir stehen, nicht gewachsen sein.<br />

Ich kriege manchmal eine Gänsehaut, wenn ich sehe,<br />

was heute aufgrund der Terrorgefahr an rechtsstaatlichen<br />

Barrieren einfach weggeräumt wird<br />

(Applaus).<br />

Und jetzt komme ich zurück auf das, was Sie vorhin<br />

gesagt haben. (Zu Frau Beck gewandt) Wenn Sie<br />

etwas Geschichte studiert haben, dann sehen Sie,<br />

wie unmerklich Errungenschaften der Menschheit<br />

und der Kultur, wenn sie nicht bewusst und präsent<br />

in den Köpfen sind, wieder vergessen werden. Und<br />

eines Tages werden wir konfrontiert mit Zuständen,<br />

von denen wir überhaupt nicht <strong>für</strong> möglich gehalten<br />

haben, dass sie jemals wieder eintreten können. Und<br />

aus diesem Grunde rufe ich Ihnen allen zu: "Sie<br />

kämpfen hier eigentlich, auch unsere ausländischen<br />

Freunde, nicht <strong>für</strong> sich, Sie kämpfen <strong>für</strong> die Würde<br />

hier in unserem Land. Sie kämpfen <strong>für</strong> das höchste<br />

Recht in unserem Staat Bundesrepublik Deutschland."<br />

(Applaus)<br />

Dass dieser Staat die Fährnisse der Zukunft besteht,<br />

dass er die entsprechenden Parameter des Rechtstaates<br />

immer wieder in die Mitte rückt. Und es<br />

muss immer wieder nachjustiert werden, weil der<br />

Mensch so wie die Geschichte und die Völker sich<br />

jeden Tag verändern und neue Herausforderungen<br />

und auch neue Antworten brauchen. Dies gilt auch<br />

<strong>für</strong> die gesetzlichen Rahmenbedingungen, in denen<br />

wir hier alle leben und leben wollen, die natürlich<br />

entsprechend neu justiert werden müssen.<br />

Der große Völkerrechtslehrer, der eigentlich <strong>zum</strong><br />

ersten Mal über den Frieden der Völker ein großes<br />

Werk geschrieben hat, Hugo Grotius, im 16. Jahrhundert,<br />

er hat gesagt, “man muss mit allen seinen<br />

Kräften an dem Tag, in dem Jahrhundert, in dem man<br />

lebt, mit allen seinen Kräften gegen das Herabfließen<br />

der Dinge ins Schlechtere stemmen, wenn man den<br />

Zustand, den man einmal erreicht hat, erhalten will”.<br />

Das vergessen wir. Es ist wirklich so, dass, wenn wir<br />

nicht aufpassen, auch das wieder verloren geht, was<br />

frühere Generationen mühsam erreicht haben. Gerade,<br />

wenn wir jetzt diese Feiern von der Normandie<br />

sehen, (Anmerkung: Dr. Schwarz-Schilling spielt<br />

auf 60 Jahre D-Day an) wo Menschen mit ihrem<br />

Leben bezahlt haben und zwar Tausende, Zigtausende,<br />

um unseren Kontinent zu befreien. Die Befreiung<br />

von der Diktatur zur Demokratie und <strong>zum</strong><br />

Rechtsstaat hin, wenn das nicht fest in unseren<br />

Köpfen ist, dass das <strong>für</strong> jede Generation eine neue<br />

Aufgabe ist, dann könnten wir unsere Errungenschaften<br />

wieder verlieren. Und hier steht das Ausländerrecht,<br />

wie wir es ja bezeichnen, als ein ganz<br />

wichtiger Bestandteil rechtsstaatlicher Neuentwicklung<br />

vor uns, die absolut erforderlich ist. Und deswegen<br />

wäre es eine Schande, wenn wir in dieser<br />

Zeit, in der wir heute leben, angesichts der Fälle, die<br />

jedem, der nur seine Augen aufmacht, vor Augen<br />

stehen, sagen, er wüsste es nicht, was hier los ist.<br />

Wir wissen es alle und wir wissen es genau, wenn<br />

wir uns darum bemühen. Wir nehmen es nur nicht<br />

ernst genug. Und aus diesem Grunde rufen Sie es so<br />

laut wie Sie können weiter heraus, und seien Sie<br />

sicher, es gibt in allen Parteien Menschen, die hören,<br />

die sehen, die dem zustimmen und die den Kampf<br />

dann vielleicht ermutigter als bisher, wieder aufnehmen.<br />

Ich danke Ihnen (Applaus).<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

35


Ulrike Grund Mobile Beratung <strong>für</strong> Opfer rechtsextremer Gewalt<br />

16. Verantwortung <strong>für</strong> die Opfer<br />

rassistischer Gewalt<br />

Ulrike Grund, Mobile Beratung <strong>für</strong> Opfer rechtsextremer Gewalt<br />

in Sachsen-Anhalt<br />

Guten Tag!<br />

In unserer Beratungsstelle in Sachsen-Anhalt beraten<br />

und unterstützen wir auch Betroffene von rassistischer<br />

und minderheitenfeindlicher Gewalt. Dabei<br />

handelt es sich um eine Personengruppe, die erstaunlicherweise<br />

recht selten im Zusammenhang<br />

mit der Diskussion um das <strong>Bleiberecht</strong> erwähnt<br />

wird. In den meisten Fällen ist Rassismus das<br />

grundlegende Motiv minderheitenfeindlicher Gewalt.<br />

Es existieren Zahlen aus verschiedenen Beratungsstellen<br />

in den neuen Bundesländern, die - wie<br />

unsere Beratungsstelle - teilweise von der Bundesinitiative<br />

"Civitas" gefördert werden, denen zufolge<br />

ein sehr hoher Anteil von ungefähr zwei Drittel der<br />

von rassistischer Gewalt Betroffenen Flüchtlinge<br />

und MigrantInnen sind. Daneben gibt es andere<br />

Opfergruppen, so beispielweise Angehörige alternativer<br />

Jugendkulturen, Behinderte sowie Angehörige<br />

anderer Minderheiten.<br />

Diejenigen, die sich an Beratungsstellen wenden<br />

oder von Beratungsstellen aufgesucht werden, stellen<br />

dabei keineswegs die Gesamtzahl der von rassistischer<br />

und rechtsextremer Gewalt betroffenen<br />

Menschen dar. Die Dunkelziffer, so wird vermutet,<br />

ist hoch und von vielen Fällen erfahren wir nicht.<br />

Rassistische Gewalt trifft Menschen dann besonders<br />

schwer, wenn, wie wir heute mehrfach an Beispielen<br />

gehört haben, ihre Lebenssituation und ihre<br />

Aufenthaltssituation in der Bundesrepublik nicht sicher<br />

ist. Zu der allgemein schwierigen Lebenssituation,<br />

die aus den fehlenden sozialen Bindungen und<br />

Kontakten sowie aus der ungewissen Zukunftsperspektive<br />

resultieren, treten dann noch die physischen<br />

und psychischen Folgen der Gewalttat. Es ist<br />

bekannt, dass MigrantInnen und Flüchtlinge ganz<br />

häufig schon zuvor in ihren Heimatländern von<br />

traumatischen Erlebnissen betroffen waren. Die<br />

daraus resultierenden Ängste und psychischen Leiden<br />

potenzieren sich, wenn die Betroffenen auch<br />

hier wieder zu Opfern von Gewalttaten, in diesem<br />

Fall zu Opfern rassistischer Gewalt, werden.<br />

Um ein deutliches politisches Signal gegen rassistische<br />

Gewalt zu setzen, fordern wir seitens der gesamten<br />

Arbeitsgemeinschaft dieser Beratungsprojekte<br />

in Deutschland (agora) ein uneingeschränktes,<br />

dauerhaftes <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> die Opfer rassistischer<br />

Gewalt. Dieses muss grundsätzlich gewährleistet<br />

werden, unabhängig von den Folgen des Angriffs,<br />

und darf an keine weiteren Voraussetzungen geknüpft<br />

sein.<br />

Das ist unsere Hauptforderung. Dieser Forderung<br />

nach einem dauerhaften Bleiberrecht liegen drei wesentliche<br />

Sachverhalte zugrunde:<br />

1. Die Gewährung eines uneingeschränkten <strong>Bleiberecht</strong>s<br />

würde sowohl den Opfern als auch ihrem<br />

sozialen Umfeld zeigen, dass die Gesellschaft die<br />

Verantwortung <strong>für</strong> das übernimmt, was in diesem<br />

Land geschieht. Rassistische Angriffe sollen den<br />

Opfern <strong>zum</strong>eist die Daseinsberechtigung, oder<br />

doch <strong>zum</strong>indest das Aufenthaltsrecht in diesem<br />

Land absprechen. Der aus solchen Angriffen resultierende<br />

Schaden ist jedoch nicht ausschließlich<br />

auf physische und psychische Folgen beim<br />

Opfer beschränkt. Vielmehr verstehen die Opfer<br />

und ihr Umfeld genau, dass der Angriff nicht<br />

dieser einzelnen Person gilt, sondern auf eine bestimmte<br />

Gruppe von Menschen zielt. In der Folge<br />

wirkt sich ein rassistischer Angriff in Form<br />

von Angst, Einschüchterung, Einschränkung der<br />

Bewegungsfreiheit und Desintegration nicht nur<br />

auf das einzelne Opfer aus, sondern auf das gesamte<br />

soziale Umfeld, in dem die betroffene Person<br />

lebt. Durch die Gewährung eines <strong>Bleiberecht</strong>s<br />

werden sowohl die Betroffenen als auch<br />

das soziale Umfeld erfahren, dass sie nicht sich<br />

selbst überlassen bleiben und allein gelassen werden,<br />

sondern eine deutliche gesellschaftliche Unterstützung<br />

erhalten.<br />

36


Samir Asanovic<br />

2. Es gilt, gegenüber den Tätern und der gesamten<br />

Gesellschaft ein politisches Signal zu setzen. Die<br />

Täter sprechen, wie ich bereits betonte, den Opfern<br />

das Recht ab, in der Bundesrepublik<br />

Deutschland zu leben und glauben, durch ihre<br />

Tat einem allgemeinen gesellschaftlichen Grundkonsens<br />

Ausdruck zu verleihen. Durch die Gewährung<br />

eines <strong>Bleiberecht</strong>s allerdings wird die<br />

Wirkung des Angriffs gebrochen und ins Gegenteil<br />

verkehrt. Durch das <strong>Bleiberecht</strong> wird den Tätern<br />

schlichtweg gezeigt, dass ihre Handlung<br />

nicht akzeptiert wird und sie damit keinen Erfolg<br />

haben, sondern sogar das Gegenteil erreichen.<br />

Zudem signalisiert ein <strong>Bleiberecht</strong> den Opfern<br />

rassistischer Angriffe, das die Gesellschaft Verantwortung<br />

auch <strong>für</strong> die Folgen politischen und<br />

gesellschaftlichen Versagens übernimmt, denn<br />

rassistische Gewalt ist nicht zuletzt eine Folge<br />

dieses Versagens. Wenn dieses Eingeständnis in<br />

der Öffentlichkeit stärker thematisiert würde, wäre<br />

das auch eine Art der Anerkennung jener Menschen,<br />

denen diese Gewalt angetan wird.<br />

3. Der dritte Aspekt betont die humanitären Verpflichtungen<br />

unserer Gesellschaft. Menschen mit<br />

einem ungesichertem Aufenthaltsstatus befinden<br />

sich regelmäßig in einer sehr kritischen Lebenssituation.<br />

Oft ist ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt,<br />

sie dürfen nicht arbeiten, es fehlt an sozialen<br />

Kontakten und sie haben eine völlig ungewisse<br />

Zukunftsperspektive. Aus diesem Grund<br />

entfaltet ein rassistischer Angriff sehr viel einschneidendere<br />

Wirkungen bei dieser speziellen<br />

Personengruppe als bei anderen Opfergruppen.<br />

Und vor diesem Hintergrund schafft die Gewährung<br />

eines <strong>Bleiberecht</strong>s zusätzliche Sicherheit<br />

und Perspektiven, die es ermöglichen können, die<br />

erlittenen Verletzungen besser zu verarbeiten.<br />

Die Folgen einer psychischen Gewalttat bestehen<br />

nicht allein in körperlichen, sondern auch in psychischen<br />

Verletzungen. Viele der hier Anwesenden<br />

wissen, wie schwierig es ist, traumatische Erlebnisse<br />

mittels <strong>langjährig</strong>er Therapien soweit bewältigen zu<br />

können, um ein menschenwürdiges Leben zu<br />

führen. Ein Leben in Sicherheit ist da<strong>für</strong> die<br />

wesentliche Voraussetzung. Mit diesen Worten werde<br />

ich meinen kurzen Beitrag beenden. Ich bedanke<br />

mich <strong>für</strong> ihr offenes Ohr und hoffe, dass Sie im<br />

Rahmen Ihrer <strong>Bleiberecht</strong>skampagne auch die<br />

Opfer rassistischer Gewalt berücksichtigen.<br />

(Applaus)<br />

17. "Diese Gesetze sind sind gefühllos!"<br />

Samir Asanovic<br />

Schönen guten Tag,<br />

mein Name ist Samir Asanovic.<br />

Ich bin im Alter von siebeneinhalb<br />

Jahren mit meiner<br />

Familie nach Deutschland<br />

gekommen und gehe<br />

heute in die zweijährige Wirtschaftsschule,<br />

kaufmännischer<br />

Bereich. Ich wollte auf<br />

jeden Fall meine Zukunft hier aufbauen. Das<br />

geht halt leider nicht mehr, da ich jetzt am 15.<br />

Juli abgeschoben werde. Meine Zukunft ist jetzt<br />

kaputtgegangen, und ich kann leider nichts mehr<br />

dagegen machen. Wenn ich jetzt da unten in Jugoslawien<br />

lande, sehe ich keine Perspektive und<br />

keine Zukunft mehr, ich beherrsche noch nicht<br />

einmal die Sprache. Meine Familie ist durch die<br />

Abschiebungsdrohung krank geworden und musste<br />

psychisch betreut werden, das finde ich grausam.<br />

Als die Polizei mich abgeholt hat, haben sie mich<br />

zuerst ins Gefängnis gebracht. Ich hatte mir vorgenommen,<br />

nie in meinem ganzen Leben im Gefängnis<br />

zu landen. Aber es ist doch passiert, und das war<br />

sehr schlimm, es war der letzte Horror <strong>für</strong> mich.<br />

Dieses Gesetz ist ein<br />

Gesetz ohne Gefühle.<br />

Sorry, aber das<br />

Gesetz ist <strong>für</strong> mich<br />

kein Gesetz, es ist <strong>für</strong><br />

mich einfach eine<br />

Misshandlung von<br />

Menschen, so sage ich mal,<br />

und das finde ich nicht gut.<br />

Meine Zukunft, wie gesagt,<br />

die ist sowieso - Entschuldigung,<br />

wenn ich das sagen<br />

muss - "am Arsch" jetzt. Ich<br />

bin seit zwölfeinhalb Jahren<br />

hier in Deutschland, ich bin<br />

hier aufgewachsen und ich<br />

kriege noch nicht einmal die<br />

Möglichkeit, meine Zukunft<br />

hier aufzubauen. Das ist eine Frechheit! Was soll ich<br />

dazu sagen (?), ich hoffe die Politiker hören dies und<br />

halten ihre Ohren offen. Ich hoffe, die ändern noch<br />

etwas, und ich hoffe, das Gesetz existiert bald nicht<br />

mehr. Ich hoffe, das Gesetz wird endlich einmal<br />

davongehen. So, das war's. (Applaus)<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

37


Lothar Flachsbart - <strong>Asyl</strong>beratung von amnesty international in Hannover<br />

18. Das Schicksal der Familie Kisivu<br />

Lothar Flachsbart<br />

Mein Name ist Lothar Flachsbart, ich arbeite bei<br />

amnesty international Hannover in der <strong>Asyl</strong>beratung.<br />

Die Familie Kisiwu kann heute nicht hier sein,<br />

deswegen möchte ich stellvertretend die Erlebnisse<br />

schildern, mit einer, Gott sei Dank, negativ endenden<br />

Abschiebung. Dieser Bericht, den ich hier gebe,<br />

ist einem Petitionsantrag entnommen, den die Anwältin<br />

dieser Familie an den Niedersächsischen<br />

Landtag gestellt hat. Darüber ist allerdings bis heute<br />

noch nicht entschieden worden, wie<br />

mir die Rechtsanwältin bestätigt hat.<br />

Bei der aus der Demokratischen Republik<br />

Kongo, ehemals Zaire, kommenden<br />

Familie Kisiwu handelt sich<br />

um Freddy Ndungidi Kisiwu, 38 Jahre<br />

alt; seine Ehefrau Tschianana Nguya,<br />

31 Jahre alt; um den Sohn Fabrice, er<br />

ist jetzt 15 Jahre alt, um die Tochter<br />

Josephat, sie ist zehn Jahre alt sowie<br />

um Priscilla, sie ist zwei Jahre alt.<br />

Frau und Herr Kisiwu leben seit fast zehn Jahren in<br />

Deutschland. Nach der Einreise in unser Land haben<br />

sie <strong>Asyl</strong> beantragt. Auch die Kinder haben <strong>Asyl</strong>anträge<br />

gestellt. Alle Anträge sind rechtmäßig abgelehnt<br />

worden. Noch vor dem Eintritt der Rechtskraft<br />

des Urteils gegen die in Deutschland geborene<br />

und damals ein Jahr alte Priscilla Kisiwu, hat die<br />

Ausländerbehörde Hameln einen Abschiebeversuch<br />

über Holland unternommen. Dieser gestaltete sich<br />

folgendermaßen: Die Polizei und eine Vertreterin<br />

der Ausländerbehörde suchten in der Nacht vom<br />

16. auf den 17. Februar 2004 laut Schilderung des<br />

Ehepaares Kisiwu um 3:3O Uhr die Wohnung der<br />

Familie auf und führte die Festnahmen durch. Dieses<br />

Vorgehen verstößt gegen § 1O4 StPO, denn danach<br />

ist eine solche Maßnahme erst ab<br />

6.00 Uhr erlaubt. Freddy Kisiwu wurden<br />

Handschellen angelegt und er wurde <strong>zum</strong><br />

Amtsgericht gefahren, welches dann einen<br />

Abschiebebeschluss traf. Dieses Vorgehen<br />

verstieß ebenfalls gegen das Bundesrecht,<br />

da in der Bundesrepublik Freiheitsentziehung<br />

grundsätzlich nur auf einen vorherigen<br />

Haftbefehl hin erfolgen darf.<br />

Eine Ausnahme begründende Gefahr im<br />

Verzug war im vorliegenden Fall nicht gegeben,<br />

da die zuständigen Verwaltungsorgane nicht<br />

daran gehindert waren‚ den Haftbeschluss vor der<br />

Maßnahme zu beantragen. Als der Vater der Familie<br />

abgeführt wurde, blieb die übrige Familie in der<br />

Wohnung, um Sachen zu packen. Währenddessen<br />

stellte sich heraus, dass der 14-jährige Fabrice verschwunden<br />

war. Darauf hin gab die Polizei die Anweisung,<br />

mit dem Packen der Sachen aufzuhören.<br />

Dadurch konnte die Mutter nur eine Windel <strong>für</strong> die<br />

kleine Priscilla mitnehmen. Nicht einmal Babynahrung<br />

konnte sie mitnehmen. Die Polizei wollte offenbar<br />

selbst alles Notwendige einpacken. Die Frau<br />

und die zwei Kinder wurden dann abgeführt.<br />

Im Laufe des Abschiebeversuchs<br />

wurde dem Familienvater<br />

mehrmals schlecht. Obwohl<br />

ein Arzt die Flugfähigkeit<br />

bescheinigt hatte, kam es<br />

während des Fluges <strong>zum</strong><br />

Atemstillstand des Herrn Kisiwu.<br />

Daraufhin wurde er gleich<br />

nach der Ankunft in Amsterdam<br />

in eine Klinik gebracht.<br />

Als er im Rollstuhl zurück<br />

kam, war der Flug nach Afrika<br />

bereits verpasst. Der nächste Flug sollte am 19. Februar<br />

2004 stattfinden. Die Familie schlief auf dem<br />

Boden im Flughafengebäude. Am nächsten Morgen<br />

erhielt die Familie von der holländischen Polizei<br />

zwei Euro und rief bei Bekannten in Deutschland<br />

an, um sich nach ihrem verschwundenen Sohn zu<br />

erkundigen. Von ihm fehlte und fehlt noch immer<br />

jede Spur. Fabrice ist auf der Flucht. Die holländischen<br />

Beamten haben daraufhin die Abschiebung<br />

abgebrochen und die Familie nach Deutschland<br />

zurückgeschoben. Dies alles musste eine Familie ertragen,<br />

deren Vater sozialversicherungspflichtig arbeitet.<br />

Der Sohn Fabrice ist an einer Realschule in<br />

Emmerthal bei Hameln hervorragend integriert.<br />

Die Klassenlehrerin, der Realschulrektor und 23<br />

Schüler haben eine Petition an den niedersächsischen<br />

Landtag unterschrieben.<br />

Fabrice ist im Fußballverein<br />

Preußen-Hameln 07<br />

als aktives Mitglied und als<br />

ein hervorragender Spieler<br />

und Mensch bekannt. Der<br />

Verein hat sich in einem<br />

Schreiben an das Gericht<br />

<strong>für</strong> den Spielkameraden<br />

eingesetzt. Auch die 10-<br />

jährige Josephat hat sich<br />

eine besondere Anerkennung<br />

bei der Fußballmannschaft TSG Emmerthal<br />

verdient Die Kinder der Familie sind hier aufgewachsen.<br />

Sie können sich ein Leben in einem anderen<br />

Land nicht vorstellen. Zaire assoziiert sich bei<br />

ihnen nur mit Angst. (Applaus)<br />

38


19. "Warum<br />

dürfen wir nicht zuhause bleiben"<br />

Suleyman Bulut<br />

Vor 12 Jahren kam ich mit meinen Eltern und meinen<br />

fünf jüngeren Geschwistern nach Deutschland.<br />

Es war im Mai 1992, da war ich gerade acht Jahre alt<br />

geworden. Heute bin ich also 20 Jahre alt. Zu unserer<br />

Familie sind in Deutschland noch die jetzt l0-<br />

jährige Suzan und die 6-jährige Leyla hinzugekommen.<br />

Als uns damals die Flucht aus der Türkei gelungen<br />

war, hatten wir große und berechtigte Hoffnung,<br />

hier in Deutschland nicht nur kurzfristig Zuflucht,<br />

sondern ein <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> immer zu bekommen.<br />

Diese Hoffnung wuchs noch, als Mitte<br />

der 90er Jahre die Geschwister meiner Eltern aufgrund<br />

der genau gleichen Verfolgungsgeschichte<br />

von verschiedenen Gerichten als <strong>Asyl</strong>berechtigte<br />

anerkannt wurden. Verschiedene Gerichte darum,<br />

weil es sich um mehrere Familien in unterschiedlichen<br />

Wohnorten oder gar anderen Bundesländern<br />

handelte. Nur unser AsyIverfahren, das nun weit<br />

mehr als ein ganzes Jahrzehnt gedauert hat, und das<br />

von andauernder Angst vor Abschiebung geprägt<br />

war, kommt erst jetzt, nach 12 Jahren, zu einem<br />

traurigen Abschluss. Mein durch Folter schwer traumatisierter<br />

Vater sowie auch meine Mutter, die viel<br />

Leid ertragen hat, dürfen zusammen mit meinen<br />

jüngeren Geschwistern <strong>für</strong> immer in Deutschland<br />

bleiben. Nicht bleiben dürfen mein zwei Jahre jüngerer<br />

Bruder und ich.<br />

Die Länge des Verfahrens hat uns volljährig werden<br />

lassen, und diese Volljährigkeit wurde uns <strong>zum</strong> Verhängnis.<br />

Als am 29. April diesen Jahres in Lüneburg<br />

das Urteil mündlich verkündet wurde, war Mustafa<br />

sogar noch 17 - also formal noch nicht einmal volljährig!<br />

Ich bin in diesem Land zehn Jahre zur Schule gegangen.<br />

Vor fast zwei Jahren habe ich in Wathlingen,<br />

Landkreis Celle, meinen erweiterten Realschulabschluss<br />

gemacht. Im Anschluss daran wollte ich<br />

eine Lehre als Bankkaufmann anfangen. Einen Ausbildungsplatz<br />

hatte ich bereits in Aussicht. Nur beginnen<br />

durfte ich die Lehre nicht, wegen meinem<br />

unsicheren Status als <strong>Asyl</strong>bewerber. Ich habe mich<br />

aber nicht entmutigen lassen und begann mit dem<br />

Besuch der einjährigen Höheren Handelsschule.<br />

Bald wurde ich von der Ausländerbehörde aufgefordert,<br />

den Schulbesuch zu unterlassen. Ich sollte<br />

gemeinnützige Arbeit leisten. Das hätte ich auch gut<br />

neben der Schule machen können. Doch darauf<br />

ging die Behörde nicht ein. Ich wollte so gerne weiter<br />

zur Schule gehen und versuchte, mich durchzusetzen.<br />

Daraufhin wurde die Hilfe <strong>zum</strong> Lebensun-<br />

Suleyman Bulut<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

39


Abdullah Birsen<br />

terhalt <strong>für</strong> meine Familie um meinen Anteil gekürzt.<br />

Nun gab ich auf, brach den Schulbesuch ab und trat<br />

die gemeinnützige Arbeit an, was mir zusehends<br />

schwerer fiel. Mein linker Arm wurde mir in der<br />

Türkei im Alter zwischen fünf und sechs Jahren<br />

vom türkischen Militär bei einer Mißhandlung gebrochen<br />

und hat sich auch wegen fehlender ärztlicher<br />

Versorgung nicht richtig entwickelt. Bei körperlicher<br />

Belastung ermüdet dieser Arm schnell und<br />

ich habe Schmerzen. So akzeptierte das Sozialamt<br />

nach einem halben Jahr, dass ich der vierstündigen<br />

Tätigkeit nicht mehr nachgehen konnte.<br />

Mein Wunsch ist nach wie vor, hier in Deutschland<br />

eine Ausbildung <strong>zum</strong> Bankkaufmann zu machen<br />

und mit Mustafa zusammen bei unserer Familie zu<br />

bleiben. Wohin sollten wir auch in der Türkei? Unser<br />

Heimatort Basak im Osten der Türkei wurde<br />

dem Erdboden gleichgemacht. Viele unserer Verwandten<br />

dort sind verstorben, verschollen, in Verfolgung<br />

umgekommen - oder aber, wie die erwähnten,<br />

als asylberechtigt anerkannten Angehörigen in<br />

verschiedenen Gegenden oder auch Bundesländern<br />

Deutschlands sesshaft geworden. Darüber hinaus<br />

ist der Osten auch der Ort der Verfolgung gewesen.<br />

In diese Gegend können wir nicht zurückgehen. Im<br />

Westen und in den größeren Städten wird nur türkisch<br />

gesprochen. Wir sind nie in der Türkei zur<br />

Schule gegangen, wir können überhaupt kein türkisch.<br />

Wir sprechen nur kurdisch, was wir zu Hause<br />

sprachen, und wir sprechen Deutsch, weil wir das<br />

hier gelernt haben.<br />

Unser Zuhause ist seit gut 12 Jahren Deutschland.<br />

Wir sind hier in Deutschland sozialisiert und integriert,<br />

hier sind unsere Wurzeln, in Vereinen, bei<br />

Freunden und in unserer Familie. Hier ist unser Zuhause.<br />

Warum dürfen wir nicht zuhause bleiben?<br />

(Applaus)<br />

20. DasLebenimAusreisezentrum"<strong>Pro</strong>jekt X"<br />

Abdullah Birsen<br />

Mein Name ist Abdullah Birsen, ich bin 37 Jahre alt,<br />

kurdischer Yezide, Scheich, aus Syrien. Als ich drei<br />

Jahre alt war, flohen meine Eltern nach Syrien, seit<br />

über zehn Jahren bin ich in Deutschland. Ich bin<br />

auch im yezidischen Verein in Niedersachsen aktiv.<br />

Und ich schreibe Theaterstücke. Im Jahr 1998 wurde<br />

ich als <strong>Asyl</strong>berechtigter nach § 51 anerkannt. Der<br />

Bundesbeauftragte <strong>für</strong> <strong>Asyl</strong>angelegenheiten legte jedoch<br />

dagegen Widerspruch ein. Ende 1999 wurde<br />

die <strong>Asyl</strong>anerkennung daraufhin aufgehoben. Am 25.<br />

Mai 2000 haben sie mich nach Braunschweig in ein<br />

sogenanntes Ausreisezentrum gebracht. Ich lebe<br />

seit vier Jahren in diesem "<strong>Pro</strong>jekt X" ( in der Zentralen<br />

Anlaufstelle <strong>für</strong> <strong>Asyl</strong>bewerberinnen und <strong>Asyl</strong>bewerber,<br />

ZASt, Braunschweig).<br />

Bis heute wurden über 22 Mal <strong>Anhörung</strong>en mit mir<br />

durchgeführt, und ich habe alle Beweise gegeben,<br />

dass ich staatenlos bin. Ich habe über zehn Zeugennamen<br />

angegeben aus meinem Dorf, ich war in der<br />

syrischen Botschaft, ich habe eine Identitätsbescheinigung<br />

als Staatenloser aus Syrien vorgelegt, ich habe<br />

eine Bescheinigung aus der Türkei bekommen,<br />

dass ich dort nicht registriert bin. Aber die glauben<br />

bis heute noch nicht, dass ich staatenlos bin. Braun-<br />

40


Abdullah Birsen<br />

Inzwischen konnte ein Teilerfolg<br />

in dem „Fall” Abdullah<br />

Birsen erreicht werden.<br />

Auf der Grundlage einer<br />

Eilentscheidung des<br />

Verwaltungsgerichts Braunschweig<br />

musste Abdullah<br />

Birsen aus dem Ausreisezentrum<br />

entlassen werden.<br />

Er lebt nun seit Anfang August<br />

bei seinem Bruder in<br />

Goslar.. Abdullah Birsen ist<br />

weiterhin nur „geduldet”.<br />

Die Redaktion<br />

schweig empfinde ich wie ein Gefängnis, das ist kein<br />

Leben dort in Braunschweig. Die Leute (d.h. die<br />

dort lebenden Flüchtlinge, Anmerkung d. Red.)<br />

dort wussten, dass ich hierher nach Hannover kommen<br />

und fünf Minuten reden werde. Sie sind zu mir<br />

gekommen, ich habe eine Liste der Namen aufgeschrieben,<br />

und sie haben gesagt, bitte, wir brauchen<br />

Hilfe. Einer sagte zu mir, "Wir haben kein Taschengeld",<br />

einer sagte, "Ich rauche, habe kein Geld" - ja<br />

was soll ich machen. Einer sagte, "Wir brauchen<br />

Kleider", einer sagte, "Ich habe Hunger". Also hier<br />

in Deutschland, glaube ich, darf man nicht Hunger<br />

haben. Einer von ihnen sagte, "das Fernsehen und<br />

die Zeitung müssen hierher kommen, damit alle<br />

Menschen sehen, wie schwer das Leben hier im<br />

'<strong>Pro</strong>jekt X' ist". Das ist nur Krankheit. Dort werden<br />

die Menschen nur krank gemacht, sonst nichts.<br />

Hossein Davud war mein Freund, wir haben in<br />

einem Zimmer gewohnt. Die haben Hossein Davud<br />

nach Syrien geschickt, er ist zwei Jahre im Gefängnis<br />

geblieben, und er ist jetzt rausgekommen. Vom<br />

Gefängnis ist er krank geworden im Kopf, aber keiner<br />

hat dagegen etwas gesagt. Die Behörden dort<br />

machen, was sie wollen.<br />

Nachdem ich meinen Vortrag am 24.04.2004 * vor<br />

dem Flüchtlingsrat gehalten habe, wurde ich zweimal<br />

vernommen, dabei wurde ich massiv zur Rechenschaft<br />

gezogen, weil ich die Behörden durch<br />

meinen Vortrag kritisiert habe. Sie haben dies <strong>zum</strong><br />

Teil persönlich genommen. Herr Z. sagte zu mir,<br />

"Ich schwöre, dass ich da<strong>für</strong> sorge, dass Sie in die<br />

Türkei oder nach Syrien abgeschoben werden." Bei<br />

der letzten Befragung war ein Dolmetscher anwesend.<br />

Also ich möchte wissen, wie lange ich noch in diesem<br />

Lager in Braunschweig, in diesem Gefängnis,<br />

bleiben muss. Ich möchte zurück zu meiner Theatergruppe,<br />

ich möchte zurück zu meiner yezidischen<br />

Kultur, mit dem yezidischen Verein arbeiten.<br />

Ich möchte meine Freiheit, ich möchte auch leben.<br />

Warum bin ich nach Deutschland gekommen? Ich<br />

möchte ein anderes Leben führen, ich möchte meine<br />

Zukunft aufbauen, ich möchte nicht mein ganzes<br />

Leben in Braunschweig, in diesem "<strong>Pro</strong>jekt X", in<br />

diesem Gefängnis dort sitzen bleiben. Also, ich<br />

möchte meine Freiheit - bitte, bitte, bitte.<br />

(Applaus)<br />

* Am 24.04.2004hat Abdullah Birsen einen Vortrag über die Situation im <strong>Pro</strong>jekt X während der Mitgliederversammlung<br />

des Niedersächsischen Flüchtlingsrates gehalten.<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

41


Pfarrer Joachim Piontek - Katholische Kirchengemeinde St. Adalbert<br />

21. Vortrag über das Schicksal<br />

der Familie Begolli<br />

Joachim Piontek, Dechant des Dekanats Hannover Nord der<br />

Katholischen Kirche und Pfarrer von St. Adalbert<br />

Das Amt <strong>für</strong> Wohnungswesen bat mich vor einigen<br />

Jahren, die Familie Begolli aufzunehmen. Die Familie<br />

Begolli wohnte zu dieser Zeit in einer Gemeinschaftsunterkunft<br />

in der Schützenallee. Die Familie<br />

Begolli hat vier Kinder, dem Jungen fielen damals in<br />

der Gemeinschaftsunterkunft - eine Containeranlage<br />

- nachts die Kakerlaken von der Decke in den<br />

Mund. Ich habe mich seinerzeit bereit erklärt, die<br />

Familie Begolli ins Pfarrhaus aufzunehmen. Ich<br />

wohnte in der mittleren Etage, oben war eine Wohnung<br />

frei, es handelte sich nicht um ein Kirchenasyl,<br />

sondern die Familie hat einfach bei mir im Haus gewohnt.<br />

Nun wohnen die Begollis seit acht Jahren im<br />

Pfarrhaus und sind seit über zehn Jahren in<br />

Deutschland.<br />

Eigentlich sollte hier Mariegona - eine Tochter der<br />

Familie - stehen. Mariegona ist 18. Sie hat ihren Bericht<br />

zurückgezogen, weil sie einfach Angst hatte<br />

und sich nicht traute, hier zu reden. Und so möchte<br />

ich jetzt einen Bericht abgeben, einen kurzen Bericht<br />

über die Situation, so wie ich sie empfinde. Es<br />

geht mir dabei nicht nur um die Familie Begolli,<br />

sondern es geht mir um die vielen Begollis. Wenn<br />

ich das Schicksal der Familie schildere, werden Sie<br />

alle nicken und sagen, "Genau, das kennen wir!" Es<br />

gibt wohl jetzt nichts Neues zu hören, es soll nur<br />

zur Verdeutlichung der Situation dienen, wenn ich<br />

die Familie und deren Situation kurz vorstelle.<br />

Mit der Zeit hat sich herausgestellt, dass die psychische<br />

und physische Verfassung der Familie auch<br />

durch die Folgen der Aufenthalte in den Flüchtlingsheimen<br />

Anlass zu größter Besorgnis gibt. Besonders<br />

der Sohn und der Vater werden krank. Die<br />

Kinder sind jetzt 18, 16, 13 und 12 Jahre alt. Die damals<br />

elfjährige Tochter, so erlebe ich das über die<br />

Jahre, muss alle Verhandlungen mit den Behörden<br />

42


Pfarrer Joachim Piontek - Katholische Kirchengemeinde St. Adalbert<br />

vornehmen. Das bedeutet, dieses elfjährige<br />

Mädchen muss beim Arzt alles das erklären, was die<br />

Mutter hat und was der Vater hat. Sie muss vorzeitig<br />

in die Erwachsenenwelt eintreten, um genau das<br />

erklären zu können, was die Behörden und die Ärzte<br />

wissen wollen, denn die Eltern sprechen schlecht<br />

Deutsch. Es ist doch klar, dass die Leute schlecht<br />

Deutsch sprechen, wenn sie über Jahre hinweg nur<br />

eine Duldung haben. Wie soll ich da Deutsch lernen,<br />

wenn die Frage, wie kann ich überleben und<br />

<strong>für</strong> meine fünfköpfige Familie sorgen, ständig die<br />

äußerste Priorität einnimmt. Der Sohn, auch das ist<br />

aus der Situation heraus zu verstehen, entwickelt<br />

sich plötzlich <strong>zum</strong> <strong>Pro</strong>blemkind. Diese Entwicklung<br />

ist beeinflusst von Gewalterfahrungen, wie jener, als<br />

ihm im <strong>Asyl</strong>heim ein Messer auf die Brust gehalten<br />

wurde. Dass seine Psyche auch durch die unhygienischen<br />

Verhältnisse belastet wird, kommt hinzu,<br />

die Begebenheiten mit den Kakerlaken habe ich bereits<br />

erwähnt Darüber hinaus spielen noch andere<br />

soziale Faktoren eine Rolle: Der Vater ist arbeitslos.<br />

Es gibt Konflikte zwischen Sohn und Vater. Arbeit?<br />

Beide, Vater und Mutter, hätten seit langem eine<br />

gute Arbeit haben können. Diese Geschichte ist -<br />

Entschuldigung - eine Lachnummer. Menschen haben<br />

sich bemüht, der Frau Begolli letztlich eine<br />

Traumstelle zu verschaffen - und das Arbeitsamt hat<br />

abgelehnt. Auch das kennen wir in anderen Fällen.<br />

Die Kinder. Die Kinder sind in der Schule laut ihrer<br />

Zeugnisse "befriedigend" bis "sehr gut". Eine Tochter<br />

geht jetzt auf das Gymnasium, die andere<br />

schließt nun eventuell die Mittlere Reife ab und<br />

steht vor der Aufnahme einer Lehrstelle. Sie hat eine<br />

Lehrstelle angeboten bekommen und wenn die<br />

Familie nicht abgeschoben wird, dann kann das<br />

Mädchen diese Stelle vielleicht annehmen, darum<br />

kümmert sich inzwischen der Anwalt.<br />

Zu mir: Ich habe durch die Begegnung mit Flüchtlingen<br />

sehr viel gelernt. Es klingt ein bisschen skurril,<br />

aber ich bin da<strong>für</strong> dankbar. Auf der anderen Seite,<br />

wenn ich jetzt mal meinen Bauch sprechen lasse,<br />

dann muss ich sagen: Ich werde über die Jahre in<br />

dieser Sache innerlich immer aggressiver. Und noch<br />

etwas: Es macht mich innerlich immer aggressiver,<br />

wenn ich sehe, wie die Menschen um mich herum<br />

aus Hilflosigkeit, das betrifft auch Gemeindemitglieder<br />

in der katholischen Kirchengemeinde und<br />

Menschen in unserem Stadtteil, das <strong>Pro</strong>blem einfach<br />

ignorieren. Oder wie mir jemand sagte: "Pastor,<br />

Du bist viel zu gut <strong>für</strong> die Welt." Das ist schon<br />

schlimm! So - und jetzt <strong>zum</strong> Schluss habe ich zwei<br />

Forderungen: Die eine Forderung richtet sich an<br />

unseren Oberbürgermeister: Und zwar möchte ich,<br />

das allen "Begollis", das sind, wie er hier vorgetragen<br />

hat, in Hannover 1.575 Menschen, die Duldung<br />

genommen und in ein <strong>Bleiberecht</strong> umgewandelt<br />

wird. Die andere Forderung ist eine Minimalforderung:<br />

Ich wünsche mir, dass ab morgen alle in Hannover<br />

und in Niedersachsen begreifen, was wir <strong>für</strong><br />

ein <strong>Pro</strong>blem haben. Danke.<br />

(Applaus)<br />

Der Vater ist aufgrund der Situation, die ihn zur<br />

Untätigkeit verdammt, mittlerweile stark depressiv.<br />

Er ist von Beruf so eine Art Ingenieur und hält sich<br />

inzwischen nur noch in der Garage auf. Dort hat er<br />

sein Fahrrad und sein Moped, an dem er immer etwas<br />

herumbastelt und ändert. Die Mutter ist ganz<br />

stark psychosomatisch gefährdet, sie ist aufgrund<br />

dessen ständig kränkelnd.<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

43


Familie Ferizi<br />

22. Kosovo oder Bosnien?<br />

Ein Ehepaar aus dem ehemaligen Jugoslawien<br />

hat Angst vor der Trennung der Familie<br />

Ragip und Hatidja Ferizi<br />

Sehr geehrte Damen<br />

und Herren,<br />

mein Mann und ich<br />

stammen aus dem<br />

ehemaligen Jugoslawien,<br />

aber mein<br />

Mann aus Kosovo<br />

und ich aus Bosnien.<br />

Vor fünf Jahren<br />

haben wir uns nach deutschem Gesetz verheiratet,<br />

und wir dürfen jetzt nicht zusammen leben. Obwohl<br />

wir nach deutschem Gesetz verheiratet<br />

sind, trennen uns die Behörden.<br />

depressiver und psychisch krank geworden. Ich<br />

leide unter einem Trauma, die Behandlung wird nun<br />

beim Arzt fortgesetzt. Ich habe Angst, dass meine<br />

Familie zurückgeschickt wird. Dies wäre <strong>für</strong> mich<br />

noch schlimmer als meine Krankheit. (Applaus)<br />

Frau Ferizi<br />

Vor vier Jahren haben wir eine Petition an den<br />

Landtag gestellt. Diese Petition wurde im letzten<br />

Jahr abgelehnt, weil wir verschiedener Staatsangehörigkeit<br />

sind. Wir wissen nicht, wie es mit uns<br />

weitergeht und wir wünschen uns, dass wir ein<br />

Bei meinem Mann ist das <strong>Pro</strong>blem, dass<br />

er psychisch erkrankt ist. Er war gerade<br />

zwei Monaten in psychischer Behandlung<br />

im Krankenhaus. Bei mir steht fast<br />

die Abschiebung bevor. Ich weiß nicht,<br />

was ich jetzt machen soll. Wir bitten alle,<br />

uns zu helfen, damit wir nicht getrennt<br />

werden. Meine Kinder leben<br />

auch hier.<br />

Herr Ferezi<br />

Ja, ich wollte auch etwas sagen. Ich habe<br />

damals einen Arbeitsplatz gehabt,<br />

anderthalb Jahre habe ich gearbeitet.<br />

Auf einmal wurde mir ohne Grund<br />

gekündigt, nur weil ich drei Tage krank<br />

geschrieben war. Das kann doch kein<br />

Grund sein. Seitdem bin ich langsam<br />

<strong>Bleiberecht</strong> hier in Deutschland kriegen.<br />

Wir haben immer gesagt, dass wir nichts<br />

vom Staat kassieren wollen. Geben sie uns<br />

bitte die Möglichkeit, zu arbeiten, damit<br />

wir uns selber finanzieren und hier eine<br />

Zukunft <strong>für</strong> unsere Kinder aufbauen<br />

können. Aber das ist schwer, sehr schwer.<br />

Ich frage alle, ob uns niemand helfen<br />

kann, denn ich und meine Kinder sind<br />

gefährdet. Seit ein paar Monaten wird<br />

meine Duldung nur noch jeweils um einen<br />

Monat verlängert, nur um einen Monat.<br />

Ich habe Angst, dass unsere Familie getrennt<br />

wird. Denn bei vielen Familien ist<br />

die Polizei gekommen und hat sie abgeholt.<br />

Das ist alles, was ich sagen wollte.<br />

(Applaus)<br />

44


23. Traumatisierte Flüchtlinge<br />

benötigen ein <strong>Bleiberecht</strong><br />

Stefica Ban, Psychotherapeutin<br />

Stefica Ban - Psychoterapeutin<br />

Dobrodosli i Doberdan!<br />

Ich begrüße euch mit Worten, die <strong>für</strong> einige von<br />

euch vielleicht fremd klingen mögen. Übersetzt<br />

heißen sie: Willkommen und guten Tag! Mein Name<br />

ist Stefica Ban. Ich bin in Sarajevo geboren, einer<br />

Stadt, die leider durch den Ersten Weltkrieg und den<br />

aktuellen Konflikt - Jugoslawiens<br />

Zerfall würde ich das<br />

nennen - sehr bekannt geworden<br />

ist. Ich bin schon<br />

sehr lange hier in Deutschland,<br />

seit 1970, also über 30<br />

Jahre. Manchmal bezeichne<br />

ich mich selbst als einen der<br />

ersten Flüchtlinge. Ich kann<br />

nicht sagen, dass ich damals<br />

in Jugoslawien Schlimmes<br />

erlebt hätte, dass mich<br />

schlimme Ereignisse dazu<br />

verleitet hätten, mein Land<br />

zu verlassen. Wir wurden damals<br />

in den Schulen angeworben<br />

mit den Worten:<br />

"Kommt nach Deutschland,<br />

ihr könnt dort arbeiten." Wir<br />

sind hier also gut aufgenommen<br />

worden.<br />

Bei den Flüchtlingen, mit<br />

denen ich seit dem Zerfall<br />

von Jugoslawien arbeite, ist<br />

das allerdings anders. 1990<br />

kamen die ersten - damals<br />

gab es den Konflikt mit Slowenien,<br />

dann 1991 mit<br />

Kroatien und 1992 mit Bosnien.<br />

Am Schlimmsten war<br />

wohl der Krieg in Bosnien -<br />

der Name Srebrenica ist ja<br />

heute schon gefallen. Der<br />

Krieg, der <strong>zum</strong> Zerfall von Jugoslawien führte, war<br />

der erste Krieg nach dem 2. Weltkrieg, der sich innerhalb<br />

Europas ereignete. Herr Schwarz-Schilling<br />

sagte zu Recht: "Es war Krieg mitten in Europa und<br />

wir haben einfach zugesehen, was dort passiert."<br />

Über den 11. September wurde und wird im Gegensatz<br />

<strong>zum</strong> Bosnienkrieg ja viel gesprochen. Als<br />

Psychotherapeutin weiß ich aber, dass wir Menschen<br />

dazu neigen, Leid und Grausamkeiten zu ignorieren<br />

und von uns wegzuschieben, je näher diese<br />

an uns dran sind.<br />

Nun haben wir ja heute die Gelegenheit, darüber zu<br />

reden. Ich bin hier als Vertreterin meiner Zunft, als<br />

Psychotherapeutin, und ich stamme aus diesem gebeutelten<br />

Land. Ich könnte Ihnen tausend Geschichten<br />

erzählen, die mir durch den Kopf gehen.<br />

Während meiner beruflichen Tätigkeit bin ich ungefähr<br />

tausend traumatisierten Patienten aus dem ehemaligen<br />

Jugoslawien begegnet.<br />

Ich habe eine Zeit lang<br />

<strong>für</strong> die psychiatrische Klinik<br />

in Ochsenzoll in Hamburg<br />

gearbeitet und bin die einzige<br />

muttersprachliche Therapeutin<br />

in Hamburg mit Kassenzulassung.<br />

Sie können<br />

sich vorstellen, was bei mir<br />

los ist!<br />

Wir Psychotherapeuten kennen<br />

das Phänomen der sekundären<br />

Traumatisierung<br />

(Anmerkung: Übertragung<br />

typischer posttraumatischer<br />

Symptome auf Dritte, z.B.<br />

auf Therapeuten durch psychotherapeutische<br />

Gespräche).<br />

Manchmal <strong>für</strong>chte<br />

ich, dass das auf mich zutrifft,<br />

gerade in letzter Zeit,<br />

wenn Patienten kommen,<br />

ihre Geschichten erzählen<br />

und ich manchmal bei mir<br />

denke: "Bitte erzähl' mir<br />

nichts, ich kann das nicht<br />

mehr hören." Ich bin froh,<br />

dass es noch solche Menschen<br />

gibt wie Sie, die Wut<br />

und Ärger empfinden - weil<br />

das ganz viel Kraft beinhaltet.<br />

Ich selbst habe keine<br />

Kraft mehr. Ich wundere<br />

mich, dass ich heute überhaupt hier stehe. Wahrscheinlich<br />

nur deshalb, weil ich nicht gewusst habe,<br />

was auf mich zukommt. Ich wünschte, es gäbe noch<br />

viel mehr Leute, die richtig Wut und Ärger entwickeln<br />

und damit kämpfen können <strong>für</strong> die Betroffenen,<br />

egal aus welchem Land sie kommen, egal aus<br />

welcher Ecke auf dieser Erde!<br />

Zu den <strong>Pro</strong>blemen mit der Ausländerbehörde wurde<br />

heute schon viel gesagt, ich kann dem nicht viel<br />

hinzufügen. Einen Aspekt möchte ich aber noch<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

45


Sokol Tafa<br />

hervorheben. Manchmal wird der Vorwurf erhoben,<br />

dass Flüchtlinge sich gerade dann zu uns in<br />

psychotherapeutische Behandlung begeben, wenn<br />

Behördliches zu klären ist. Dabei wissen meine Kollegen<br />

und ich, dass die Symptome einer Traumatisierung<br />

zu jedem Zeitpunkt und immer wieder auftauchen<br />

können - unmittelbar nach den Ereignissen,<br />

einige Zeit später, aber auch noch nach zehn Jahren.<br />

Manchmal fragen mich meine Patienten: "Werde ich<br />

das nie wieder los?" Ich weiß es wirklich nicht. Ich<br />

weiß nur, dass die Methoden zur Behandlung von<br />

Traumata immer besser werden. Inzwischen arbeite<br />

ich auch mit der bekannten EMDR-Methode, und<br />

ich habe ganz große Hoffnung, dass ich damit vielen<br />

Patienten helfen kann. (Anmerkung: Eye Movement<br />

Desensitization and Reprocessing (EMDR) ist<br />

eine von Dr. Francine Shapiro entwickelte traumabearbeitende<br />

Psychotherapiemethode, die die Möglichkeiten<br />

der Behandlung traumatisierter PatientInnen<br />

erheblich verbessern kann.)<br />

Ich möchte abschließend noch auf einen Aspekt<br />

eingehen, der sich auch in meiner täglichen Arbeit<br />

als sehr störend erweist: die Unterbringung der<br />

Flüchtlinge. Die Unterkünfte, in denen die Flüchtlinge<br />

leben müssen, sind unbeschreiblich. Teilweise<br />

werden traumatisierte Menschen aus dem Kosovo<br />

mit Serben untergebracht, oder Bosnier mit Serben<br />

oder wie auch immer. Es ist gut, wenn man sich verständigen,<br />

wenn man verzeihen kann. Aber manchmal<br />

denke ich, das wird mit Absicht so gemacht, damit<br />

die Leute es nicht aushalten. Es gibt noch mehr<br />

<strong>Pro</strong>bleme in solchen Unterkünften. Viele traumatisierte<br />

Menschen aus anderen Teilen der Erde sind<br />

dort untergebracht, die selbst Symptome haben, die<br />

z.B. sehr laut oder sehr aggressiv sind, die auf einander<br />

losgehen, sich prügeln. Ich kann keinen behandeln<br />

unter diesen Bedingungen. Was ich kann ist<br />

zuhören und helfend und unterstützend da sein.<br />

Das Schlimmste in meiner beruflichen Tätigkeit war<br />

<strong>für</strong> mich die Weisung der Innenministerkonferenz,<br />

nach der ich nun "zwingend" als Begründung aufschreiben<br />

muss, welches Ereignis Trauma auslösend<br />

war. Da stand ich dann mit den Patienten und sagte:<br />

"Wir müssen da jetzt durch, ich muss etwas aufschreiben."<br />

Meine Berufsethik verbietet mir das,<br />

und trotzdem musste ich es machen. Meine Forderung:<br />

Gebt den Menschen Unterkunft, eine sinnvolle<br />

Beschäftigung und ein <strong>Bleiberecht</strong>.<br />

Danke schön. (Applaus)<br />

24. „Wir wollen leben,<br />

wie Menschen es verdient haben”<br />

Sokol Tafa<br />

Sehr geehrte Damen und Herren,<br />

zuerst möchte ich mich bei allen bedanken, die sich<br />

mit all ihrer Kraft und Zeit und ihrem Willen <strong>für</strong> die<br />

"Kampagne <strong>Bleiberecht</strong>" eingesetzt haben.<br />

Mein Name ist Sokol Tafa. Ich wurde im Kosovo<br />

geboren. Ich bin verheiratet, ich habe drei Kinder,<br />

eines davon ist in Deutschland geboren. Ich gehöre<br />

zur Minderheit der Ägypter, und meine Frau ist Roma.<br />

Wir sind aufgrund ethnischer Diskriminierung,<br />

Menschenrechtsverachtung und Verfolgung als "Zigeuner"<br />

mit der Hoffnung auf eine Anerkennung<br />

nach Deutschland geflohen. Unser <strong>Asyl</strong>antrag wurde<br />

zuerst abgelehnt. Weil unsere Ausreise aus Gründen,<br />

die wir selbst nicht zu vertreten haben, nicht<br />

erfolgen kann, sind wir seit mehr als 12 Jahren geduldet.<br />

Ich arbeite als gelernter Krankenpfleger seit Jahren<br />

in der Firma "Hauskrankenpflege Human" und beziehe<br />

keine Sozialhilfe <strong>für</strong> mich oder meine Familie.<br />

46


Sami Meri & Souheila Souleman Trugg<br />

Mein Arbeitgeber und meine Patienten sind mit mir<br />

zufrieden und haben sich im Rahmen einer Petition<br />

<strong>für</strong> mich eingesetzt. Der "Hilfsverein <strong>für</strong> Kinder aus<br />

Bosnien und Ex-Jugoslawien" half mir gegenüber<br />

der Ausländerbehörde, meine Identität zu belegen.<br />

Meine Chefin setzte sich mit der zuständigen CDU-<br />

Landtagsabgeordneten Frau Jahn in Verbindung,<br />

und hat um Unterstützung gebeten, da sie <strong>für</strong> mich<br />

als männliche Pflegekraft keinen Ersatz finden<br />

konnte. Frau Jahn sagte ihre Unterstützung allgemein<br />

zu. Trotz der aufgezeigten Hintergründe und<br />

Hilfen will der Landkreis Helmstedt unsere Ausreise<br />

weiterhin fördern.<br />

In den letzten 12 Jahren Aufenthalt hier in der<br />

Bundesrepublik Deutschland haben unsere Kinder<br />

dieses Land als ihre Heimat betrachtet. In unserer<br />

Heimat, die wir schon längst verloren haben, haben<br />

wir längst kein Zuhause, keine Freiheit, kein Recht<br />

auf Leben und somit keine Wurzeln mehr. Wir<br />

haben alles längst verloren. Was wir besitzen sind<br />

Angst, Heimatlosigkeit, das Gefühl der Verfolgung<br />

und das Gefühl, dass wir nicht erwünscht sind.<br />

Meine Frau leidet als Kriegsflüchtling unter einer<br />

schweren posttraumatischen Belastungsstörung, sie<br />

ist mittelschwer depressiv mit deutlicher Antriebsstörung<br />

und Schlafstörungen. Sie befand sich bis<br />

gestern zur stationären Behandlung im Krankenhaus.<br />

Wir leben in ständiger Angst, in unser Herkunftsland<br />

abgeschoben zu werden. Wir schämen<br />

uns, unseren Kindern sagen zu müssen, dass es <strong>für</strong><br />

uns kein Land und keine Heimat gibt. Sie haben<br />

keine Bindung an die Heimat ihrer Eltern. Unsere<br />

Kinder gehen hier zur Schule, zwei Töchter besuchen<br />

die Realschule, ihre zukünftige berufliche<br />

Weiterbildung wird nicht finanziert. Ebenso dürfen<br />

sie auch nicht arbeiten. Damit werden unsere<br />

Kinder sich selbst überlassen, mit den möglichen<br />

sozialen, moralischen und kriminellen Folgen.<br />

Wegen der unregelmäßigen Verlängerung unserer<br />

Duldung haben wir keinen vernünftigen Plan <strong>für</strong><br />

unser Leben. Unsere Bewegungsmöglichkeiten sind<br />

beschränkt. Unmenschliche Behandlung durch<br />

Angestellte der Ausländerbehörde macht uns ängstlich<br />

und krank. Deshalb möchte ich Sie im Namen<br />

meiner Familie bitten, uns zu helfen und zu unterstützen,<br />

damit unsere Kinder und auch wir so leben<br />

können, wie Menschen es verdient haben.<br />

Vielen Dank. (Applaus)<br />

25. Vortrag zur<br />

Northeimer <strong>Bleiberecht</strong>sinitiative Libasoli<br />

Samir Meri und Souheila Souleiman Trugq<br />

Samir Meri:<br />

Wir sind über 120 von der Abschiebung bedrohte<br />

Personen in Northeim. Die Ausländerbehörde sagt,<br />

alle unsere Familien müssen in die Türkei abgeschoben<br />

werden.<br />

Nach dem Ersten Weltkrieg, von 1918 bis 1927,<br />

sind unsere Großeltern und Urgroßeltern aus dem<br />

Osmanischen Reich in den Libanon geflüchtet. Seit<br />

76 Jahren lebten wir im Libanon. Als der Bürgerkrieg<br />

im Libanon begann, gingen wir in die Türkei.<br />

Seit 1985 sind wir hier in Deutschland.<br />

Vorgestern kamen die Polizisten und haben alle Familien<br />

angegriffen, weil zwei Personen in Haft genommen<br />

und abgeschoben werden sollten. Unsere<br />

Kinder haben sich furchtbar über die Polizisten erschreckt.<br />

Wir versuchen, gemeinsam mit allen Unterstützern<br />

ein <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> die Flüchtlinge in Deutschland<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

47


Sami Meri & Souheila Souleman Trugg<br />

und insbesondere in Niedersachsen zu erwirken.<br />

Vielen Kindern sowie vielen Schülern und auch<br />

Personen, die viel arbeiten, wurde die Aufenthaltserlaubnis<br />

entzogen. Deshalb dürfen die Betroffenen<br />

jetzt nicht mehr arbeiten. Wir erwarten von<br />

Euch allen eine Unterstützung <strong>für</strong> ein <strong>Bleiberecht</strong>.<br />

Wenn wir dies nicht verhindern können, werden<br />

zahlreiche Familien in die Türkei abgeschoben, weil<br />

diese Familien hier in Deutschland nicht mehr<br />

akzeptiert werden. Wir erwarten von Euch allen<br />

Unterstützung, bis wir ein <strong>Bleiberecht</strong> in Niedersachsen<br />

haben. Denn wir können nicht zulassen,<br />

dass diese Familien abgeschoben werden.<br />

Viele Kinder haben hier gelernt und sich integriert,<br />

manche studieren. Ich selber bin seit 13 Jahren<br />

selbstständig, ich bezahle Steuern. Mein Gewerbe<br />

ist abhängig von der Duldung, die immer nur um 3<br />

Monate verlängert wird. Seit 13 Jahren bezahle ich<br />

Steuern an den Staat, und seit 13 Jahren habe ich<br />

kein Geld vom Staat bekommen, weder vom Sozialamt<br />

noch vom Arbeitsamt.<br />

Ich habe selber Angestellte, die ich bezahle. Mit<br />

meinen Steuern bezahle ich auch die Beamten, die<br />

uns abschieben wollen. Wo ist die Gerechtigkeit?<br />

Die Beamten in der Ausländerbehörde versuchen,<br />

uns zu hinzuhalten. Ich gehe zu ihnen und frage,<br />

"Was ist mit meinem Papier?" Es wird gesagt: "Du<br />

musst warten." Man hatte uns während eines<br />

gemeinsamen Treffens mit Mitarbeitern der Ausländerbehörde<br />

und Vereinen versprochen, jeden Einzelfall<br />

zu prüfen und zu bearbeiten. Nach diesem<br />

Treffen gingen wir einzeln zu ihnen und fragten,<br />

"Was ist mit unserer Sache?" "Abwarten", so die<br />

Antwort. Die spielen mit den Menschen, wie es<br />

ihnen passt. Wir sind hier, um Euch alle um Unterstützung<br />

zu bitten, denn wir können nicht zulassen,<br />

das die Familien abgeschoben werden. Deswegen<br />

erwarten wir von Euch weitere Veranstaltungen wie<br />

diese hier, bis wir das <strong>Bleiberecht</strong> bekommen<br />

haben. Ich danke Euch allen. (Applaus)<br />

Souheila Souleiman Trugq:<br />

Gestern waren wir beim Landkreis Northeim, weil<br />

eine Frau abgeschoben werden sollte. Wir haben<br />

eine Demo organisiert und sind zu der Ausländerbehörde<br />

gegangen. Dort wollte man uns zunächst<br />

nicht hereinlassen. Es hat jedoch jeder das Recht,<br />

dort hineinzugehen, der ein Gespräch möchte.<br />

Obwohl wir nur ein Gespräch haben wollten, sollten<br />

wir hinausgeworfen werden. Und warum (?):<br />

Zuvor sollte mitternachts eine alte Frau und ein Jugendlicher<br />

abgeholt und abgeschoben werden. Wir<br />

alle, die wir in Northeim wohnen, fühlen uns davon<br />

betroffen.<br />

Ich habe zwei kleine Kinder, mein Mann hat neun<br />

Jahre in Deutschland gearbeitet. Jetzt haben sie ihm<br />

die Arbeitserlaubnis weggenommen, so dass wir<br />

vom Arbeitslosengeld leben müssen. Mein Cousin<br />

und meine Cousinen hatten alle eine<br />

Arbeitserlaubnis, wir alle haben im<br />

Altersheim gearbeitet. Einer führt seit<br />

zwei Jahren eine Ausbildung durch,<br />

auch ihm wurde nun die Arbeitserlaubnis<br />

weggenommen. Deshalb kann er<br />

seine Ausbildung nicht beenden. Man<br />

hat uns alles weggenommen. Wir wissen<br />

nicht, warum. Unsere Kinder gehen<br />

zur Schule, wir arbeiten, wir leben nicht<br />

von Sozialhilfe und trotzdem wird uns<br />

die Arbeitserlaubnis genommen. Jetzt<br />

können wir nirgendwo mehr arbeiten.<br />

Als wir gestern <strong>zum</strong> Landkreis kamen<br />

und ein Gespräch wollten, wurde uns<br />

gesagt: "Wozu kommt ihr hierher? Es<br />

ist keiner da!" Das sagten uns auch die<br />

Polizisten.<br />

48


Frank Ahrens - Deutscher Gewerkschaftsbund<br />

Wir standen vor der Tür, und ein Mitarbeiter vom<br />

Landkreis hat uns weggeschubst, auch mich hat er<br />

von der Treppe geschubst. Zusammen mit anderen<br />

Frauen wollte ich nur hineingehen, um ein Gespräch<br />

zu führen. Von der Polizei wurde uns gesagt: "Keiner<br />

der Angestellten ist da, Sie dürfen reingehen und<br />

gucken." Daraufhin sind wir hineingegangen. Alle<br />

Türen waren verschlossen. Auf mein Klopfen hin<br />

wurde nicht geöffnet. Es hieß es nur: "Sehen Sie, ich<br />

habe Ihnen gesagt, dass niemand da ist."<br />

Auf einmal sah ich, wie die Mitarbeiterin, die immer<br />

meine Duldung verlängert, in eines der Zimmer<br />

ging. Die Polizisten und die Leute vom Landkreis<br />

hatten uns angelogen, denn es waren doch Angestellte<br />

da.<br />

Ich habe zwei kleine Kinder, als ich mit meiner<br />

Tochter schwanger war, habe ich versucht, die Duldung<br />

zu kriegen, weil ich ohne Duldung nichts<br />

machen konnte. Der Herr X, der hat mir während<br />

meiner Schwangerschaft soviel angetan, so etwas<br />

hab ich noch nicht erlebt.<br />

Vorhin sagte einer: "Ich bin im Gefängnis". Ich<br />

wohne in einer Wohnung, die drei Zimmer hat, es<br />

ist eine sehr schöne Wohnung in der Innenstadt. Ich<br />

habe aber das Gefühl, ich bin im Gefängnis, nicht in<br />

einer Wohnung. Denn ich kann überhaupt nicht<br />

schlafen, seit fünf Jahren geht das so, ich kann das<br />

nicht mehr aushalten. Ich verstehe nicht, warum die<br />

das mit uns anstellen. Ich bitte Sie, Sie müssen uns<br />

helfen. Wir wollen hier nicht weg, ich will gar nicht<br />

hier weg. Ich kenne die Türkei gar nicht, ich kann<br />

die Sprache nicht sprechen. Bei den betroffenen<br />

Familien aus Einbeck und Nortteim gibt es ungefähr<br />

sechs Kinder, die behindert sind und die hier<br />

geboren und aufgewachsen sind und in eine Schule<br />

gehen, die sie lieben. Das finden sie in einem anderen<br />

Land nicht. Das müssen Sie verstehen, und Sie<br />

müssen uns auch verstehen. Ich verlange, dass alle<br />

Leute uns helfen, dass wir es schaffen, das <strong>Bleiberecht</strong><br />

zu bekommen. Ich meine, 15 Jahre, das ist ein<br />

Leben, verstehen Sie, versteht Ihr mich alle?<br />

(Applaus)<br />

26. Die Position des DGB, Bezirk Niedersachsen/<br />

Bremen/ Sachsen-Anhalt <strong>zum</strong><br />

<strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong> Flüchtlinge<br />

Frank Ahrens<br />

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,<br />

ich kann mich da wirklich sehr kurz halten, weil wir<br />

schon eine ganze Menge gehört haben. Und ich<br />

glaube, dass niemand die <strong>Pro</strong>blematik so gut wiedergeben<br />

kann, wie die Betroffenen es hier selber<br />

getan haben. Von daher halte ich mich hier auch<br />

sehr kurz.<br />

Die Tatsache, dass in Niedersachsen derzeit 26.000<br />

Personen nur mit einer Duldung mit uns zusammenleben,<br />

davon 15.000 schon länger als fünf Jahre<br />

und viele bereits seit über zehn Jahren, ist nicht<br />

mehr hinnehmbar. Wir benötigen dringend einen<br />

gesicherten Aufenthaltsstatus in Form einer <strong>Bleiberecht</strong>sregelung,<br />

die es den Flüchtlingen erlaubt, sich<br />

eine gesicherte Perspektive in unserem Land aufzubauen.<br />

Der jetzt gefundene Kompromiss beim Zuwanderungsrecht<br />

hat die Situation der Iangjährig hier<br />

lebenden <strong>Asyl</strong>suchenden und Flüchtlinge nicht<br />

entscheidend verbessert. Die in den acht Eckpunkten<br />

formulierten wesentlichen Kriterien eines<br />

Zuwanderungsgesetzes sehen zwar schärfere Regelungen<br />

bei Abschiebung und Einbürgerung vor,<br />

jedoch die Abschaffung von so genannten Kettenduldungen<br />

konnte in diesem Kompromiss nicht<br />

durchgesetzt werden. Das hat ja bereits Frau Marieluise<br />

Beck gesagt. Es bleibt also dabei, dass diese<br />

<strong>Bleiberecht</strong>sregelung <strong>für</strong> die <strong>Asyl</strong>suchenden und<br />

FlüchtIinge unabhängig vom Zuwanderungsrecht<br />

gefunden und erstritten werden muss.<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

49


Serhat & Kezban Aldemir<br />

Es steht unserer Gesellschaft wahrhaftig gut zu Gesicht,<br />

wenn wir <strong>für</strong> ein gleichberechtigtes und friedliches<br />

Miteinander von Menschen unterschiedlicher<br />

Nationalitäten oder kultureller Hintergründe eintreten.<br />

Dazu gehört ein modernes Zuwanderungsrecht<br />

genauso wie die Herstellung gesicherter Rahmenbedingungen.<br />

Wir können es uns nicht leisten, Ausländer<br />

bzw. Flüchtlinge erster oder zweiter Klasse<br />

unter uns zu haben, die mit unterschiedlichen Kriterien<br />

gemessen werden und dann mit unterschiedlichen<br />

rechtlichen Restriktionen oder Sanktionen<br />

behandelt oder bedroht werden. Deshalb müssen<br />

wir uns auch weiterhin <strong>für</strong> die uneingeschränkte<br />

rechtliche Absicherung der hier <strong>langjährig</strong> lebenden<br />

<strong>Asyl</strong>suchenden und Flüchtlinge einsetzen.<br />

Der DGB setzt sich <strong>für</strong> eine nachhaltige und<br />

zukunftsorientierte lntegrationspolitik ein. Es geht<br />

um die Schaffung von Möglichkeiten zur gleichberechtigten<br />

Teilhabe in der Gesellschaft und der<br />

Arbeitswelt. Der DGB unterstützt nachdrücklich<br />

die Petition <strong>für</strong> ein <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> in<br />

Niedersachsen lebende Flüchtlinge und <strong>Asyl</strong>suchende.<br />

Danke! (Applaus)<br />

27. „Es ist, als wenn man einen Deutschen<br />

in ein fremdes Land schickt“<br />

Serhat und Kezban Aldemir<br />

Serhat Aldemir:<br />

Hallo erstmal!<br />

Ich heiße Serhat Aldemir, bin 17 Jahre alt, und ich<br />

bin hier mit meiner 16-jährigen Schwester Kezban.<br />

Ich bin ein Kurde aus der Türkei und 1989 mit meinen<br />

Geschwistern und Eltern nach Deutschland<br />

eingereist. Ich war damals drei Jahre alt, mein Bruder<br />

war fünf und meine Schwester ein Jahr alt. Unsere<br />

Heimat ist ganz klar Emden. Denn hier bin ich<br />

aufgewachsen, und hier habe ich meine Freunde.<br />

1992 ist meine Schwester Emgehan in Emden geboren<br />

worden, im Jahr 2000 kam dann noch meine<br />

kleine Schwester Axin. Jetzt sind wir eine siebenköpfige<br />

Familie. Seit 2001 leben wir im Kirchenasyl<br />

und warten immer noch auf eine Entscheidung<br />

in unserer Sache. 1996 wurde meine Mutter<br />

Gülhan schwer krank, was <strong>für</strong> unsere Familie<br />

sehr belastend war. Sie lag erst im Emdener Krankenhaus,<br />

dann musste sie in eine Spezialklinik nach<br />

Berlin. Sie hat heute noch an den Folgen ihrer Erkrankung<br />

zu leiden.<br />

Ich bin, wie meine Geschwister auch, in Emden<br />

<strong>zum</strong> Kindergarten gegangen, dann zur Grundschule,<br />

zur Orientierungsstufe und zur Hauptschule.<br />

Zurzeit besuche ich die Berufsschule, das BGJ Kfz-<br />

Elektrik. Mein Bruder Huseyin und ich sind sehr aktiv<br />

im Sport. In unserem Wohnzimmer stehen<br />

zwanzig Pokale. Die haben wir im Fußball, Basketball<br />

und Tischtennis gewonnen. Huseyin spielt jetzt<br />

50


Serhat & Kezban Aldemir<br />

als Fußballer in der Bezirksliga, zusammen mit vielen<br />

deutschen Mannschaftskameraden. Im Sport<br />

zählt <strong>zum</strong> Glück nicht, wo einer herkommt, da<br />

muss man einfach Leistung bringen.<br />

Ich weiß nicht, wie es weitergehen wird. Mit einem<br />

gesicherten Aufenthalt hätten meine Geschwister<br />

Huseyin und Kezban und auch ich eine Ausbildung<br />

machen können, aber wir bekommen keine Arbeitserlaubnis.<br />

Nach deutschem Recht müssten wir eigentlich<br />

in die Türkei zurück, aber wir Kinder können<br />

uns an die Türkei überhaupt nicht erinnern.<br />

Meine beiden kleinen Schwestern sind hier geboren.<br />

Wenn wir zurückkehren, haben wir dort keine<br />

Chance. Wie soll ich in der Türkei einen Beruf erlernen?<br />

Ich kann die Sprache nicht, und ich will<br />

auch nicht zurück. So geht es meiner ganzen Familie.<br />

Für mich kommt noch hinzu, dass ich in der Türkei<br />

bald <strong>zum</strong> Militär müsste, aber da möchte ich auf<br />

keinen Fall hin. Nicht nur, weil Kurden in der türkischen<br />

Armee nichts zu lachen haben - ich möchte<br />

überhaupt nicht <strong>zum</strong> Militär. In Deutschland könnte<br />

ich Ersatzdienst machen, in der Türkei geht das<br />

leider nicht. Wir hoffen und wünschen uns, dass wir<br />

hier bleiben können.<br />

Kezban Aldemir:<br />

Ich heiße Kezban Aldemir und komme aus Emden.<br />

Meine Familie und ich sind vor ungefähr 15 Jahren<br />

nach Deutschland eingereist, als ich ein Jahr alt war.<br />

Wir sind Kurden aus der Türkei. Ich bin hier <strong>zum</strong><br />

Kindergarten gegangen und gehe zurzeit zur Schule.<br />

Da ich gut in der Schule bin, möchte ich den Realschulabschluss<br />

machen. Ich engagiere mich ehrenamtlich<br />

beim Kinderschutzbund, und ich habe beim<br />

Arzt mein freiwilliges Praktikum absolviert.<br />

1996, als ich acht Jahre alt war, wurde meine Mutter<br />

schwer krank. Sie lag sechs Monate lang in Berlin im<br />

Koma, und mein Vater musste sich um uns kümmern.<br />

2001 wurde unser <strong>Asyl</strong>antrag erneut abgelehnt,<br />

und wir wurden aufgefordert, in die Türkei<br />

zurückzukehren. Ich möchte aber nicht zurück! Ich<br />

kann die Sprache nicht und hätte keine Chancen<br />

dort. Zudem haben wir Angst, weil uns in der<br />

Türkei viele <strong>Pro</strong>bleme erwarten. Für mich ist das so,<br />

als würde man einen Deutschen in ein fremdes<br />

Land schicken. Die ganzen Jahre, seit wir hier sind,<br />

hatten wir immer große Sorgen wegen unseres<br />

Aufenthalts.<br />

Am 18.2.2001, kurz bevor wir abgeschoben werden<br />

sollten, sind wir ins Kirchenasyl gekommen. Eine<br />

Woche durften wir nicht raus, dann konnten wir<br />

Kinder wieder zur Schule. Ich habe noch vier<br />

Geschwister: Meine älteren Brüder sind 19 und 17,<br />

meine Schwestern sind zwölf und vier Jahre alt.<br />

Meine Eltern dürfen während des Kirchenasyls das<br />

Haus nicht verlassen. Meine Mutter ist immer noch<br />

krank und muss zur Therapie gebracht werden. Das<br />

organisiert der <strong>Asyl</strong>kreis.<br />

Bis jetzt warten wir auf eine Antwort, ob wir bleiben<br />

können. Meine Mutter braucht therapeutische<br />

Hilfe, die sie in der Türkei nicht bekommen würde.<br />

Mein älterer Bruder ist zwei Jahre zur Berufsschule<br />

gegangen, und als er fertig war, wollte er eine<br />

Ausbildung machen. Durfte er aber nicht, weil wir<br />

keine Arbeitserlaubnis bekommen. Ich würde gerne<br />

Arzthelferin werden und hätte mit meinen Noten<br />

gute Chancen auf einen Aufbildungsplatz. Aber ich<br />

darf ebenfalls keine Ausbildung machen. Ich hoffe<br />

noch - aber wir haben Angst.<br />

(Applaus)<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

51


Mergin Tahiri<br />

28. „Am schlimmsten ist,<br />

dass unsere Familie getrennt werden soll“<br />

Mergim Tahiri<br />

Meine Familie und ich kamen 1994 nach Deutschland.<br />

Meine Eltern heißen Enver und Nexhrmije<br />

Tahiri. Meine Schwester Besarta kam mit 8 Jahren<br />

nach Deutschland, meine andere Schwester Fitore<br />

kam mit 3 ½ Jahren hier her und ich war 18 Monate<br />

alt, als ich hierher kam Meine Mutter ist in Macedonien<br />

geboren. Mein Vater und wir 3 Kindern<br />

sind in Kosovo, in Nord-Mitrovica, geboren worden.<br />

Vom Monat September 1994 bis heute leben<br />

wir mit Duldung. Das erste <strong>Pro</strong>blem kam, weil meine<br />

Mutter in Macedonien geboren ist. Meine Eltern<br />

heirateten 1985 und haben in Nord-Mitrovica<br />

gewohnt, bis wir nach Deutschland kamen. Für<br />

meine Familie und mich war es das Schlimmste, das<br />

sie uns trennen-, meine Mutter nach Macedonien<br />

und meinen Vater und uns Kinder nach Kosovo<br />

schicken wollten.<br />

Mehr als drei Jahre macht der Landkreis Druck,<br />

dass wir Deutschland verlassen oder dass sie uns<br />

getrennt nach Kosovo oder Macedonien schicken.<br />

Wegen dieses ständigen Drucks hat meine Mutter<br />

psychische Depressionen gekriegt, und sie ist immer<br />

noch in Behandlung. Meine Eltern kämpfen seit fast<br />

zehn Jahren, um eine Arbeitserlaubnis zu kriegen.<br />

Im Jahre 2000 fand meine Mutter einen Teilzeit-Job.<br />

Sie arbeitete 16 Monate aber danach verlängerte der<br />

Landkreis Peine unserer Duldung nur <strong>für</strong> 18 Tage,<br />

deswegen verlängerten sie die Arbeitserlaubnis<br />

nicht und sie verlor ihre Arbeit. Mein Vater fand<br />

sehr viele Arbeitsplätze, er hat auch viele Anträge<br />

gestellt <strong>für</strong> die Arbeitserlaubnis, aber das Arbeitsamt<br />

gab ihm keine Arbeitserlaubnis, weil sie ihn<br />

mit einem anderen Tahiri verwechselten, der schon<br />

Straftaten begangen hat.<br />

Mit Hilfe von einem deutschen Freund klärte er<br />

diese Verwechslung und mein Vater kriegte eine<br />

Arbeitserlaubnis.<br />

52


Klaus-Peter Bachmann - SPD<br />

Im. August 2001 fand Papa eine Arbeitsstelle, wo er<br />

28 Monate gearbeitet hat. Er hatte einen unbefristeten<br />

Arbeitsplatz. Meinem Vater wurde die Arbeitserlaubnis<br />

immer <strong>für</strong> die Dauer der Duldung<br />

verlängert, meistens waren das 3 Monate.<br />

Nach 28 Monaten harter Arbeit redete der Landkreis<br />

Peine mit dem Arbeitsamt, uns wurde daraufhin<br />

die Arbeitserlaubnis nicht weiter verlängerte.<br />

Von dem Tag an sind meine Eltern arbeitslos, aber<br />

sie wollen unbedingt arbeiten. Wir waren schon<br />

fünfmal wegen dem <strong>Bleiberecht</strong> vor Gericht. Das<br />

Gericht sagt immer, wir haben Recht, aber sie tun<br />

dann gar nichts. Wir leben immer noch mit der Duldung<br />

und dürften keine Ausbildung machen. Wir<br />

dürfen auch nicht auf Klassenfahrten in ein anderes<br />

Land mitfahren. Meine Eltern und wir Kinder<br />

fühlen uns sehr sehr wohl hier in Deutschland !!!<br />

29. „Wer hier mit Skepsis hergekommen ist,<br />

muss ohne Skepsis diese Veranstaltung<br />

verlassen“<br />

Klaus-Peter Bachmann; Migrationspolitischer Sprecher der SPD-<br />

Fraktion im Niedersächsischen Landtag<br />

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe<br />

Freundinnen und Freunde,<br />

zu meiner Person ist zu sagen, dass ich seit 30<br />

Jahren innerhalb des Verbandes einer der Mitveranstalter,<br />

nämlich der "Arbeiterwohlfahrt", <strong>für</strong> migrationspolitische<br />

Fragen und Integrationsfragen<br />

kämpfe und arbeite, und insofern vieles von dem,<br />

was ich heute gehört habe, natürlich <strong>für</strong> mich nicht<br />

neu ist. Aber eines verspreche ich: Ich werde in die<br />

parlamentarischen Beratungen das, was heute hier<br />

sehr eindrucksvoll auch an Einzelfällen geschildert<br />

wurde, einbringen, und mich insofern <strong>zum</strong> Sprachrohr<br />

dieser Veranstaltung machen.<br />

gesagt hat: Ich werde versuchen, im Rahmen der<br />

parlamentarischen Beratung auch eine <strong>Anhörung</strong><br />

im Innenausschuss des niedersächsischen Landtages<br />

durchzusetzen und nicht nur hier, sondern vor<br />

den Politikern, meinen Kolleginnen und Kollegen,<br />

die zu entscheiden haben. Und ich habe heute überlegt,<br />

da brauchen innerhalb der Regierungskoalition<br />

wohl einige die deutlichen Worte ihres Parteifreun-<br />

Ich bin hier hergekommen mit der ganz klaren<br />

Überzeugung, dass wir eine humanitäre Altfallregelung,<br />

also ein <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong><br />

Flüchtlinge und die Beendigung der Kettenduldung<br />

brauchen. Wer hier mit Skepsis hergekommen ist,<br />

muss ohne Skepsis diese Veranstaltung verlassen.<br />

Das war eine hervorragende Veranstaltung, sie war<br />

gut vorbereitet und sie war sehr eindrucksvoll. Ich<br />

darf Ihnen sehr konkret ankündigen, insofern an<br />

das anknüpfend, was meine Kollegin Marieluise<br />

Beck aus dem Bundestag gesagt hat und was der<br />

ehemalige Kollege Christian Schwarz-Schilling<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

53


Hans-Jürgen Marcus, LAG Freie Wohlfahrtspflege - Fazit<br />

des Christian Schwarz-Schilling. Er hat mir zugesagt,<br />

dass er bereit ist, als Sachverständiger auf Vorschlag<br />

der SPD-Fraktion auch im Landtag zu sprechen.<br />

Was wollen wir konkret erreichen? Wir werden im<br />

nächsten Plenum des Landtags den Niedersächsischen<br />

Innenminister - der ganz offensichtlich zu<br />

den Hardlinern in dieser Frage gehört, so die Erfahrung<br />

aus einjähriger Zusammenarbeit - durch<br />

das Parlament auffordern, sich in der berühmten<br />

Innenministerkonferenz <strong>für</strong> eine bundeseinheitliche<br />

humanitäre Altfallregelung einzusetzen, bzw. im<br />

Rahmen des "faulen Kompromisses" <strong>zum</strong> Zuwanderungsgesetz<br />

eine entsprechende Landesregelung<br />

herbeizuführen. Dazu gehören einige Kriterien: Es<br />

muss Schluss damit gemacht werden - insofern ist<br />

ein Paradigmenwechsel gefordert - den Menschen<br />

immer den nicht selbst verschuldeten Sozialhilfebezug<br />

vorzuwerfen. Wenn man Menschen nicht arbeiten<br />

lässt, dann kann man sie nicht daran messen,<br />

dass sie ihren Lebensunterhalt nicht aus eigener Erwerbstätigkeit<br />

bestreiten.<br />

Zum Zweiten muss damit Schluss gemacht werden,<br />

Menschen den Sozialhilfebezug vorzuwerfen, die<br />

neben dem Erwerbseinkommen nur deswegen<br />

Sozialhilfe beziehen, weil in der Familie Kinder sind<br />

und deshalb Anspruch auf ergänzende Sozialhilfe<br />

besteht. Dies darf nicht <strong>zum</strong> Vorwurf und zur<br />

Begründung der Abschiebung gemacht werden.<br />

Das Kindeswohl muss im Vordergrund stehen. Familien<br />

dürfen nicht getrennt werden, das Kindeswohl<br />

steht auch hier voran. Und deswegen werden<br />

wir sagen, neben dem <strong>langjährig</strong>en Aufenthalt sind<br />

hier geborene und hier mittlerweile schulpflichtig<br />

gewordene Kinder ein zwingender Grund, ein <strong>Bleiberecht</strong><br />

einzuräumen.<br />

In der letzten Plenarsitzung des Landtages wurde<br />

eine Petition beraten, daher habe ich Hoffnung: Es<br />

handelt sich um eine Familie aus Sri Lanka, die<br />

unter die alte <strong>Bleiberecht</strong>sregelung gefallen wäre<br />

und die nur deswegen von Abschiebung bedroht ist,<br />

weil sie wegen der Kinder trotz Erwerbstätigkeit<br />

ergänzende Sozialhilfe braucht. Das ist fast maßgeschneidert,<br />

so wie ja viele Fälle hier vergleichbar<br />

sind. Aufgrund der parlamentarischen Beratungen,<br />

die wir beantragen werden - neben Ihrer der Petition,<br />

die natürlich auch beraten wird - hoffe ich, dass<br />

bis dahin das Innenministerium einen Abschiebestopp<br />

<strong>für</strong> solche ausreisepflichtigen ausländischen<br />

Familien und Einzelpersonen erwirkt, die durch<br />

diese Altfallregelung möglicherweise ein <strong>Bleiberecht</strong><br />

erhalten können.<br />

Das ist meine Botschaft, ich danke <strong>für</strong> diese Veranstaltung<br />

und in meiner Rede im Niedersächsischen<br />

Landtag zu diesem Thema werden sich viele Teile<br />

dessen, was ich hier heute gehört habe, wiederfinden.<br />

(Applaus)<br />

Der Antrag “Für eine humanitäre Altfallregelung”<br />

wurde von der SPD Abgeordneten Jutta Rübke in<br />

Vertretung ihres Kollegen Klaus Peter Bachmann<br />

im Niedersächsischen Landtag eingebracht und<br />

liegt <strong>zum</strong> Zeitpunkt des Erscheinens dieser Dokumentation<br />

dem Innenausschuss des Niedersächsischen<br />

Landtags zur Beratung vor. Die Redaktion<br />

30. Fazit des Vorsitzenden der LAG<br />

der Freien Wohlfahrtspfege<br />

Dr. Hans-Jürgen Marcus<br />

Die Kürze der Politik soll mir Verpflichtung sein.<br />

Ich will eigentlich nur drei Bemerkungen machen.<br />

Die erste Bemerkung: Ich glaube, mit der Veranstaltung<br />

ist es uns gelungen, dem Thema <strong>Bleiberecht</strong><br />

ein Gesicht zu geben. Es ist, glaube ich, deutlich<br />

geworden, dass es nicht nur um ein Thema geht,<br />

sondern um 230.000 Gesichter in Deutschland,<br />

davon 26.000 in Niedersachsen. Einige von diesen<br />

Gesichtern haben wir hier kennen gelernt. Ich<br />

möchte das <strong>zum</strong> Anlass nehmen, insbesondere<br />

denen noch einmal zu danken, die hier über ihre<br />

Situation berichtet haben. Wir haben ja auch mitgekriegt,<br />

dass das nicht immer ganz angstfrei und einfach<br />

war. Ich glaube, das ist ihr Beitrag. Zeigen Sie<br />

54


Memorandum<br />

Ihr Gesicht auch weiterhin, das ist der Teil, den Sie<br />

tun können.<br />

Wir werden mit dem, wie ich finde, doch relativ<br />

eindrucksvollen Bündnis der Veranstalter und<br />

denen, die die Petition gestellt haben, natürlich kritisch<br />

prüfen, was mit dieser Petition im Landtag<br />

passiert. Ich glaube, dass wir gegebenenfalls auch<br />

noch mal deutlich machen müssen, wie breit dieses<br />

Bündnis wirklich ist. Darüber kann ein Landtag in<br />

Niedersachsen in der Beratung nicht einfach<br />

hinweggehen. Herr Bachmann hat dankenswerter<br />

Weise die Initiative zur weiteren parlamentarischen<br />

Beratung angekündigt.<br />

Ich fasse kurz zusammen, liebe Freundinnen, liebe<br />

Freunde, wir haben es mit dem Thema ins Hannoversche<br />

Rathaus geschafft, es gibt keinen Grund<br />

da<strong>für</strong>, dass wir es mit dem Thema nicht vernünftigerweise<br />

auch in den Niedersächsischen Landtag<br />

schaffen.<br />

Schönen Dank <strong>für</strong> Ihre Aufmerksamkeit, und<br />

danke allen, die sich beteiligt haben. (Applaus)<br />

31. Memorandum<br />

zur <strong>Asyl</strong>- und Flüchtlingspolitik<br />

der Niedersächsischen Landesregierung<br />

Mit Besorgnis nehmen die Unterzeichner die<br />

restriktiven Tendenzen in der <strong>Asyl</strong>- und Flüchtlingspo-litik<br />

der Niedersächsischen Landesregierung<br />

wahr. Wir be<strong>für</strong>chten, dass diese Politik eine<br />

Isolation und Ausgrenzung von <strong>Asyl</strong>suchenden und<br />

Flüchtlingen zur Folge hat.<br />

Die Unterzeichner setzen sich da<strong>für</strong> ein, dass die<br />

rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen der<br />

<strong>Asyl</strong>- und Flüchtlingspolitik den Maßstäben von<br />

Humanität, der Achtung der Menschenwürde, der<br />

Respektierung der Menschenrechte und dem wirksamen<br />

Schutz vor Verfolgung entsprechen. Zum<br />

Ausdruck kommen muss dieses vor allem in einer<br />

menschenwürdigen Aufnahme und Unterbringung<br />

sowie einer fairen Durchführung des <strong>Asyl</strong>verfahrens.<br />

Dazu gehört auch die Ermöglichung einer<br />

Inanspruchnahme von Rechtsmitteln gegen ablehnende<br />

Entscheidungen des Bundesamts.<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

55


Memorandum<br />

Darüber hinaus ist es die Aufgabe der<br />

Landesregierung, eine frühzeitige Integration<br />

der Flüchtlinge zu organisieren.<br />

Einen Anspruch auf Integration müssen<br />

auch diejenigen Flüchtlinge haben,<br />

die nicht oder nicht mehr verfolgt sind,<br />

aber schon jahrelang in Deutschland<br />

leben und hier ihren Lebensmittelpunkt<br />

gefunden haben. Schließlich ist denjenigen<br />

Flüchtlingen, die zurückkehren<br />

können und wollen, eine Rückkehr in<br />

Würde zu ermöglichen.<br />

<strong>Asyl</strong>suche ist heute Teil internationaler<br />

Migrationsprozesse mit vielen Facetten<br />

(Flucht und Vertreibung, Not und<br />

Elend, Befreiung aus Unterdrückung,<br />

Verfolgung und Tod, Suche nach<br />

besseren Lebensbedingungen), die alle<br />

Ausdruck der Globalisierung unserer<br />

Welt sind. Die überwiegende Mehrheit<br />

der Flüchtlinge sucht und findet dabei<br />

Aufnahme in den Ländern der Dritten<br />

Welt. Nur ein kleiner Teil von Menschen<br />

in Not erreicht Europa und Deutschland.<br />

Eine verantwortliche Politik muss<br />

eine differenzierte <strong>Asyl</strong>- und Flüchtlingspolitik<br />

gestalten. Prüfstein dabei ist,<br />

ob die erlassenen Maßnahmen und<br />

Regelungen der schwierigen Lebenssituation<br />

der Flüchtlinge gerecht werden.<br />

Politik trägt auch Verantwortung da<strong>für</strong>,<br />

dass in unserer Gesellschaft die Akzeptanz<br />

von <strong>Asyl</strong>su-chenden und Flüchtlingen<br />

erhalten bleibt und gefördert wird.<br />

Sie hat im Rahmen der politischen<br />

Diskussion darauf zu achten, dass unsere<br />

Bevölkerung das vielgestaltige Migrationsgeschehen<br />

versteht. Eine politische<br />

Diskussion, die vorrangig auf einzelne<br />

Missbrauchsfälle und davon abgeleiteter<br />

Abschreckung ausgerichtet ist, wird<br />

dieser Notwendigkeit nicht gerecht.<br />

Einseitige Äuße-rungen und überzeichnete<br />

Bewertungen diskriminieren die<br />

Vielzahl der Menschen, die aus begründeter<br />

Furcht Schutz in unserem Land<br />

suchen.<br />

1. Handlungsprogramm Integration<br />

der Niedersächsischen<br />

Landesregierung<br />

Die Erstellung des Handlungsprogramms<br />

Integration durch die Niedersächsische<br />

Landesregierung als Gestaltungskonzept<br />

<strong>für</strong> Migration und Integration wird<br />

56


Memorandum<br />

begrüßt. Die Unterzeichner bedauern aber, dass das<br />

Handlungsprogramm als Zielgruppen der Integrationsbemühungen<br />

ausschließlich Zuwanderinnen<br />

und Zuwanderer deutscher wie nichtdeutscher<br />

Staatsangehörigkeit mit einem dauerhaften Aufenthaltsrecht<br />

versteht. Hierdurch werden <strong>Asyl</strong>suchende,<br />

Flüchtlinge und <strong>geduldete</strong> Ausländer von allen<br />

Integrationsangeboten ausgeschlossen.<br />

<strong>Asyl</strong>suchende Flüchtlinge sind stets potenzielle<br />

<strong>Asyl</strong>berechtigte, die nach der rechtlichen Anerkennung<br />

ein Daueraufenthaltsrecht besitzen. Eine sachund<br />

zukunftsorientierte <strong>Asyl</strong>- und Flüchtlingspolitik<br />

sollte Integrationsansätze auch vorurteilsfrei einbeziehen<br />

mit Blick auf den Zuwanderungsbedarf und<br />

der demographischen Entwicklung in unserem<br />

Land.<br />

Der besonderen Situation von Flüchtlingen angemessen<br />

ist daher eine ergebnisoffene Beratung der<br />

Betroffenen darüber, welche Möglichkeiten und<br />

Perspektiven sich ihnen in Deutschland, im<br />

Herkunftsland oder in einem Drittland eröffnen.<br />

Eine bloße "Rückkehrberatung" <strong>für</strong> Flüchtlinge, die<br />

sich noch im Verfahren befinden und Hoffnung auf<br />

eine Schutzgewährung in Deutschland machen, ist<br />

unglaubwürdig und wird von uns abgelehnt. Flüchtlinge<br />

benötigen zunächst einmal eine faire und<br />

unabhängige Verfahrens- und Rechtsberatung. Sie<br />

sind oft unter großen Entbehrungen und nicht<br />

ohne Grund nach Deutschland geflüchtet, und<br />

verlangen zu Recht erst einmal Informationen<br />

darüber, welche Chancen und Möglichkeiten sie<br />

hier haben.<br />

Eine strukturelle Ausgrenzung von Menschen<br />

durch Arbeitsverbote, Unterbringung in Sammelunterkünften<br />

und Leistungseinschränkung zermürbt<br />

auf Dauer die Betroffenen und produziert soziale<br />

Folgekosten: Menschen, die über lange Zeit zur<br />

Untätigkeit gezwungen und vom Arbeitsmarkt<br />

ausgeschlossen wurden, werden schneller krank und<br />

haben oft große Schwierigkeiten, wieder einen<br />

Einstieg in das Arbeitsleben zu bekommen, wenn<br />

sie später ein Aufenthaltsrecht erhalten.<br />

Auch zur Erhaltung und Bewahrung des sozialen<br />

Friedens ist es geboten, den Flüchtlingen eine sozialverträgliche<br />

Teilnahme am Alltagsleben zu ermöglichen.<br />

Eine Isolation und Ausgrenzung von Flüchtlingen<br />

führt zu Missverständnissen und Konflikten<br />

und begünstigt Rassismus.<br />

Im Interesse unserer Gesellschaft und der auf<br />

Dauer in Deutschland bleibenden <strong>Asyl</strong>suchenden<br />

ist es deshalb unverzichtbar, dass eine Integrationsförderung<br />

ab dem ersten Tag der Einreise vor allem<br />

durch Sprachlernangebote erfolgt. Dieses gilt insbesondere<br />

<strong>für</strong> Kinder und Jugendliche, damit eine<br />

erfolgreiche schulische Integration gelingen kann.<br />

Von elementarer Bedeutung ist eine Integrationsförderung<br />

aber auch <strong>für</strong> die berufliche Integration<br />

der <strong>Asyl</strong>suchenden und Flüchtlinge, die nicht<br />

wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren können,<br />

egal aus welchen Gründen.<br />

Forderungen:<br />

- Beginn der Sprachlernangebote bereits in<br />

den ZASten<br />

- Frühzeitige Integration in den Arbeitsmarkt<br />

erforderlich, vor allem dann, wenn eine<br />

Rückkehr ins Heimatland in Kürze nicht absehbar<br />

ist.<br />

2. Erstaufnahme und faire<br />

Verfahrensdurchführung<br />

Die beiden in Braunschweig und Oldenburg vorhandenen<br />

Zentralen Anlaufstellen (ZASten) sollten<br />

ausschließlich <strong>für</strong> die Erstaufnahme von <strong>Asyl</strong>suchenden<br />

und Flüchtlingen genutzt werden. Der<br />

Aufenthalt muss auf die gesetzlich vorgesehenen<br />

drei Monate befristet bleiben, damit der Integrationsprozess<br />

- möglicherweise auch nur vorübergehend<br />

- in einem lebensnahen gesellschaftlichen<br />

Umfeld erfolgt. Eine längerfristige Unterbringung<br />

in den ZASten ist nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt.<br />

Die aufgrund rückläufiger Zugangszahlen<br />

entstehenden räumlichen Überkapazitäten müssen<br />

abgebaut werden, statt sie <strong>für</strong> eine dauerhafte Unterbringung<br />

zu nutzen.<br />

Die Unterzeichner halten an ihrer Forderung fest,<br />

dass zu einer umfassenden Verfahrensdurchführung<br />

eine unabhängige Verfahrensberatung gehört.<br />

Diese behördenunabhängige Beratung ist ein<br />

grundlegender Beitrag zur effektiveren Durchführung<br />

von <strong>Asyl</strong>verfahren. Wir treten deshalb<br />

weiterhin <strong>für</strong> eine Wiedereinführung dieses Beratungsangebotes<br />

ein.<br />

Aufgrund der <strong>für</strong> Kinder und Jugendliche besonders<br />

belastenden Unterbringungsform in den<br />

ZASten halten wir ein ausreichend pädagogisches<br />

Betreuungsangebot <strong>für</strong> unerläßlich.<br />

Forderungen:<br />

- Erstaufnahmeunterbringung nur <strong>für</strong> die<br />

ersten 3 Monate<br />

- Behördenunabhängige Beratung <strong>zum</strong><br />

<strong>Asyl</strong>verfahren<br />

- Abbau von Überkapazitäten in den ZASten<br />

- Pädagogisches Betreuungsangebot <strong>für</strong><br />

Kinder und Jugendliche in den ZASTen<br />

- Umfassende und freiwillige<br />

Erstgesundheitsberatung nach Aufnahme<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

57


Memorandum<br />

3. Unterbringungskonzept<br />

Mit Sorge verfolgen wir die Politik der Landesregierung,<br />

Flüchtlinge immer stärker in zentralen<br />

Aufnahme stellen zu isolieren. Statt den Aufforderungen<br />

des Landesrechnungshofs Folge zu leisten<br />

und angesichts drastisch zurückgegangener Flüchtlingszahlen<br />

die zentralen Unterbringungskapazitäten<br />

abzubauen, hat die Landesregierung vielmehr eine<br />

verstärkte Unterbringung von Flüchtlingen in der<br />

Landesaufnahmestelle (LASt) Bramsche (ehemaliges<br />

Grenzdurchgangslager) beschlossen und umgesetzt.<br />

Diese Entscheidung hat zur Folge, dass immer<br />

mehr Flüchtlinge in "Lagern" bleiben müssen, statt<br />

sie wie bisher dezentral auf die Kommunen umzuverteilen.<br />

Allein die ZASt Braunschweig hat 700<br />

Plätze, die Außenstelle Goslar zusätzlich 300 Plätze.<br />

Die ZASt Oldenburg verfügt ebenfalls über 700<br />

Plätze, die LASt Bramsche demnächst über 550<br />

Plätze <strong>für</strong> Flüchtlinge. Das macht eine Gesamt-<br />

Unterbringungskapazität von 2.250 Plätzen aus.<br />

Nach den Berechnungen des Niedersächsischen<br />

Landesrechnungshofes sind die Kosten <strong>für</strong> die<br />

Unterbringung von Flüchtlingen in zentralen Anlauf-<br />

und Aufnahmestellen etwa dreimal höher als<br />

bei einer dezentralen Unterbringung. Fiskalische<br />

Argumente als Rechtfertigung dieser Unterbringung<br />

über die gesetzlich vorgesehene 3-Monatsfrist<br />

hinaus greifen demnach nicht. Auch die Verantwortung<br />

<strong>für</strong> das Personal des Landes in den vorgenannten<br />

Einrichtungen kann dieses Unterbringungskonzept<br />

nicht rechtfertigen.<br />

Offenbar ist es das Ziel dieser neuen Unterbringungspolitik,<br />

Flüchtlinge während der gesamten<br />

Dauer ihres Aufenthaltes in Niedersachsen zu isolieren<br />

und die oben genannten Einrichtungen als<br />

"verdeckte Ausreisezentren" zu etablieren. Bei der<br />

Bewertung dieser Entscheidung ist zu beachten,<br />

dass ein großer Teil der <strong>Asyl</strong>verfahren bis <strong>zum</strong><br />

rechtskräftigen Abschluss durchaus mehrere Jahre<br />

dauern. Die Unterzeichner lehnen eine solche Unterbringung<br />

aus humanitären Gründen ab: Jeder<br />

Flüchtling hat seine Heimat, seine sozialen Bezüge,<br />

die Familie und seine Freunde zurück-lassen müssen.<br />

Viele haben jahrelange Unterdrückung, Verfolgung,<br />

traumatische Erfahrungen durch Bürgerkriege,<br />

Kriege, Inhaftierungen, Folter hinter sich. Sie müssen<br />

zur Ruhe kommen, brauchen Beratung und Unterstützung,<br />

und sie wünschen sich in der Regel nichts mehr<br />

als ein ganz normales Leben in einer eigenen Wohnung.<br />

In zentralen Unterbringungsstätten werden die<br />

Menschen dagegen über längere Zeit isoliert und<br />

ausgegrenzt; ihr alltägliches Leben wird fremdbestimmt,<br />

normale Nachbarschaftskontakte fehlen.<br />

Auch eine eventuelle Arbeitsaufnahme zur Sicherstellung<br />

einer eigenverantwortlichen Lebensführung ist<br />

ihnen nur unter erschwerten Bedingungen möglich.<br />

Die vorstehende Beschreibung gilt insbesondere <strong>für</strong><br />

Minderjährige. Wir können die Absicht der Landesregierung<br />

nicht akzeptieren, auch Familien mit<br />

Kindern langfristig zentral unterzubringen und<br />

Flüchtlingskinder abseits der Regelschulen direkt im<br />

Lager zu unterrichten. <strong>Pro</strong>bleme vor Ort bei der<br />

Beschulung großer Gruppen von Flüchtlingskindern<br />

sind eine unmittelbare Folge dieser Unterbringungspolitik.<br />

Statt mit pseudopädagogischer<br />

Begründung die Sonderbehandlung von Flüchtlingen<br />

auch auf Kinder auszuweiten, fordern wir die Fortsetzung<br />

der dezentralen Unterbringung, um u.a.<br />

eine gezielte Förderung von Flüchtlingskindern in<br />

den Regelschulen zu ermöglichen.<br />

Forderungen:<br />

- Dezentrale Unterbringung nach 3 Monaten<br />

ZASt-Aufenthalt<br />

- Vorbereitung der Kinder und Jugendlichen<br />

während des ZASt-Aufenthaltes auf den<br />

Regelschulbesuch<br />

- Nach 3-monatigem Aufenthalt Beschulung<br />

in den Regelschulen<br />

4. Zur Aufhebung des Erlasses des Nds.<br />

Innenministers vom 21.11.1995 "Hinweise<br />

zur Förderung der freiwilligen Ausreise zur<br />

Vermeidung und Beantragung von<br />

Abschiebungshaft"<br />

Der Erlass des Niedersächsischen Innenministers<br />

zur Förderung der freiwilligen Ausreise sowiezur<br />

Vermeidung und Beantragung von Abschiebungshaft<br />

aus dem Jahr 1995 erfolgte seinerzeit vor dem<br />

Hintergrund heftiger innenpolitischer Auseinandersetzungen:<br />

Viele Menschenrechtsorganisationen,<br />

Kirchen und Verbände hatten sich darüber<br />

empört, dass Flüchtlinge nach jahrelangem Aufenthalt<br />

in Nacht- und Nebel-Aktionen ohne Vorankündigung<br />

in Abschiebungshaft genommen und<br />

abgeschoben wurden. Der Erlass vom 28.11.1995<br />

war eine Reaktion auf diese Kritik. Er stellte klar,<br />

dass bei der Einleitung von Abschiebungen und der<br />

Verhängung von Abschiebungshaft "der verfassungsmäßige<br />

Grundsatz der Verhältnismäßigkeit<br />

besonders zu beachten" ist. Daher sollte grundsätzlich<br />

eine freiwillige Ausreise ermöglicht werden.<br />

Abschiebungen sollten im Regelfall aus der Freiheit<br />

heraus erfolgen und Abschiebungstermine so rechtzeitig<br />

angekündigt werden, "dass die Betroffenen<br />

Gelegenheit haben, ihre Ausreise vorzubereiten und<br />

ihre persönlichen Angelegen-heiten zu regeln".<br />

Mit der Aufhebung dieses Erlasses setzt die Nds.<br />

Landesregierung ein erschreckendes Signal: Nicht<br />

die Menschenwürde der Flüchtlinge, sondern die<br />

Zahl der vollzogenen Abschiebungen setzt den<br />

Maßstab <strong>für</strong> das Handeln der Ausländerbehörden.<br />

58


Memorandum<br />

Zu be<strong>für</strong>chten ist, dass wieder vermehrt Fälle von<br />

"überfallartigen Abschiebungen im Morgengrauen"<br />

durchgeführt werden und dass noch mehr Flüchtlinge<br />

noch länger in Abschiebungshaft bleiben<br />

müssen, ohne dass eine Abschiebung kurzfristig<br />

möglich ist.<br />

Es ist falsch, wenn der Innenminister behauptet, eine<br />

Abschiebung käme <strong>für</strong> die Betroffenen nicht<br />

überraschend, denn sie wüssten von der Notwendigkeit,<br />

Deutschland wieder verlassen zu müssen.<br />

Tatsache ist aber, dass lt. Bundesverwaltungsamt<br />

26.161 Menschen nach Abschluss ihrer <strong>Asyl</strong>verfahren<br />

mit einer sog. "Duldung" in Niedersachsen leben,<br />

davon allein rd.15.000 seit mehr als fünf Jahren.<br />

(Ergänzender Hinweis: Im Bundesgebiet leben lt.<br />

Bundesverwaltungsamt 226.569 Geduldete, davon<br />

150.000 länger als 5 Jahre. Das sind 66%, Stand:<br />

31.12.2003.) Diese Menschen können nicht jahrelang<br />

täglich mit einer Abschiebung rechnen. Sie<br />

machen sich verständliche Hoffnungen, <strong>für</strong> sich<br />

und ihre Kinder eine Zukunftsperspektive in<br />

Deutschland zu erhalten.<br />

Innenminister Schünemann verweist in der Begründung<br />

zur Erlassaufhebung auf die Tatsache, dass<br />

ein Teil der Flüchtlinge eine Abschiebung durch<br />

Vorlage ärztlicher Atteste verhindert. Er verschweigt<br />

hingegen, dass viele der Betroffenen in<br />

Folge von Folter und traumatischen Kriegserfahrungen<br />

nicht abgeschoben werden dürfen und<br />

Abschiebungsschutz erhalten haben. Dass derartige<br />

Krankheiten oft erst kurz vor einer drohenden<br />

Abschiebung erkannt und behandelt werden, macht<br />

auf bestehende Missstände im Bereich der gesundheitlichen<br />

Versorgung von Flüchtlingen aufmerksam.<br />

Wir begrüßen, dass sich inzwischen auch über<br />

die fachinterne Öffentlichkeit hinaus ein Bewusstsein<br />

<strong>für</strong> das Ausmaß von Traumatisierungen bei Flüchtlingen<br />

und deren <strong>Pro</strong>bleme mit dieser Krankheit<br />

entwickelt hat. Statt darüber nachzudenken, wie<br />

man die Opfer von Folter und Krieg schneller<br />

abschieben kann, fordern wir von der Landesregierung,<br />

bessere medizinische Hilfen und Therapiemöglichkeiten<br />

<strong>für</strong> diesen Personenkreis zu schaffen.<br />

Die Erfahrungen mit einer unabhängigen Verfahrensberatung<br />

in Niedersachsen haben auch gezeigt,<br />

dass dieses Beratungs-angebot wesentlich dazu<br />

beitragen kann, dass Traumatisierte und Folteropfer<br />

sich eher öffnen und so diese individuellen Fluchtaspekte<br />

bereits zu einem früheren Zeitpunkt in den<br />

<strong>Asyl</strong>verfahren berücksichtigt werden können.<br />

Forderungen:<br />

- Rücknahme der Aufhebung des Erlasses<br />

vom 28.11.1995<br />

- Vorherige schriftliche Ankündigung des<br />

Abschiebungstermins<br />

- Bessere medizinische Angebote <strong>für</strong><br />

Traumatisierte<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

59


Memorandum<br />

5. <strong>Asyl</strong>bewerberleistungsgesetz / Aufhebung<br />

des Gutscheinzwangs <strong>für</strong> Flüchtlinge<br />

Die vom Innenausschuss zu Beginn des Jahres vorgenommene<br />

<strong>Anhörung</strong> zu der Frage, ob Niedersachsen<br />

die Kommunen weiterhin zwingen sollte,<br />

Gutscheine an Flüchtlinge auszugeben, hatte uns<br />

zunächst hoffen lassen, dass die Landesregierung<br />

dem Beispiel von Nachbarländern folgen und den<br />

Kommunen <strong>zum</strong>indest die Form der Leistungsgewährung<br />

<strong>für</strong> Flüchtlinge freistellen würde, <strong>zum</strong>al die<br />

angehörten Institutionen und Fachverbände sich<br />

<strong>für</strong> eine Aufhebung des Sachleistungszwangs ausgesprochen<br />

hatten. Mit Enttäuschung stellen wir jetzt<br />

fest, dass die Landesregierung trotz dieses eindeutigen<br />

Votums am Gutscheinzwang festhalten will.<br />

Die Begründung, Flüchtlinge würden mit Bargeld<br />

nur ihre Fluchthelfer bezahlen, halten wir <strong>für</strong> nicht<br />

zutreffend. Aus <strong>langjährig</strong>er Erfahrung wissen wir,<br />

dass Fluchthilfe- und Schlepperdienste in der Regel<br />

vor der Flucht bezahlt werden müssen und keinesfalls<br />

aus den spärlichen staatlichen Transferleistungen<br />

beglichen werden können, die <strong>für</strong> Flüchtlinge ohnehin<br />

nur rund 70% des Sozialhilfesatzes ausmachen. Der<br />

Einkauf mit Gutscheinen wird von den Betroffenen<br />

als demütigend und diskriminierend empfunden. Die<br />

Gutscheinausgabe dient - ebenso wie die Unterbringung<br />

in den Sammelunterkünften - vorrangig<br />

dem Zweck der "Abschreckung". Wir halten es <strong>für</strong><br />

menschenun-würdig und lehnen schon seit Beginn<br />

der Regelung ab, ausländerrechtliche Ziele durch<br />

leistungsrechtliche Restriktionen erreichen zu wollen,<br />

<strong>zum</strong>al diese nachweislich <strong>für</strong> die Kommunen Mehrkosten<br />

zur Folge haben. Deshalb fordern wir das<br />

Land Niedersachsen, auf sich <strong>für</strong> die Abschaffung<br />

des <strong>Asyl</strong>bewerberleistungsgesetzes einzusetzen.<br />

Forderung:<br />

- Aufhebung des Gutscheinzwangs <strong>für</strong><br />

Flüchtlinge<br />

- Aufforderung an die Niedersächsische<br />

Landesregierung , sich auf Bundesebene <strong>für</strong><br />

die Abschaffung des <strong>Asyl</strong>bewerberleistungsgesetzes<br />

einzusetzen.<br />

6. Duldungspraxis -<br />

<strong>Bleiberecht</strong>sregelung <strong>für</strong> Geduldete<br />

Seit Jahren bemängeln die Verbände der Freien<br />

Wohlfahrtspflege, Kirchen und Menschenrechtsorganisationen<br />

die Praxis der nicht hinnehmbaren<br />

Kettenduldungen. Allein in Niedersachsen hielten<br />

sich <strong>zum</strong> 31.12.03 insgesamt 26.161 Personen mit<br />

einer Duldung auf, rd. 15.000 schon länger als fünf<br />

Jahre, etliche auch seit über zehn Jahren.<br />

1999 einigten sich die Innenminister der Bundesländer<br />

auf eine generelle Altfallregelung <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong><br />

<strong>geduldete</strong> Flüchtlinge. Durch diese Regelung gelang<br />

es zwar einer großen Zahl (ca. 4.000) in Niedersachsen.<br />

lebenden Flüchtlingen einen gesicherten<br />

Aufenthalt zu erlangen und durch den gleichzeitigen<br />

Anspruch auf eine Arbeitsberechtigung sich in<br />

Nds. zu integrieren. Allerdings war die große Gruppe<br />

der <strong>geduldete</strong>n Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien<br />

von dieser Regelung ausgenommen. Sie<br />

und eine Vielzahl von nach Niedersachen geflohenen<br />

Menschen aus Ländern wie Afghanistan, Liberia,<br />

Togo, Angola und Kongo, aber auch aus Irak<br />

und Syrien, deren <strong>Asyl</strong>anträge aus unterschiedlichen<br />

Gründen abgelehnt wurden, leben daher über Jahre<br />

hinweg mit immer wieder neu erteilten Duldungen<br />

in Niedersachsen.<br />

60


Memorandum<br />

Die meisten von ihnen sind Familien mit Kindern,<br />

die hier aufgewachsen sind und <strong>zum</strong> Teil hier geboren<br />

wurden. Deutschland ist ihnen zur Heimat geworden.<br />

Sie haben hier die Schule besucht und sprechen besser<br />

deutsch als die Sprache ihrer Eltern. Zu den Herkunftsländern<br />

ihrer Eltern haben sie kaum noch<br />

Bezug.<br />

Trotz der fortgesetzten Unsicherheit ihres Aufenthaltes<br />

versuchen viele, sich zu integrieren. Aber<br />

selbst wenn ihnen kein Arbeitsverbot auferlegt ist,<br />

haben sie wegen der oft nur kurzfristig erteilten<br />

Duldung kaum eine Möglichkeit zu arbeiten.<br />

Ohne eine baldige <strong>Bleiberecht</strong>sregelung müssen<br />

sie weiterhin in einer aufenthaltsrechtlichen Unsicherheit<br />

leben oder gar ihre Abschiebung be<strong>für</strong>chten.<br />

Die vorhandenen Qualifi-kationen und Potenziale<br />

von Flüchtlingen gehen verloren. Eine langfristige<br />

Perspektivlosigkeit, Unsicherheit und Angst<br />

führen in vielen Fällen zu sozialen, psychischen<br />

und gesundheitlichen Krisen und ziehen soziale<br />

Folgekosten nach sich.<br />

Forderung:<br />

- Aufforderung an die Niedersächsische<br />

Landesregierung, sich auf Bundesebene<br />

<strong>für</strong> eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung einzusetzen<br />

7. Härtefallregelung<br />

Ergänzend zu einer <strong>Bleiberecht</strong>sregelung, die eine<br />

Aufnahmeregelung <strong>für</strong> die Gruppe der <strong>langjährig</strong><br />

Geduldeten beinhaltet, ist eine Härtefallregelung<br />

zur Lösung auftretender Härtefälle notwendig. Aus<br />

der Beratungspraxis sind uns Fälle von Menschen<br />

bekannt, die z.T. seit Jahren in Deutschland leben.<br />

Sie können weder abgeschoben werden, noch kann<br />

aufgrund der bestehenden Regelungen der geltenden<br />

Gesetze eine befriedigende und rechtsstaatlich<br />

einwandfreie Lösung gefunden werden. Ist erst<br />

einmal eine Ablehnung rechtskräftig entschieden<br />

worden, verbleiben keine Spielräume mehr, um zu<br />

einer humanitären Lösung zu kommen.<br />

Forderungen:<br />

- Einrichtung einer Härtefallkommission<br />

durch die Niedersächsische<br />

Landesregierung<br />

8. Beratungsstruktur<br />

Die bisherigen Anstrengungen einer zunehmenden<br />

Vernetzung von trägerübergreifenden Angeboten<br />

in der niedersächsischen Migrationsarbeit werden<br />

von uns überwiegend als Fortschritt gewertet.<br />

Dabei muss allerdings darauf hingewiesen werden,<br />

dass die Umsetzung in erste Linie weniger aufgrund<br />

qualitativer Überlegungen, sondern eher als Folge<br />

massiv wegfallender landesfinanzierter Stellen bei<br />

freien Trägern und Initiativen war.<br />

Derzeit ist festzustellen, dass aus dem politischen<br />

Raum immer dann verstärkt Ehrenamt-lichkeit<br />

gefordert wird, wenn hauptamtliche Strukturen<br />

nicht mehr aufrechterhalten werden können oder<br />

sollen. Im Bereich der Arbeit mit Migrantinnen und<br />

Migranten hat es in der Vergangenheit bereits<br />

immer schon ein hohes Maß ehrenamtlicher Mitarbeit<br />

gegeben. Selbst wenn der Anteil ehrenamtlichen<br />

Engagements noch verstärkt werden könnte,<br />

besteht die Notwendigkeit einer ausreichend ausgestatteten<br />

Struktur hauptamtlich besetzter Stellen.<br />

Vernetzungsbemühungen aller Beteiligten können<br />

letztlich nur dann wirklich erfolgreich sein, wenn als<br />

Grundlage eine flächendeckende Mindeststruktur<br />

vorhanden ist.<br />

Neben der Schaffung einer klaren und ausreichenden<br />

strukturellen Arbeitsebene ist es den politisch<br />

Verantwortlichen in den letzten Jahrzehnten nicht<br />

gelungen, ein Integrationsklima zu schaffen, das<br />

einen gesellschaftlichen Konsens über ein Miteinander<br />

von Deutschen und Migranten erkennbar voranbringt.<br />

Nur wenn die Mehrheitsgesellschaft überhaupt<br />

weiß, wohin sie und ihre politische Führung<br />

will, besteht die Chance, die noch bestehenden<br />

<strong>Pro</strong>bleme des Zusammenlebens vernünftig zu<br />

lösen.<br />

Forderungen:<br />

- Sicherstellung einer verlässlichen<br />

Finanzierung und einer ausreichenden<br />

flächen deckenden Beratungsstruktur<br />

- Motivationsunterstützung Ehrenamtlicher<br />

durch Schaffung verlässlicher politischer<br />

und auf Perspektive ausgerichteter<br />

Rahmenbedingungen auf Landes- und<br />

Bundesebene<br />

Unterzeichner:<br />

Landesarbeitsgemeinschaft der Freien<br />

Wohlfahrtspflege (LAG Niedersachsen)<br />

Niedersächsischer Flüchtlingsrat<br />

Das Memorandum wird (bisher) weiterhin unterstützt<br />

von:<br />

Arbeitsgemeinschaft MigrantInnen und Flüchtlinge<br />

in Niedersachsen (AMFN)<br />

Janusc-Korzak-Verein Humanitäre Flüchtlingshilfe<br />

e.V.<br />

Integrationsrat Göttingen<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

61


Landtagesdebatte<br />

32. Landtagsdebatte <strong>zum</strong> Thema<br />

“Für eine humantitäre Altfallregelung”<br />

vom 25. Juni 2004<br />

Nachfolgend dokumentieren wir die Landtagsdebatte vom 25. Juni 2004 zu den Anträgen "Für eine humanitäre<br />

Altfallregelung 2004" - Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 15/1132 und "<strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> ethnische<br />

Minderheiten aus dem Kosovo" - Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 15/1148.<br />

Beide Anträge wurden zur weiteren Behandlung in die Ausschüsse verwiesen. Folgende Aspekte sind bemerkenswert:<br />

- Den Ausführungen des CDU-Abgeordneten Hans-Christian Biallas läßt sich entnehmen,<br />

dass die CDU der Einrichtung einer Härtefallkommission kritisch bis ablehnend gegenüber steht: Biallas<br />

tendiert dazu , Härtefallentscheidungen im Rahmen des Petitionsverfahrens zu treffen und dabei ggfs. ein<br />

positives Votum von privaten Bürgschaftserklärungen Dritter abhängig zu machen. (Der niedersächsische<br />

Innenminister Schünemann hat im Interview mit Radio Flora bereits erklärt, dass er von der Einrichtung<br />

einer Härtefallkommission nichts hält.) Der Abgeordnete Gansäuer (CDU) betrachtet die Rückkehr ethnischer<br />

Minderheiten als eine Art pädagogisches <strong>Pro</strong>gramm zur Erziehung der Kosovaren/innen, die lernen<br />

sollen, sich multiethnisch zu organisieren. Dabei ignoriert er, dass die Menschen, um die es bei der<br />

<strong>Bleiberecht</strong>skampagne geht, oft längst ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben und nicht einfach<br />

<strong>zum</strong> Instrument zur Durchsetzung außenpolitischer Ziele gemacht werden können. Eine Unterstützung<br />

<strong>für</strong> eine Sonderregelung zugunsten von ethnischen Minderheiten aus dem Kosovo oder gar <strong>für</strong> eine allgemeine<br />

<strong>Bleiberecht</strong>sregelung ist von der CDU Niedersachsen wohl kaum zu erwarten. - Die Abgeordnete<br />

Jutta Rübke (SPD), die <strong>für</strong> den krankheitsbedingt abwesenden Abgeordneten Klaus-Peter Bachmann<br />

in die Bresche gesprungen ist, vertritt die Notwendigkeit einer <strong>Bleiberecht</strong>sregelung in einer klaren Sprache<br />

und überzeugenden Form. Zu Recht verweist aber der Abgeordnete Riese (FDP) darauf, dass es <strong>zum</strong>indest<br />

auch ihr Parteikollege Otto Schily war und ist, der eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung bislang verhindert<br />

(hat). Womöglich eignet sich der Antrag der SPD wie auch seine Begründung, um die SPD in anderen<br />

Bundesländern wie auch auf Bundesebene <strong>für</strong> eine entsprechendePolitik zu gewinnen. - Der Abgeordneten<br />

Georgia Langhans (Grüne) gebührt das Verdienst, die <strong>Bleiberecht</strong>sforderung immer wieder engagiert<br />

im Landtag <strong>zum</strong> Thema zu machen und dabei ausdrücklich insbesondere auch ein Aufenthaltsrecht <strong>für</strong><br />

ethnische Minderheiten aus dem Kosovo einzufordern. Auch ihr wird man allerdings sagen müssen, dass<br />

ihre Partei auf Bundesebene nicht das einlöst, was sie auf Landesebene fordert. - Der Abgeordnete Roland<br />

Riese (FDP) verweist zwar am Rande auf die abgeschwächte <strong>Bleiberecht</strong>sregelung in dem Gesetzesentwurf<br />

der FDP <strong>für</strong> ein Zuwanderungsgesetz aus dem letzten Jahr, sieht sich gleichzeitig jedoch<br />

genötigt, unter Bezugnahme auf Brecht eine "Widerstandspflicht" gegen das "Unrecht" eines generellen<br />

<strong>Bleiberecht</strong>s <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong> Flüchtlinge zu proklamieren. Es ist geplant, <strong>zum</strong> diesjährigen "Tag<br />

des Flüchtlings" in allen Bundesländern noch einmal Pressekonferenzen <strong>zum</strong> Thema "<strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> Geduldete"<br />

durchzuführen. Die vorliegende Dokumentation unserer gemeinsamen <strong>Anhörung</strong> am 4. Juni<br />

2004, die auch in der Plenardebatte mehrfach angesprochen wurde, wird hoffentlich die weitere öffentliche<br />

Debatte <strong>zum</strong> Thema beflügeln.<br />

Kai Weber<br />

Auszug aus der 39. Plenarsitzung des niedsächsischen<br />

Landtags am 25.6.2004:<br />

Ich rufe jetzt vereinbarungsgemäß die beiden folgenden<br />

Tagesordnungspunkteszusammen auf, also<br />

Tagesordnungspunkt 48 Erste Beratung: Für eine<br />

humanitäre Altfallregelung 2004 - Antrag der Fraktion<br />

der SPD -Drs. 15/1132undTagesordnungspunkt<br />

49: Erste Beratung: <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> ethnische<br />

Minderheiten aus dem Kosovo - Antrag der FraktionBündnis<br />

90/Die Grünen - Drs. 15/1148 (Unruhe)<br />

Zu diesen Anträgen findet gleich, nachdem Ruhe<br />

eingekehrt ist, antragsgemäß die erste Beratung<br />

statt. - Herzlichen Dank. Ich erteile nunmehr von<br />

der SPD-Fraktion Frau Rübke das Wort. Bitte<br />

schön, Frau Rübke!<br />

Jutta Rübke (SPD):<br />

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren, sehr geehrte<br />

Damen! Ich kann weder plattdeutsch denken noch<br />

plattdeutsch sprechen. Daher kommt es jetzt leider<br />

nur auf Hochdeutsch. Ich bitte da<strong>für</strong> schon um<br />

Entschuldigung. Aber vielleicht nehme ich Nachhilfeunterricht,<br />

am liebsten natürlich dann bei Meta.<br />

(Heiterkeit und Beifall - Karl-Heinz Klare [CDU]:<br />

Das finde ich irgendwie unfair! Das können Sie<br />

62


Landtagesdebatte<br />

auch beim Kultusminister haben!)<br />

- Ja gut, ich wechsele vielleicht einmal. Im Hinblick<br />

auf Gender Mainstreaming wäre das vielleicht eine<br />

Möglichkeit.<br />

(Zuruf von der SPD: Meta war aber besser!)<br />

Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, die Hoffnung,<br />

dass es im zu erwartenden Zuwanderungsgesetz<br />

eine bundeseinheitliche generelle Altfallregelung<br />

geben wird, schwindet dahin. Denn die derzeit<br />

vorgesehene Härtefallregelung im Zuwanderungsgesetz<br />

ersetzt keine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung. Falls Sie,<br />

Herr Innenminister, noch Chancen <strong>für</strong> eine Regelung<br />

im Zuwanderungsgesetz sehen, fordern wir Sie<br />

herzlich auf, sich da<strong>für</strong> bis zuletzt einzusetzen und<br />

sich<br />

nicht der Mehrheit der unionsgeführten Länder<br />

anzuschließen, die gegen eine bunde-seinheitliche<br />

Lösung sind.<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

Andernfalls fordern wir die Niedersächsische Landesregierung<br />

auf, eine niedersächsische Altfallregelung<br />

zu erlassen. Denn <strong>für</strong> die große Anzahl<br />

<strong>langjährig</strong> hier lebender Flüchtlinge ist eine klare<br />

Lösung erforderlich. Die letzte <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />

wurde in Niedersachsen 1999 beschlossen.<br />

Seitdem ist die Zahl der Krisenherde in der Welt<br />

nicht kleiner geworden. Ökologische und ökonomische<br />

Katastrophen, Bürgerkriege und die dramatische<br />

Situation im Nahen Osten treiben Menschen<br />

aus ihren Heimatländern in die Flucht. Wer will es<br />

ihnen verdenken! Die Länder der Völkergemeinschaft,<br />

in denen es zurzeit keine lebensbedrohenden<br />

Katastrophen gibt, sind verpflichtet, Flüchtlingen<br />

zu helfen. Darum auch wir hier in der Bundesrepublik<br />

Deutschland und wir hier in Niedersachsen.<br />

Ein breites Bündnis aus Wohlfahrtsverbänden,<br />

Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen,<br />

Kirchen und Gewerkschaften setzt sich zurzeit mit<br />

einer Petition beim Niedersächsischen Landtag <strong>für</strong><br />

ein <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> in Niedersachsen<br />

<strong>geduldete</strong> Flüchtlinge ein. Viele der hier lebenden<br />

Flüchtlinge sind zehn Jahre und länger in Niedersachsen,<br />

sind integriert, beherrschen die deutsche<br />

Sprache oft besser als die Heimatsprache ihrer Eltern<br />

und kennen deren Heimat oft nur aus Erzählungen.<br />

Diese so genannten <strong>geduldete</strong>n Menschen<br />

unterliegen in Niedersachsen einem faktischen Arbeitsverbot.<br />

Aber Arbeit gehört <strong>zum</strong> Menschen wie<br />

beim Vogel das Fliegen. Nimmt man ihm die Flügel,<br />

dann ist er kein Vogel mehr. Wegen des so genannten<br />

Nachrangigkeitsprinzips erhalten sie auch bei<br />

Nachweis eines Arbeitsplatzes keine Arbeitserlaubnis.<br />

Jugendliche, die ein Ausbildungsangebot haben,<br />

können es nicht annehmen, da ihnen die Arbeitserlaubnis<br />

verweigert wird. Sie alle werden damit<br />

bewusst in den Bezug von Sozialhilfe gedrängt, und<br />

das wiederum wirkt sich nachteilig auf ihre Aufenthaltsverfestigung<br />

aus. Die jahrelange Verweigerung<br />

von Arbeit, die belastenden Lebensbedingungen,<br />

unter denen <strong>geduldete</strong> Flüchtlinge und <strong>Asyl</strong><br />

Suchende und deren Kinder leben müssen, führt bei<br />

vielen zu Depressionen, Antriebslosigkeit, Resignation<br />

und Verlust des Selbstwertgefühls. Meine<br />

Herren und Damen von CDU und FDP, wenn im<br />

Moment auch nicht so viele im Saal sind<br />

(Zuruf von der FDP: Bei Ihnen sind es aber auch<br />

nicht viele!)<br />

- Die kennen aber vielleicht schon meine Rede.<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

63


Landtagesdebatte<br />

(Jörg Bode [FDP]: Deshalb sind die weggelaufen?)<br />

Herr Bode, vor Ihnen würden meine Kollegen weglaufen,<br />

nicht vor mir! -<br />

Meine Damen und Herren von CDU und FDP, ich<br />

glaube, dass Sie sich unserem Antrag anschließen<br />

werden. Denn auch Sie haben das Bild der Familie<br />

aus Sri Lanka vor Augen, deren Petition wir am 28.<br />

Mai hier im Hause diskutiert haben und die letztendlich<br />

negativ beschieden wurde. Hätte es da<br />

schon eine Altfallregelung gegeben, könnte diese<br />

Familie hier bleiben; denn sie hätte alle Kriterien<br />

einer Regelung erfüllt: <strong>langjährig</strong>er Aufenthalt in der<br />

Bundesrepublik Deutschland, hier geborene und<br />

schon schulpflichtige Kinder, keine Straffälligkeit,<br />

Lebensunterhalt gesichert durch eigene Erwerbstätigkeit<br />

bzw. Sozialhilfebezug, der nicht selbst zu<br />

verantworten ist, da keine Vermittlung von Erwerbstätigkeit<br />

möglich ist. Ausnahmen müssen nur dann<br />

gemacht werden, wenn das Erwerbseinkommen nur<br />

deshalb nicht ausreicht und ergänzende Sozialhilfe<br />

gezahlt werden muss, weil Kinder zu versorgen<br />

sind. Dies ist keine Besserstellung von Familien mit<br />

Kindern, sondern eine Gleichstellung mit kinderlosen<br />

Familien bzw. Einzelpersonen. Denn es ist<br />

unser aller moralische Pflicht, Kindern, egal aus<br />

welchem Land sie kommen, Lebenschancen zu<br />

geben<br />

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)<br />

Für eine Altfallregelung spricht auch, dass die Kommunen<br />

finanziell erheblich entlastet würden; denn<br />

mit dem Erhalt der Aufenthaltsbefugnis ist der<br />

Anspruch auf Erteilung einer Arbeitsberechtigung<br />

verbunden. Nachweislich können die meisten<br />

Flüchtlinge ihren Lebensunterhalt ab diesem Zeitpunkt<br />

ohne Sozialhilfe bestreiten. Der derzeitige<br />

Iststand hingegen bedeutet eine jahrelange Alimentierung<br />

dieser Menschen. Herr Innenminister Schünemann,<br />

ich fordere Sie auf, uns die derzeitigen<br />

Kosten <strong>für</strong> diesen Personenkreis zu nennen. Denen<br />

gegenüberzustellen wären die erwerbsfähigen<br />

Personen. Das würde den einen Zweifler oder die<br />

andere Zweiflerin bestimmt von einer Altfallregelung<br />

überzeugen.<br />

Ich hoffe auf eine konstruktive Zusammenarbeit im<br />

Innenausschuss, Herr Biallas. Als weiteren mitberatenden<br />

Ausschuss bitte ich den Ausschuss <strong>für</strong><br />

Rechts- und Verfassungsfragen und die Ausländerkommission<br />

zu benennen. - Vielen Dank, dass Sie<br />

auch einer Rede in Hochdeutsch zugehört haben.<br />

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)<br />

Vizepräsidentin Astrid Vockert: Für die Fraktion<br />

Bündnis 90/Die Grünen erteile ich der Frau Kollegin<br />

Langhans das Wort. Bitte schön!<br />

Georgia Langhans (GRÜNE):<br />

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr<br />

verehrte Kolleginnen und Kollegen! Jetzt ist Frau<br />

Merk leider nicht da. Ich wollte eine ganz kleine<br />

Vorabbemerkung zu der Arbeit im Petitionsausschuss<br />

machen. Im Prinzip hat sie Recht. Es muss<br />

aber jeder Fraktion gestattet sein, dass sich nach<br />

anderen Überlegungen, die sich in der Fraktion<br />

64


Landtagesdebatte<br />

ergeben, bei nachrangigen Beratungen eine andere<br />

Position ergibt. Das muss möglich sein.<br />

(Beifall bei den GRÜNEN)<br />

Meine Damen und Herren, in den vergangenen<br />

Jahren schien sich die Situation der ethnischen<br />

Minderheiten im Kosovo zu verbessern. Es gab<br />

weniger Sicherheitszwischenfälle, es gab etwas<br />

mehr Bewegungsfreiheit. Mit anderen Worten: Es<br />

gab etwas mehr Normalität. Wie instabil die Lage<br />

trotz Verbesserung dennoch war, haben Mitglieder<br />

des Landtagspräsidiums bereits vor einem Jahr bei<br />

ihrem Besuch im Kosovo hautnah miterleben<br />

können. Nach<br />

der Ermordung von drei Serben war die Stimmung<br />

im Kosovo derart aufgeheizt, dass der damalige<br />

UN-Beauftragte Michael Steiner be<strong>für</strong>chtete, dieser<br />

Anschlag könnte der Auftakt <strong>für</strong> weitere Gewaltakte<br />

sein. Leider hat sich diese Be<strong>für</strong>chtung Anfang<br />

dieses Jahres auf dramatische Weise bewahrheitet.<br />

Mit den gewaltsamen Auseinandersetzungen im<br />

März hat sich die Lage <strong>für</strong> die ethnischen Minderheiten<br />

im Kosovo weiter erheblich verschlechtert.<br />

Internationale Beobachter sprechen von pogromartigen<br />

Unruhen und Auseinandersetzungen. Mehr<br />

als 4 000 Kosovo-Serben, Ashkali und Roma sind<br />

aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben<br />

worden, 19 Personen starben, Häuser wurden<br />

niedergebrannt, Kirchen und Klöster zerstört oder<br />

beschädigt. Mehr als 1 000 Personen, darunter zahlreiche<br />

KFOR-Soldaten und UN-Polizisten, wurden<br />

verletzt. Es gelang weder den internationalen noch<br />

den kosovarischen Sicherheitskräften, die gezielten<br />

Übergriffe auf Rückkehrersiedlungen zu verhindern.<br />

Ebenso wenig ist es gelungen, die Vertreibung<br />

von ethnischen Minderheiten zu verhindern. Von<br />

den Vertreibungen waren im Übrigen auch Gorani<br />

und Bosniaken betroffen. Viele von ihnen haben<br />

vorsichtshalber ihre Wohnungen verlassen und sich<br />

an andere Orte begeben. Die Situation hat sich <strong>für</strong><br />

alle serbischsprechenden Minderheiten verschlechtert;<br />

unter ihnen wächst die Angst Meine Damen<br />

und Herren, die UN-Verwaltung hat entschieden,<br />

ab 17. März Abschiebungen von ethnischen Minderheiten<br />

in den Kosovo zu stoppen. UNMIK,<br />

UNHCR und OSZE haben übereinstimmend<br />

erklärt, dass Leben und Grundrechte von Minderheitenangehörigen<br />

im Kosovo massiv gefährdet<br />

sind. Meine Damen und Herren, daraus ergibt sich<br />

die logische Konsequenz, dass Rückführungen auf<br />

absehbare Zeit unterbleiben müssen.<br />

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)<br />

Denn eine erzwungene Rückkehr setzt das äußerst<br />

fragile ethnische Gleichgewicht aufs Spiel und<br />

erhöht die Gefahr erneuter innerethnischer Zusammenstöße.<br />

Die Bundesregierung unternimmt zurzeit<br />

größte Anstrengungen, die Lage im Kosovo zu<br />

stabilisieren und zu verbessern. In dieser Situation<br />

Abschiebungen in den Kosovo auch nur in Erwägung<br />

zu ziehen, wäre nicht nur menschlich, sondern<br />

auch sicherheitspolitisch unverantwortlich.<br />

(Beifall bei den GRÜNEN)<br />

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein<br />

Wort dazu sagen: Wenn Familienväter straffällig<br />

werden, dann darf meines Erachtens darunter nicht<br />

die Familie leiden. Dann sollte man die Familienväter<br />

ausweisen, aber bitte <strong>zum</strong>indest die Familien hier<br />

lassen. Es kann in unseren Augen keine Sippenhaft<br />

geben Meine Damen und Herren, stattdessen ist es<br />

jetzt an der Zeit, <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong>n Minderheitenangehörigen<br />

aus dem Kosovo einen rechtmäßigen<br />

und dauerhaften Aufenthalt zu gewähren. Sie<br />

haben ihre <strong>langjährig</strong>e Duldung in den meisten Fällen<br />

nicht selbst verschuldet. Mit dem Memorandum<br />

of understanding verbietet sich bisher ihre Abschiebung,<br />

und das wird sich auch in absehbarer Zeit<br />

nicht ändern. Da CDU und CSU im Bund eine Altfallregelung<br />

im jetzt beschlossenen Zuwande-rungsbegrenzungsgesetz<br />

verhindert haben, ist es nunmehr<br />

Sache der Länder, hier Regelungen zu treffen.<br />

Wir fordern Innenminister Schünemann auf, sich<br />

auf der Innenministerkonferenz mit Nachdruck <strong>für</strong><br />

eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung von <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong>n<br />

Minderheiten aus dem Kosovo einzusetzen. Um es<br />

ganz deutlich zu sagen: Eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />

kann sich nicht ausschließlich am Sozialhilfebezug<br />

orientieren. Hier dürfen Realitäten nicht weiterhin<br />

ausgeblendet werden, auch nicht die - das ist auch<br />

eben von der SPD angesprochen worden -, dass die<br />

nachgeordnete Arbeitserlaubnis einem faktischen<br />

Arbeitsverbot gleichkommt. Gängige Praxis ist es<br />

auch, dass Arbeitsverbote ausgesprochen und Ausbildungsverbote<br />

<strong>für</strong> Jugendliche erteilt werden, weil<br />

Duldungen <strong>zum</strong>eist u. a. nur noch wochenweise<br />

ausgesprochen werden. Wenn es <strong>Asyl</strong>bewerbern<br />

trotz aller schier unüberwindbaren Hindernissen<br />

gelingt, dennoch eine Arbeitsstelle zu bekommen,<br />

wird diese in der Regel so schlecht bezahlt, dass sich<br />

ergänzende Sozialhilfe oftmals nicht vermeiden<br />

lässt. <strong>Asyl</strong>bewerbern jede Möglichkeit einer<br />

Erwerbstätigkeit zu entziehen und ihnen das auch<br />

noch anzulasten, das kann man getrost als Zynismus<br />

bezeichnen.<br />

(Beifall bei den GRÜNEN)<br />

Meine Damen und Herren, heute zeigt sich, dass<br />

wir mit unserem Antrag im Mai 2003 <strong>für</strong> eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />

sehr richtig lagen. Wieder einmal<br />

hat sich erwiesen, dass die CDU nicht in der Lage<br />

ist, sich, was die ausländerrechtlichen Fragen anbelangt,<br />

dringenden <strong>Pro</strong>blemen zu stellen und nach<br />

Möglichkeiten zu suchen. Sie sind immer nur dann<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

65


Landtagesdebatte<br />

in vorderster Front zu finden, wenn es darum geht,<br />

restriktiv gegen Ausländer zu handeln. Die Frage<br />

einer <strong>Bleiberecht</strong>sregelung ist nicht weiter auf die<br />

lange Bank zu schieben. Nicht nur die <strong>Anhörung</strong><br />

<strong>zum</strong> <strong>Bleiberecht</strong> am 4. Juni im Rathaus in Hannover<br />

hat das nachhaltige Engagement von Kirchen,<br />

Wohlfahrtsverbänden, PRO ASYL aufgrund eines<br />

anhaltenden Handlungsdruckes wieder einmal eindrucksvoll<br />

bestätigt - übrigens auch viele <strong>Pro</strong>minente:<br />

Herr Schwarz-Schilling hat dort geredet, Norbert<br />

Blüm, Heiner Geißler, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger<br />

und nicht zuletzt unsere Ausländerbeauftragten<br />

des Landes und des Bundes, sie alle unterstützen<br />

inzwischen die Kampagne "Hiergeblieben!".<br />

(Beifall bei den GRÜNEN)<br />

Nach Jahren ist immerhin jetzt auch die SPD da<strong>für</strong>.<br />

Es verbietet sich hier, von Populismus zu sprechen.<br />

Ich nehme es Ihnen ab, dass auch Sie von der dringenden<br />

Notwendigkeit eines <strong>Bleiberecht</strong>s unter<br />

bestimmten Bedingungen überzeugt sind. Den<br />

wesentlichen Punkt haben Sie schon angesprochen.<br />

Meine Damen und Herren, seien Sie dabei trotz<br />

alledem ehrlich, auch wenn es unpopulär ist. Solange<br />

das faktische Arbeitsverbot <strong>für</strong> <strong>Asyl</strong>bewerber<br />

aufrechterhalten bleibt, werden immer Sozialhilfekosten<br />

anfallen. Es wäre also sinnvoll, meine<br />

Damen und Herren von der CDU, Bundesinnenminister<br />

Schily davon zu überzeugen, den Zugang <strong>zum</strong><br />

Arbeitsmarkt <strong>für</strong> die betroffenen Personen zu<br />

ermöglichen. Da die Zusammenarbeit - <strong>zum</strong>indest<br />

in der Vergangenheit - von Herrn Schily mit Herrn<br />

Beckstein und Herrn Müller so gut geklappt hat, ist<br />

das sicherlich auch auf Dauer Erfolg versprechend.<br />

Ansonsten begrüßen wir den Antrag der SPD-Fraktion.<br />

Ermöglicht er doch, uns noch ein weiteres Mal<br />

mit der Altfallregelung zu befassen. Nachdem das<br />

Zuwanderungsgesetz keine diesbezüglichen Regelungen<br />

vorsieht, sind in erster Linie die Länder in<br />

die Verantwortung zu nehmen. Meine Damen und<br />

Herren von CDU und FDP, verweigern Sie sich diesem<br />

Anliegen nicht. Es geht hier nicht mehr um die<br />

Aufrechterhaltung von Paragrafen und Gesetzesvorgaben.<br />

Es geht um Einzelschicksale, es geht um<br />

Menschen. Wir haben es hier oft genug deutlich<br />

rlebt. Ermöglichen Sie, meine Damen und Herren,<br />

aus humanitären Gründen heraus zunächst eine<br />

<strong>Bleiberecht</strong>sregelung <strong>für</strong> die Minderheiten aus dem<br />

Kosovo, und lassen Sie uns im weiteren Verlauf<br />

über eine generelle Altfall-regelung verhandeln.<br />

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)<br />

Vizepräsidentin Astrid Vockert: Für die CDU-Fraktion<br />

spricht nunmehr Herr Kollege Biallas. Bitte<br />

schön!<br />

Hans-Christian Biallas (CDU):<br />

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und<br />

Herren! Es geht hier in derTat um ein sehr ernstes<br />

Thema, weil es um Menschen geht. Ich möchte zu<br />

dem Antrag der SPD-Fraktion reden. Der Kollege<br />

Gansäuer wird gleich noch etwas zu dem Antrag der<br />

Fraktion der Grünen sagen. Sie, meine Damen und<br />

Herren von der SPD, fordern eine Altfallregelung.<br />

Das neue Zuwanderungsgesetz sieht diese ausdrücklich<br />

nicht vor,<br />

(Dieter Möhrmann [SPD]: Warum nicht?)<br />

auch nicht, wie Sie sie fordern, mit Einschränkungen.<br />

Ich weiß nicht, warum Herr Schily, der Verhand-<br />

66


Landtagesdebatte<br />

lungsführer der SPD gewesen ist, so entschieden<br />

hat. Deswegen haben Sie auch vorsorglich in Ihren<br />

Antrag geschrieben, dass es dann eine niedersächsische<br />

Sonderregelung geben soll. Ich kann Ihnen<br />

sehr deutlich sagen: Es wird keine Sonderregelung<br />

geben. Gleichwohl ist das <strong>Pro</strong>blem, das Sie angesprochen<br />

haben, sehr ernst. Wir müssen sehen, wie<br />

wir mit den Regelungen des Zuwanderungsgesetzes<br />

- so wie es hier vorliegt und noch nicht verabschiedet<br />

worden ist - eine verantwortbare Lösung finden.<br />

Bisher haben wir in der Vergangenheit verschiedene<br />

Altfallregelungen gehabt. Ich persönlich war immer<br />

gegen die bisher üblichen Stichtagsregelungen. Ich<br />

will auch sagen, warum. Ich finde Stichtagsregelungen<br />

nicht gut, weil sie von einem bestimmten Termin<br />

ausgehen. Wer vorher eingereist ist, kam in den<br />

Genuss der Regelung, egal wer er war und in welcher<br />

Situation er und seine Familie sich befanden,<br />

während Menschen in anderen Fällen, bei denen wir<br />

alle wahrscheinlich gesagt hätten, die müssten hier<br />

bleiben, nicht in diesen Genuss kamen, weil sie - das<br />

hat es gegeben - zwei, drei Tage später eingereist<br />

waren. Meiner Meinung nach ist dies nicht das richtige<br />

Instrument. Auch hatten wir Fälle, bei denen<br />

wir Altfallregelungen, auf bestimmte Länder bezogen,<br />

beschlossen haben. Das ist jetzt auch durchaus<br />

üblich, insbesondere im Zusammenhang mit der<br />

Duldung, die ausgesprochen wird und dann jeweils<br />

nach der Befristung verlängert werden muss. Diese<br />

Duldung bezieht sich auf die konkrete Situation in<br />

dem Land, in das nicht erfolgreiche <strong>Asyl</strong>bewerber<br />

abgeschoben werden müssten, was aber nicht vollzogen<br />

wird, weil dort Bürgerkrieg oder andere Umstände<br />

herrschen, die das unmöglich machen. Wenn<br />

man dem folgen würde, was die SPD hier möchte,<br />

würde man sozusagen das Instrument der Duldung<br />

abschaffen, indem man sagt: Alle diejenigen, die die<br />

Kriterien erfüllen, die hier genannt sind, sollen bleiben.<br />

Nun müssen wir sehen, was wir mit den Regelungen<br />

des neuen Gesetzes tun werden. Es gibt ja<br />

auch die Möglichkeit der Härtefallkommission. Wir,<br />

die beiden großen Fraktionen, waren uns bisher,<br />

nachdem wir uns vor einigen Jahren in Berlin einen<br />

Einblick verschafft hatten, darüber einig, dass wir<br />

das in Niedersachsen nicht wollen. Gleichwohl - das<br />

will ich sehr deutlich sagen - ist uns allen bewusst,<br />

dass es Härtefälle gibt. Ein solcher ist im letzten<br />

Plenarsitzungsabschnitt verhandelt worden. Ich will<br />

nur sagen: Ich war immer da<strong>für</strong>, dass es Möglichkeiten<br />

<strong>für</strong> den Fall gibt, dass der Petitionsausschuss<br />

- damals der Innenausschuss - mit einer qualifizierten<br />

Mehrheit - wir hatten auch schon einmal den<br />

Fall, dass einstimmig beschieden wurde - in einem<br />

bestimmten Fall sagt: Die müssen aber hier bleiben.<br />

- Bei dem letzten Mal war es ein bisschen anders, da<br />

der Petitionsausschuss einstimmig genau das Gegenteil<br />

von dem beschlossen hat, was hier die Fraktionsführung<br />

aufgeführt hat. Wir sollten uns schon<br />

darauf einigen, dass mit einer qualifizierten Mehrheit<br />

gearbeitet wird. Ich sage nur noch eines dazu -<br />

damit der Kollege Gansäuer genügend Redezeit hat<br />

-: Ich meine, es ist richtig, wenn wir den Petitionsausschuss<br />

mit besonderen Kompetenzen ausstatten,<br />

damit er mit einer besonders qualifizierten Mehrheit<br />

- vielleicht Dreiviertelmehrheit - in einzelnen, ganz<br />

begründeten Fällen empfehlen kann, einer Petition<br />

zuzustimmen. Außerdem meine ich - ohne dass ich<br />

mich festlegen will -, dass wir es an bestimmte Leistungen<br />

derer, die die Petenten unterstützen, binden<br />

sollten, sodass man, wenn z. B. eine Kirchengemeinde<br />

sagt, dass jemand hier bleiben soll, weil es in<br />

dem Fall nachvollziehbar ist, festlegt: Ihr müsst so<br />

etwas wie eine Bürgschaft <strong>für</strong> ein, zwei, drei Jahre<br />

übernehmen. Und wenn sie selbst arbeiten, dann<br />

wird sie ja nicht fällig, aber als eine Art Ansporn ist<br />

das vielleicht nicht schlecht. Dann begrenzt man<br />

eine solche Regelung auf absolut einzelne Härtefälle,<br />

ohne dass man wieder neue Regelungen schafft,<br />

die von der Bundesregelung abweichen, und man<br />

bindet das an die Entscheidung des Parlamentes,<br />

was uns sehr wichtig ist. Wir müssen im Ausschuss<br />

darüber reden. Ich finde es gut, dass Sie das Thema<br />

angesprochen haben. Aber dieses Thema verdient<br />

eine sehr sachgerechte Auseinandersetzung. Insofern<br />

ist es wichtig, dass wir darüber in der Ausländerkommission<br />

reden. Aber, wie gesagt, wir müssen<br />

nicht <strong>für</strong> alle, sondern <strong>für</strong> absolut begründete Ausnahme-<br />

und Einzelfälle ein Instrument da<strong>für</strong> finden,<br />

wie wir verantwortungsvoll damit umgehen. -<br />

Vielen Dank <strong>für</strong> das Zuhören.<br />

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)<br />

Vizepräsidentin Astrid Vockert Das Wort hat nun<br />

der Kollege Gansäuer. Bitte schön!<br />

Jürgen Gansäuer (CDU):<br />

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich<br />

schätze das persönliche Engagement der Kollegin<br />

Langhans sehr - das will ich ausdrücklich betonen -<br />

, aber ich muss Ihnen auch sagen, dass die Darstellung<br />

doch ein bisschen sehr einfach war. Denn<br />

wenn es alles so einfach wäre, wie Sie es dargestellt<br />

haben, wäre es eigentlich kein <strong>Pro</strong>blem Ich will es<br />

auf den Punkt bringen, weil ich nur wenig Zeit habe:<br />

Wir haben 5 Millionen Arbeitslose. Jeden Tag<br />

verlieren wir in Deutschland 1 000 Arbeitsplätze.<br />

Ich könnte ganz polemisch ausholen und fragen,<br />

wer da<strong>für</strong> <strong>zum</strong>indest mitverantwortlich ist. Das lasse<br />

ich jetzt aber alles hintangestellt. Vor diesem Hintergrund<br />

jedoch sozusagen flächendeckend Arbeitserlaubnisse<br />

zu erteilen, darüber werden sich die<br />

Gewerkschaften und Arbeitnehmer sehr freuen. Als<br />

ich in Stadthagen bei der Firma OTIS vor den<br />

Arbeitnehmern gesprochen und hinterher mit ihnen<br />

diskutiert habe, kam dieses Thema auch hoch. Die<br />

sehen das völlig anders. Gehen Sie doch bitte mal<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

67


Landtagesdebatte<br />

dort hin und sprechen Sie mit den Leuten einmal<br />

über deren Nöte und über deren <strong>Pro</strong>bleme. Dann<br />

werden Sie plötzlich erleben, dass sie eine völlig<br />

andere Sicht haben. Im Übrigen weiß ich das auch<br />

aus den Diskussionen beim DGB.<br />

Also vergewissern Sie sich mal schnell. Wenn die<br />

Konkurrenz um Arbeitsplätze, die wir jetzt auch mit<br />

Polen und Tschechien austragen müssen, nun auch<br />

noch auf alle <strong>Asyl</strong>bewerber ausgeweitet wird, dann<br />

kann ich Ihnen sagen: Gute Nacht in Deutschland!<br />

Dann wird es problematisch.<br />

(Stefan Wenzel [GRÜNE]: Das steht doch gar nicht<br />

drin, Herr Gansäuer! -Zuruf von der SPD)<br />

Sie müssen nun einmal damit leben, dass dies auch<br />

ein Teil der Wahrheit ist, mit der wir umgehen müssen.<br />

Zum Zweiten: Kosovo. Meine Damen und Herren,<br />

ich glaube, es gibt kaum jemanden in diesem Raum,<br />

der sich auch innerlich mehr <strong>für</strong> dieses Land engagiert,<br />

als ich es in den vergangenen eineinhalb Jahren<br />

gemacht habe. Ich wage zu behaupten, dass es<br />

auch nicht so viele gibt, die dieses Land besser kennen<br />

als ich, denn wir haben jede Woche miteinander<br />

Kontakt: mit dem Parlamentspräsidenten, mit dem<br />

Kultusminister und mit dem Präsidenten der Universität<br />

in Pristina. Ich habe viele Verbindungen<br />

zustande gebracht, die es vorher nicht gegeben hat.<br />

Deshalb - so glaube ich - kann ich darüber auch<br />

etwas sagen In diesem Land spielt sich eine Tragödie<br />

ab. Frau Langhans weiß das. Nach einem versuchten<br />

Völkermord durch Milosevic - wir wissen,<br />

dass das alles strategisch angelegt war; die Unterlagen<br />

liegen heute ja vor - haben wir Deutschen das<br />

erste Mal nach dem zweiten Weltkrieg <strong>für</strong> die<br />

Kosovaren wieder Krieg geführt. Das ist unsere<br />

Verantwortung. Man kann nicht Bomben werfen<br />

und sich anschließend aus der Verantwortung stehlen<br />

wollen. Das will hier auch niemand. Deutschland<br />

hat <strong>für</strong> das Kosovo mehr Verantwortung als<br />

<strong>für</strong> jedes andere Land in Europa, denn wir haben<br />

dort Bomben geschmissen, wir haben geschossen<br />

und wir haben unsere Soldaten geschickt, die auch<br />

heute noch dort stehen. Deshalb bitte ich bei meinen<br />

Kritikern auch um Verständnis da<strong>für</strong>, dass ich<br />

mich so engagiere, weil dies weit über die Tagesaktualität<br />

hinaus große Bedeutung hat Allerdings ist<br />

das, liebe Frau Langhans, was Sie jetzt beantragen -<br />

ich habe vorhin gerade noch einmal mit zwei<br />

Freunden aus dem Kosovo telefoniert -, genau das,<br />

was das Kosovo nicht braucht. Wir dürfen das<br />

Kosovo und die Kosovaren insgesamt nicht aus der<br />

Verpflichtung entlassen - was wir täten, wenn wir<br />

Ihrem Antrag zustimmen würden -, dass sie sich<br />

multiethnisch organisieren und zusammenleben<br />

müssen. Wenn Sie nämlich verindern, dass es Rückkehrer<br />

auch aus ethnischen Minderheiten gibt, und<br />

wenn Sie ihnen dauerhaft eine Aufenthaltsgenehmigung<br />

gewähren, dann verhindern Sie das multiethnische<br />

Zusammenleben. Das Kosovo kann nur<br />

existieren, wenn sich die Bevölkerung innerlich<br />

bereitfindet, multiethnisch zusammenzuleben. Deshalb<br />

bin ich aus grundsätzlichen Erwägungen in<br />

diesem Fall dagegen. Wir können gerne noch einmal<br />

darüber reden. Meine letzte Bemerkung, meine<br />

Damen und Herren: Über das, was die Bundesregierung<br />

macht, würde ich mit Ihnen gerne einmal<br />

streiten. Dieses Land hängt seit fünf Jahren in einer<br />

Weise auf der Rolle, wie es international keinen Vergleich<br />

gibt. Das Folgende sage ich jetzt einmal, weil<br />

ich innerlich angefasst bin. Von Joschka Fischer, der<br />

sich sonst so gut zu verkaufen weiß, was ja sein gutes<br />

Recht ist, hätte ich mehr Engagement erwartet,<br />

damit dieser unheilvolle Zustand, in dem sich das<br />

Kosovo befindet, endlich einmal beendet wird.<br />

Deutschland sollte eine bessere Rolle spielen als die,<br />

die es bisher in den vergangenen Jahren gespielt hat.<br />

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)<br />

Vizepräsidentin Astrid Vockert: Für die FDP-Fraktion<br />

spricht Herr Kollege Riese. Bitte schön!<br />

Roland Riese (FDP):<br />

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und<br />

Herren! Verehrter Herr Parlamentspräsident<br />

Gansäuer, Sie haben in bewegenden Worten<br />

geschildert, wie die Lage im Kosovo ist. Ich bin sehr<br />

zuversichtlich, dass sich doch wohl die meisten in<br />

diesem Hause Ihrer Einschätzung, was dort zu tun<br />

ist, um zu einer Zukunft <strong>für</strong> die Menschen in diesem<br />

bedrängten Land zu kommen, anschließen werden.<br />

In der Tat sind derzeit 19 500 Soldaten im Auftrag<br />

der Vereinten Nationen damit beschäftigt, die<br />

UN-Resolution Nr. 1244 im Kosovo durchzusetzen,<br />

darunter 3 700 Deutsche. Zu den Zielen der<br />

genannten Resolution gehört bekanntlich die Herstellung<br />

von Schutzzonen und die Aufbauhilfe <strong>für</strong><br />

rückkehrende Flüchtlinge, die ihre Häuser dort<br />

wieder aufbauen müssen. 6 Milliarden Euro hat die<br />

internationale Staatengemeinschaft mittlerweile<br />

<strong>zum</strong> Balkan-Stabilitätspakt beigetragen. Soeben<br />

erst, nämlich am 27. Mai, hat der Deutsche Bundestag<br />

fast einstimmig das Mandat der Bundeswehr <strong>für</strong><br />

den Kosovo-Einsatz verlängert. Da<strong>für</strong> gab es eine<br />

große, übergreifende Mehrheit und nur ganz wenige<br />

Gegenstimmen. Aber es hat bei dieser Gelegenheit<br />

den Bundesaußenminister Joschka Fischer einige<br />

Verrenkungen und einen ganz erheblichen Vorrat<br />

seiner bekannt verquasten Formulierungen gekostet,<br />

um begreiflich zu machen, dass und warum<br />

ein Ende dieses 1999 begonnenen Einsatzes nicht<br />

absehbar ist. Es sind überhaupt keine Fristen<br />

erkennbar. An humanitärer Hilfe aus Deutschland<br />

und aus der Staatenge-meinschaft <strong>für</strong> den Kosovo<br />

fehlt es mithin nicht Wenn man nun vor diesem<br />

68


Landtagesdebatte<br />

Hintergrund und auch vor dem Hintergrund der<br />

Ausführungen von Herrn Gansäuer den Grünen-<br />

Antrag betrachtet, dann kann man nur mit Brecht<br />

antworten: Wo Recht <strong>zum</strong> Unrecht wird, wird Widerstand<br />

zur Pflicht. - Denn es geht Ihnen nicht um<br />

das <strong>Bleiberecht</strong> in besonderen Fällen, sondern es<br />

geht Ihnen, wie wir auch aus den vorangegangenen<br />

Diskussionen über Petitionen wissen, um eine<br />

Generalregelung, die in der Tat das Ziel der<br />

Bemühungen der KFOR im Kosovo ad absurdum<br />

führen würde. An diesem Ziel sollten wir in diesem<br />

Hause miteinander festhalten, obwohl das natürlich<br />

im Bundestag zu entscheiden ist.<br />

(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Jürgen<br />

Gansäuer [CDU]: Richtig! Völlig richtig!)<br />

Nun ein Aspekt, der auch <strong>zum</strong> Thema der individuellen<br />

Schicksale gehört: Wer illegal nach Deutschland<br />

eingereist und hier straffällig geworden ist, den<br />

müssen wir doch etwas anders behandeln als diejenigen,<br />

die hier im Rahmen des Rechtes um Schutz<br />

nachgesucht haben. Der SPD-Antrag enthält gute<br />

Gesichtspunkte. Allerdings muss ich Ihnen, verehrte<br />

Damen und Herren, sagen, dass er mit glühend<br />

heißer Nadel gestrickt ist. Als Frau Rübke gerade<br />

ausführte, dass die Hoffnung auf eine Altfallregelung<br />

auf Bundesebene schwindet, habe ich mich<br />

auch noch einmal daran erinnert, dass es nicht die<br />

SPD war, die eine Altfallregelung auf Bundesebene<br />

gefordert hat. Ich möchte Ihnen, verehrte Genossinnen<br />

und Genossen, an dieser Stelle einmal vortragen,<br />

was man auf Ihrer Homepage <strong>zum</strong> Zuwanderungskompromiss<br />

finden kann und womit Sie bei<br />

Ihren Wählern um Verständnis da<strong>für</strong> werden. Dort<br />

ist u. a. zu lesen: "Der Zuzug von Ausländern wird<br />

begrenzt durch konsequente Durchsetzung der<br />

Ausreisepflicht abgelehnter <strong>Asyl</strong>bewerber." Wollen<br />

Sie das, oder wollen Sie das nicht? Insbesondere zur<br />

Altfallregelung sagt Ihr Bundesminister, Otto Schily,<br />

der heute schon einmal erwähnt worden ist. "Nein,<br />

es hat zweimal eine Altfallregelung gegeben. Das<br />

reicht." Es war die FDP, die als erste einen Gesetzentwurf<br />

zur Zuwanderung in den Bundestag eingebracht<br />

hat. Unser Gesetzentwurf enthielt eine Altfallregelung<br />

mit sehr genau aufgeführten Kriterien,<br />

die u. a. Straffreiheit und außerdem eine konkrete<br />

Frist umfassen, nämlich sechs Jahre Aufenthaltsdauer<br />

in Deutschland.<br />

Ich stelle noch einmal fest: Der grün-rote Gesetzentwurf<br />

enthielt dagegen keine Altfallregelung. Daher<br />

kann ich Ihre Krokodilstränen anlässlich der<br />

Veranstaltung im Hannoveraner Rathaus am 4. Juni,<br />

in der es durchaus nicht nur um das Kosovo ging,<br />

sondern an der Flüchtlinge und <strong>Asyl</strong>bewerber aus<br />

allen Teilen der Welt teilgenommen haben, nur als<br />

gleisnerisch bezeichnen. Räumen Sie doch erst einmal<br />

die Rechtslage auf Bundesebene auf, bevor Sie<br />

hier zu einem so ernsten Thema so schlampige Anträge<br />

einreichen.<br />

(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Zurufe von<br />

der SPD: He! - Zuruf von der SPD: War das passend<br />

<strong>zum</strong> Thema?)<br />

Vizepräsidentin Astrid Vockert Herr Kollege Riese,<br />

ich denke, Sie sind damit einverstanden, wenn ich<br />

Ihnen <strong>für</strong> den Begriff "schlampig" einen<br />

Ordnungsruf erteile.<br />

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)<br />

FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />

69


Landtagesdebatte<br />

(Jürgen Gansäuer [CDU]: Also waren Sie bitter enttäuscht<br />

über die deutsche Außenpolitik!)<br />

Zum anderen möchte ich noch einmal ganz klar<br />

und deutlich sagen: Nicht nur wird die Zurückführung<br />

von Angehörigen von Minderheiten in den<br />

Kosovo von UNHCR, OSZE und UNMIK <strong>zum</strong>indest<br />

verhindert, sondern auch der Schweizer Flüchtlingsrat<br />

warnt klar und eindeutig davor, weil die<br />

Situation nicht stabil ist. Eine Rückführung führt<br />

nicht zu einer Befriedung, sondern zu einer weiteren<br />

Eskalation.<br />

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD -<br />

Jürgen Gansäuer [CDU]: Nicht mit dauerhaften<br />

Aufenthaltsgenehmigungen verbunden! Genau das<br />

Gegenteil!)<br />

Frau Kollegin Langhans, ich erteile Ihnen noch einmal<br />

das Wort. Sie habennoch genau 27 Sekunden.<br />

Georgia Langhans (GRÜNE):<br />

Herr Kollege Gansäuer, in diesen 27 Sekunden<br />

kann ich leider nicht auf Ihre Anwürfe gegen Joschka<br />

Fischer eingehen. Das ist das eine.<br />

Vizepräsidentin Astrid Vockert: Meine Damen und<br />

Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht<br />

vor. Ich schließe damit die Beratung. Wir kommen<br />

zur Ausschussüberweisung. Es wird empfohlen,<br />

federführend den Ausschuss <strong>für</strong> Inneres und Sport<br />

und mitberatend den Ausschuss <strong>für</strong> Haushalt und<br />

Finanzen mit beiden Anträgen zu befassen. Die<br />

SPD-Fraktion hat vorgeschlagen, zusätzlich den<br />

Ausschuss <strong>für</strong> Rechts- und Verfassungsfragen sowie<br />

die Ausländerkommission mit der Mitberatung zu<br />

befassen. Wer so beschließen möchte, den bitte ich<br />

um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen?<br />

- Dann ist so beschlossen.<br />

Mitglieder<br />

70


Materialliste Nieders<br />

71


"Toleranz sollte eigentlich<br />

nur eine vorübergehende<br />

Gesinnung sein; sie muss<br />

zur Anerkennung führen.<br />

Dulden heißt beleidigen".<br />

Johann Wolfgang v. Goethe

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!