Anhörung zum Bleiberecht für langjährig geduldete ... - Pro Asyl
Anhörung zum Bleiberecht für langjährig geduldete ... - Pro Asyl
Anhörung zum Bleiberecht für langjährig geduldete ... - Pro Asyl
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ISSN 1433-4488 H 43527<br />
Ausgabe 4/04<br />
Heft 102<br />
Oktober 2004<br />
FLÜCHTLINGSRAT<br />
Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen<br />
Dokumentation:<br />
<strong>Anhörung</strong> <strong>zum</strong> <strong>Bleiberecht</strong><br />
<strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong><br />
Flüchtlinge und <strong>Asyl</strong>suchende<br />
im Neuen Rathaus Hannover am 4. Juni 2004<br />
Es nehmen Stellung:<br />
Dr. Christian Schwarz-Schilling<br />
Marieluise Beck<br />
Dr. Rita Süssmuth<br />
Herbert Schmalstieg<br />
die Wohlfahrtsverbände<br />
die Kirchen<br />
der DGB<br />
viele Flüchtlinge<br />
Fachleute u.a.<br />
<strong>für</strong> ein interkulturelles Hannover<br />
gegen Rassismus, Fremdenhass<br />
und Ausländerfeindlichkeit<br />
ROMANE<br />
AGLONIPE<br />
Roma aus Niedersachsen e.V .<br />
Herausgegeben von<br />
und dem Niedersächsischen Flüchtlingsrat
Editorial<br />
Etwa 230.000 Menschen müssen in der Bundesrepublik Deutschland ohne jene rechtlichen und<br />
sozialen Mindeststandards leben, die eine bürgerliche Existenz begründen. Es geht um die sogenannten<br />
“Geduldeten“, welche als Flüchtlinge in dieses Land gekommen sind. Nach <strong>zum</strong> Teil<br />
<strong>langjährig</strong>en <strong>Asyl</strong>verfahren ist ihnen die Anerkennung verweigert worden. Wegen drohender geschlechtsspezifischer<br />
Verfolgung, ethnisch motivierter Bedrohung, Folter, Todesstrafe, Bürgerkriegen<br />
oder fehlender Lebensgrundlagen konnten sie jedoch lange Zeit weder ausreisen noch abgeschoben<br />
werden. Sie erhielten keinen Aufenthaltsstatus, sondern wurden lediglich „geduldet“<br />
und müssen ein Leben „im Wartestand“ führen. Die Betroffenen befinden sich in einem Zustand<br />
anhaltender existenzieller Unsicherheit, in der eine über die unmittelbare Alltagsbewältigung hinausführende<br />
Lebensplanung nicht möglich ist. Besonders schwerwiegende Folgen hat dies <strong>für</strong><br />
Kinder und Jugendliche, deren alterspezifische Entwicklung, zu der die Antizipation von Zukunftsentwürfen<br />
gehört, schwer gestört wird. In fast allen sozialen Bereichen des Lebens sind die<br />
Rechte der Geduldeten auf das Äußerste beschränkt. Eine derartige staatlicherseits betriebene Degradierung<br />
zu Menschen zweiter Klasse ist zutiefst inhuman. Viele der Betroffenen verzweifeln,<br />
werden krank, zerbrechen an dieser Situation.<br />
Die Hoffnung der Menschenrechtsorganisationen, Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Flüchtlingsinitiativen<br />
bestand darin, dass mit dem Zuwanderungsgesetz, das am 1.1.2005 in Kraft tritt, endlich<br />
auch eine humanitäre Lösung <strong>für</strong> dieses <strong>Pro</strong>blem gefunden wird. Die darauf gesetzten Hoffnungen<br />
sind leider bitter enttäuscht worden. Ein humanitäres <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong><br />
Flüchtlinge ist nicht vorgesehen. Die Forderung nach einer grundlegenden Verbesserung der<br />
sozialen und rechtlichen Situation der “Geduldeten” ist daher aktueller denje.<br />
Mit der <strong>Anhörung</strong> <strong>zum</strong> <strong>Bleiberecht</strong> am 4. Juni 2004 im Hannoverschen Rathaus wurde einmal<br />
mehr ein deutliches politisches Signal <strong>für</strong> das <strong>Bleiberecht</strong> gesetzt. Neben den Flüchtlingsverbänden<br />
haben sich die Kirchen und Wohlfahrtsverbände, der DGB sowie politische RepräsentantInnen<br />
wie die Integrationsbeauftragte der Deutschen Bundesregierung, Marieluise Beck, die Vorsitzende<br />
des Sachverständigenrates <strong>für</strong> Zuwanderung und Integration der Deutschen Bundesregierung,<br />
Dr. Rita Süssmuth, und der Oberbürgermeister von Hannover, Herbert Schmalstieg, eindeutig<br />
<strong>für</strong> das <strong>Bleiberecht</strong> positioniert. Der ehemalige Bundespostminister und Internationale<br />
Streitschlichter <strong>für</strong> Bosnien und Herzegovina, Dr. Christian Schwarz-Schilling, hat in einem engagiert<br />
vorgetragenen Beitrag deutlich gemacht, warum er die restriktive Haltung der Mehrheit seiner<br />
Parteifreunde von der CDU in diesen Fragen nicht teilt, sondern ein <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong><br />
Geduldete <strong>für</strong> unabdingbar politisch, humanitär und ethisch geboten hält. Neben den Beiträgen<br />
von Fachleuten sind darüber hinaus insbesondere etliche Betroffene selbst zu Wort gekommen.<br />
Die <strong>Anhörung</strong> <strong>zum</strong> <strong>Bleiberecht</strong> hat den Flüchtlingen ein „Gesicht gegeben“, wie der Journalist Jo<br />
Schrader formulierte. Ihre Ängste und Sorgen, aber auch Hoffnungen und Forderungen, standen<br />
auf dieser Veranstaltung im Mittelpunkt und haben mehr als alles andere der Forderung nach einem<br />
humanitären Bleibberecht unmittelbaren Nachdruck verliehen. „Ich hoffe, die Politiker<br />
hören dies und halten ihre Ohren offen“, hat einer der Redner, Samir Asanovic, der <strong>zum</strong> Zeitpunkt<br />
der <strong>Anhörung</strong> kurz vor einer erzwungenen Ausreise in das ehemalige Jugoslawien stand,<br />
formuliert. Dem ist wenig hinzuzufügen.<br />
Wir danken allen Beteiligten <strong>für</strong> ihren Einsatz und <strong>für</strong> ihre Beiträge. Die <strong>Anhörung</strong> ist auch deshalb<br />
ein Erfolg geworden, weil ein breites Bündnis aus Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaft sowie<br />
Migranten- und Flüchtlingsorganisationen die Durchführung der Veranstaltung organisatorisch<br />
und finanziell gewährleistet hat. Den Flüchtlingen gebührt Dank <strong>für</strong> ihren Mut, trotz der<br />
schwierigen Lebenssituation und der jahrelangen Einschüchterung durch die politischen und<br />
behördlichen Restriktionen die Bereitschaft aufzubringen, auf einer Großveranstaltung über die<br />
eigene Situation zu sprechen. Ein herzliches Dankeschön geht an den Hannoverschen Oberbürgermeister<br />
Herbert Schmalstieg <strong>für</strong> die Übernahme der Schirmherrschaft der <strong>Anhörung</strong>. Wir<br />
hoffen, dass die hier dokumentierte Veranstaltung den verdienten politischen Nachhall findet. Wir<br />
hoffen, „die Politiker hören dies und halten ihre Ohren offen“!<br />
Achim Beinsen (Niedersächsischer Flüchtlingsrat)<br />
2
IMPRESSUM<br />
Titel:<br />
FLÜCHTLINGSRAT<br />
Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik<br />
in Niedersachsen<br />
Ausgabe:<br />
4/04 – Heft 102, Oktober 2004<br />
Herausgeber, Verleger<br />
Redaktionsanschrift:<br />
Förderverein<br />
Niedersächsischer Flüchtlingsrat e.V.<br />
Langer Garten 23 B<br />
31137 Hildesheim<br />
Tel: 05121-15605<br />
Fax: 05121-31609<br />
redaktion@nds-fluerat.org<br />
http://www.nds-fluerat.org<br />
Förderverein PRO ASYL e.V.<br />
Postfach/P.B. 160624<br />
60069 Frankfurt/M.<br />
Tel.: +49 (0) 69 - 23 06 88<br />
Fax: +49 (0 )69 - 23 06 50<br />
proasyl@proasyl.de<br />
http://www.proasyl.de<br />
Spenden<br />
Postbank Hannover<br />
BLZ: 250 100 30<br />
Kto.-Nr.: 8402-306<br />
Verantwortlich und ViSdP<br />
Achim Beinsen<br />
c/o Geschäftsstelle<br />
Redaktion dieser Ausgabe:<br />
Achim Beinsen<br />
Redaktionelle Mitarbeit:<br />
Petra Heyde<br />
Fotoredaktion und Bildbearbeitung:<br />
Achim Beinsen<br />
Layout<br />
Justus Reuleaux<br />
Druck:<br />
Druckerei Lühmann<br />
Bockenem<br />
1-3 Tausend, Oktober 2004<br />
Erscheinungsweise:<br />
4 Hefte im Jahr<br />
auch als Doppelnummer<br />
Bezug:<br />
Bezug über den<br />
Niedersächsischen Flüchtlingsrat<br />
ISSN 1433-4488<br />
© Förderverein Nds. Flüchtlingsrat<br />
e.V.<br />
Alle Rechte vorbehalten<br />
Die <strong>Anhörung</strong> und die hier vorliegende<br />
Dokumentation wurden finanziert<br />
aus Mitteln der Landesarbeitsgemeinschaft<br />
der Freien Wohlfahrtspflege,<br />
des DGB Niedersachsen, des<br />
Niedersächsischen Flüchtlingsrats,<br />
der Arbeitsgemeinschaft<br />
MigrantInnen und Flüchtlinge in<br />
Niedersachsen, des Hannoverschen<br />
Netzwerks Flüchtlingshilfe und<br />
Menschenrechte, der Kirchengemeinde<br />
St. Adalbert, des Janusz-<br />
Korczak-Vereins sowie von PRO<br />
ASYL.<br />
Fotos:<br />
Gisela Penteker<br />
Andrea Kothen<br />
Petra Heyde<br />
Stefan Thom<br />
Achim Beinsen<br />
1. Petition <strong>für</strong> ein <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> in<br />
Niedersachsen lebende <strong>Asyl</strong>suchende und Flüchtlinge 5<br />
2. Begrüßung / Dr. Gisela Penteker, Vorstandsmitglied<br />
des Niedersächsischen Flüchtlingsrates 9<br />
3. Einleitung / Jo Schrader, O-Ton-Team 10<br />
4. Grußwort / Hannovers Oberbürgermeister Herbert<br />
Schmalstieg 11<br />
5. Die Position der Integrationsbeauftragten der<br />
Deutschen Bundesregierung / Marieluise Beck 14<br />
6. Die von Politik vergessenen - Die Position von <strong>Pro</strong><br />
<strong>Asyl</strong> <strong>zum</strong> <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong><br />
Flüchtlinge und <strong>Asyl</strong>bewerber / Bernd Mesovic 17<br />
7. Grußwort der Vorsitzenden des Sachverständigenrates<br />
<strong>für</strong> Zuwanderung und Integration der Deutschen<br />
Bundesregierung /<br />
<strong>Pro</strong>f. Dr. H.C. Mult. Rita Süssmuth 19<br />
8. Eine Familie aus Serbien-Montenegro zwischen<br />
Integrationsbemühungen und bürokratischen Hürden /<br />
Mirsan Kurpejevic 20<br />
9. "Zu 99 <strong>Pro</strong>zent integriert " / Alvaro Juchanian 22<br />
10. Wie Flüchtlinge ins soziale Abseits gedrängt werden /<br />
Yunga Malundama 23<br />
11. Die Position der katholischen Kirche in Niedersachsen<br />
<strong>zum</strong> <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong> Flüchtlinge /<br />
<strong>Pro</strong>bst Klaus Funke 24<br />
12. Die Position der Konföderation evangelischer Kirchen<br />
in Niedersachsen <strong>zum</strong> <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong><br />
<strong>geduldete</strong> Flüchtlinge /<br />
Dr. Christoph Dahling-Sander 25<br />
13. Als alleinreisender minderjähriger Flüchtlinge in<br />
Deutschland / Ardit Rexhaj 27<br />
14. <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> unbegleitete minderjährige Flüchtlinge /<br />
Anke Wagener 28<br />
15. Für ein <strong>Bleiberecht</strong> / Dr. Christian Schwarz-Schilling,<br />
Internationaler Streitschlichter <strong>für</strong> Bosnien und<br />
Herzegovina 30<br />
16. Verantwortung <strong>für</strong> die Opfer rassistischer Gewalt /<br />
Ulrike Grund, Mobile Beratung <strong>für</strong> Opfer<br />
rechtsextremer Gewalt in Sachsen-Anhalt 36<br />
17. "Diese Gesetze sind gefühllos!" / Samir Asanovic 37<br />
18. Das Schicksal der Familie Kisivu / Lothar Flachsbart 38<br />
19. "Warum dürfen wir nicht zuhause bleiben" /<br />
Suleyman Bulut 39<br />
Inhalt<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
3
Inhalt<br />
20. Das Leben im Ausreisezentrum "<strong>Pro</strong>jekt X" / Abdullah Birsen 40<br />
21. Vortrag über das Schicksal der Familie Begolli / Joachim Piontek, Dechant des<br />
Dekanats Hannover Nord der katholischen Kirche und Pfarrer von St. Adalbert 42<br />
22. Kosovo oder Bosnien ? Ein Ehepaar aus dem ehemaligen Jugoslawien hat Angst<br />
vor der Trennung der Familie / Ragip und Hatidja Ferizi 44<br />
23. Traumatisierte Flüchtlinge benötigen ein <strong>Bleiberecht</strong> / Stefica Ban, Psychotherapeutin 45<br />
24. "Wir wollen Leben, wie Menschen es verdient haben" / Sokol Tafa 46<br />
25. Vortrag zur Northeimer <strong>Bleiberecht</strong>sinitiative Libasoli / Samir Meri und Souheila<br />
Souleiman Trugq 47<br />
26. Die Position des DGB-Bezirk Niedersachsen-Bremen-Sachsen-Anhalt <strong>zum</strong><br />
<strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong> Flüchtlinge / Frank Ahrens 49<br />
27. "Es ist, als wenn man einen deutschen in ein fremdes Land schickt / Sehrat und<br />
Kezban Aldemir 50<br />
28. "Am Schlimmsten ist, dass unsere Familie getrennt werden soll" / Mergim Tahiri 52<br />
29. "Wer hier mit Skepsis Hergekommen ist, muss ohne Skepsis diese Veranstaltung<br />
verlassen" / Klaus-Peter Brechmann; Migrationspolitischer Sprecher der<br />
SPD-Fraktion im Niedersächsischen Landtag 53<br />
30. Fazit des Vorsitzenden der LAG der freien Wohlfahrtspflege /<br />
Dr. Hans-Jürgen Marcus 54<br />
31. Memorandum zur <strong>Asyl</strong>- und Flüchtlingspolitik der Niedersächsischen<br />
Landesregierung / LAG und Nds. Flüchtlingsrat 55<br />
32. Landtagsdebatte <strong>zum</strong> Thema “Für eine humanitäre Altfallregelung” vom 25. Juni 2004 62<br />
4
1. Petition <strong>für</strong> ein <strong>Bleiberecht</strong><br />
<strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> in Niedersachsen lebende<br />
<strong>Asyl</strong>suchende und Flüchtlinge<br />
Am 19. November 1999 beschloss die Ständige<br />
Konferenz der Innenminister und -Senatoren des<br />
Bundes und der Länder die letzte <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />
<strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> in der Bundesrepublik lebende<br />
Flüchtlinge und <strong>Asyl</strong>suchende. Durch den Beschluss<br />
sollten Flüchtlingsfamilien mit minderjährigen<br />
Kindern, die bis <strong>zum</strong> 30.06.1993 bzw. Alleinstehende,<br />
die bis <strong>zum</strong> 31.12.1989 in die Bundesrepublik<br />
geflüchtet waren, begünstigt werden. Da die Flüchtlinge<br />
mit dem Erhalt der Aufenthaltsbefugnis auch<br />
einen Anspruch auf Erteilung einer Arbeitsberechtigung<br />
erwarben, konnten die meisten der Flüchtlinge<br />
ihren Lebensunterhalt seit diesem Zeitpunkt ohne<br />
Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen bestreiten.<br />
Sie entlasteten somit die öffentlichen Kassen in<br />
erheblichem Umfang.<br />
Ausdrücklich ausgenommen von dieser Regelung<br />
waren jedoch die Flüchtlinge aus dem gesamten<br />
ehemaligen Jugoslawien. Wegen dieser Einschränkung<br />
konnten Flüchtlinge aus dem gesamten ehemaligen<br />
Jugoslawien, die die Stichtagsregelung<br />
ansonsten erfüllten und sogar vor diesen Daten in<br />
die Bundesrepublik geflüchtet waren, nicht von der<br />
Regelung profitieren. Von den 2000-2001 verabschiedeten<br />
Beschlüssen der Innenministerkonferenzen<br />
zur Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen konnten in<br />
Niedersachsen u.a. wegen der schwierigen Arbeitsmarktlage<br />
nur wenige Flüchtlinge profitieren.<br />
Unter den Flüchtlingen aus Jugoslawien, die seit<br />
Ende der 80er Jahre in Deutschland leben, befinden<br />
sich sehr viele Angehörige ethnischer Minderheiten.<br />
Sie wurden aus dem auseinander brechenden Jugoslawien<br />
gewaltsam vertrieben oder flohen vor Diskriminierungen<br />
und gegen sie gerichtete Gewalttätigkeiten.<br />
Ihre <strong>Asyl</strong>anträge wurden generell negativ<br />
entschieden. Sie wurden wegen der im gesamten<br />
Staatsgebiet Jugoslawiens beginnenden bürgerkriegsähnlichen<br />
Auseinandersetzungen seit Anfang<br />
der 1990er Jahre geduldet. Das mit der früheren<br />
jugoslawischen Regierung abgeschlossene Rückübernahmeabkommen<br />
wurde nicht in die Praxis<br />
umgesetzt.<br />
Neben den zahlreichen Kosovoalbanern, die<br />
Anfang der neunziger Jahre nach Deutschland<br />
Petition<br />
Die “Petition <strong>für</strong> ein <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> in Niedersachsen lebende <strong>Asyl</strong>suchende und Flüchtlinge”<br />
wurde dem Niedersächsischen Landtag am 10.05.2004 von der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien<br />
Wohlfahrtspflege in Niedersachsen, dem DGB, dem Niedersächsischen Flüchtlingsrat sowie anderen<br />
Organisationen zur Beschlussfass-ung vorgelegt.<br />
geflohen und hier mittlerweile heimisch geworden<br />
sind, leben auch viele Angehörige nichtalbanischer<br />
Bevölkerungsgruppen aus Kosovo,<br />
insbesondere Roma und Ashkali, in Deutschland.<br />
Die Angehörigen dieser Gruppen sind in<br />
Kosovo nach wie vor rassistischen Diskriminierungen<br />
ausgesetzt und massiv von Angriffen<br />
auf Leib und Leben bedroht. Diese Menschen<br />
benötigen eine sichere Lebensperspektive in<br />
Deutschland.<br />
Die Stichdaten der letzten <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />
(31.12.1989 <strong>für</strong> Alleinstehende bzw. 30. Juni 1993<br />
<strong>für</strong> Flüchtlingsfamilien) sind mittlerweile veraltet.<br />
Die Zahl der Krisenherde in der Welt, das Ausmaß<br />
von politischer Repression, ökologischen und ökonomischen<br />
Katastrophen sowie Bürgerkriegen hat<br />
auch in den neunziger Jahren nicht abgenommen,<br />
im Gegenteil. Auch in der letzten Dekade flohen<br />
Menschen aus zahlreichen Krisengebieten in die<br />
Bundesrepublik Deutschland und nach Niedersachsen.<br />
Zu den Hauptherkunftsländern dieser Flüchtlinge<br />
gehören u.a. Jugoslawien, Afghanistan, Angola,<br />
Kongo, Togo und Liberia. Auch die Situation im<br />
Nahen Osten trieb Menschen aus Irak, Libanon<br />
und Syrien in die Flucht.<br />
Derzeit verhandelt der Vermittlungsausschuss von<br />
Bundestag und Bundesrat über das geplante<br />
Zuwanderungsgesetz. Allerdings bietet dieses<br />
Gesetz noch keine Lösung <strong>für</strong> die <strong>langjährig</strong> hier<br />
lebenden Flüchtlinge. Denn eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />
ist bisher nicht vorgesehen. Die hohe Zahl<br />
<strong>langjährig</strong> hier lebender Flüchtlinge macht jedoch<br />
eine klare und generelle Lösung erforderlich.<br />
Die im Zuwanderungsgesetz vorgesehene Härtefallregelung<br />
kann eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung nicht<br />
ersetzen. In einem Gremium <strong>für</strong> ausländerrechtliche<br />
Härtefälle sind langwierige Prüfungen erforderlich.<br />
Daher kann eine Härtefallregelung nur in Einzelfällen<br />
hilfreich sein. Das derzeit gültige Ausländergesetz<br />
von 1990 enthält dagegen in § 100 die<br />
gesetzliche Möglichkeit <strong>für</strong> eine Übergangsregelung,<br />
die anlässlich seines Inkrafttretens Flüchtlingen mit<br />
einem <strong>langjährig</strong>em Aufenthalt ein allgemeines Bleiberrecht<br />
gewährte.<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
5
Petition<br />
Die meisten der <strong>langjährig</strong> hier lebenden Flüchtlinge<br />
sind sehr gut integriert. Für ihre hier geborenen<br />
bzw. aufgewachsenen Kinder ist Niedersachsen zur<br />
Heimat geworden. Sie besuchen hier die Schule,<br />
sprechen die deutsche Sprache besser als die Sprache<br />
ihrer Eltern und kennen die Heimat ihrer Eltern nur<br />
aus Erzählungen. Ihnen ist eine Rückkehr wegen<br />
der erfolgten Integration nicht mehr zu<strong>zum</strong>uten.<br />
Geduldete Flüchtlinge unterliegen in Niedersachsen<br />
einem faktischen Arbeitsverbot.<br />
Wegen des sogenannten Nachrangigkeitsprinzips<br />
erhalten sie auch bei Nachweis eines Arbeitsplatzes<br />
keine Arbeitserlaubnis. Jugendliche, die ein<br />
Lehrstellenangebot haben, können den Ausbildungsplatz<br />
nicht annehmen, da ihnen die Arbeitserlaubnis<br />
verweigert wird. Sie werden damit bewusst<br />
in den Bezug von öffentlichen Leistungen gedrängt,<br />
der sich wiederum nachteilig auf Möglichkeiten einer<br />
Aufenthaltsverfestigung auswirkt. Die jahrelange<br />
erzwungene Beschäftigungslosigkeit und die belastenden<br />
Lebensbedingungen, unter denen <strong>geduldete</strong><br />
Flüchtlinge und <strong>Asyl</strong>suchende und ihre Kinder ohne<br />
Aufenthaltsstatus über lange Jahre leben müssen,<br />
führen bei vielen zu Depressionen, Antriebslosigkeit,<br />
Resignation und Verlust des Selbstwertgefühls.<br />
Da dieser Zustand <strong>für</strong> viele Flüchtlinge bereits<br />
über Jahre anhält, wenden wir uns an den Petitionsausschuss<br />
des Niedersächsischen Landtages<br />
und bitten darum, die Landesregierung<br />
<strong>zum</strong> Handeln aufzufordern. Der Petitionsaus-<br />
6
Petition<br />
schuss möge der Landesregierung empfehlen,<br />
sich auf Bundesebene <strong>für</strong> eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />
<strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> hier lebende <strong>Asyl</strong>suchende<br />
und <strong>geduldete</strong> Flüchtlinge einzusetzen und einen<br />
entsprechenden Vorschlag in das derzeit anhängige<br />
Gesetzgebungsverfahren einzubringen.<br />
Wie frühere Erfahrungen zeigen, ist durch eine solche<br />
Regelung zu erwarten, dass die überwiegende<br />
Mehrheit der begünstigten Flüchtlinge in der Lage<br />
sein wird, ihre Lebenshaltungskosten selbst zu tragen.<br />
Darüber hinaus entlastet eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />
Behörden und Gerichte.<br />
Ohne eine baldige <strong>Bleiberecht</strong>sregelung müssen<br />
viele Flüchtlinge und ihre Kinder weiter in<br />
einer aufenthaltsrechtlichen Unsicherheit<br />
leben. Eine solche langfristige Perspektivlosigkeit,<br />
Unsicherheit und Angst führt in vielen<br />
Fällen zu sozialen, psychischen und gesundheitlichen<br />
Krisen.<br />
Aus einem Potenzial, das geflüchtete Menschen in<br />
vielfacher Hinsicht <strong>zum</strong> Nutzen der Allgemeinheit<br />
einbringen könnten, droht ein Potenzial zu werden,<br />
das durch verordnete Untätigkeit in die dauerhafte<br />
Passivität führen kann. Besonders die hervorragend<br />
integrierten Kinder der Flüchtlinge können einen<br />
positiven Beitrag <strong>für</strong> die Gesellschaft leisten.<br />
Im Rahmen einer <strong>Bleiberecht</strong>sregelung sollten daher<br />
mehrjährig <strong>geduldete</strong> Flüchtlinge, <strong>Asyl</strong>bewerber<br />
mit einem <strong>langjährig</strong>en <strong>Asyl</strong>verfahren sowie sonstige<br />
Ausreisepflichtige ein gesetzlich verankertes <strong>Bleiberecht</strong><br />
erhalten. Familien, deren Kinder bei der<br />
Einreise minderjährig waren oder in Deutschland<br />
geboren wurden, sollte nach einer kurzen Frist von<br />
wenigen Jahren ein <strong>Bleiberecht</strong> eingeräumt werden.<br />
Eine ähnliche Regelung muss <strong>für</strong> ältere, schwer<br />
kranke und behinderte Menschen gefunden werden.<br />
Für traumatisierte Menschen stellt eine gesicherte<br />
Lebensperspektive die Grundvoraussetzung <strong>für</strong> die<br />
Einsetzung eines Heilungsprozesses dar. Nur eine<br />
gesicherte Lebensperspektive schützt darüber hinaus<br />
vor Retraumatisierungen, deren Ursachen häufig<br />
in der Angst vor der Abschiebung und den, die<br />
prekäre Aufenthaltssituation begleitenden Lebensumständen,<br />
liegen. Daher sollte traumatisierten<br />
Menschen, die sich <strong>zum</strong> Zeitpunkt des Inkrafttretens<br />
der <strong>Bleiberecht</strong>sregelung in Deutschland aufhalten,<br />
sofort ein <strong>Bleiberecht</strong> erteilt werden. Auch<br />
<strong>für</strong> unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ist eine<br />
Lösung zu finden, die den speziellen Entwicklungsund<br />
Schutzbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen<br />
Rechnung trägt.<br />
Darüber hinaus sollen Menschen, die als Opfer rassistischer<br />
Angriffe in Deutschland traumatisiert<br />
oder erheblich verletzt sind, ein Aufenthaltsrecht erhalten.<br />
Dies kann den physischen und psychischen<br />
Heilungsprozess der Betroffenen unterstützen.<br />
Gleichzeitig positioniert sich der Staat gegen die anhaltenden<br />
rassistischen Attacken und signalisiert<br />
Tätern und Sympathisanten, dass er nicht bereit ist,<br />
der dahinterstehenden menschenverachtenden Logik<br />
der Einschüchterung und Vertreibung von Migranten<br />
zu folgen.<br />
Die Erteilung eines <strong>Bleiberecht</strong>s darf nicht von der<br />
Ausübung einer Arbeit bzw. dem Vorhandensein ei-<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
7
Petition<br />
ner Unterhaltssicherung abhängig gemacht werden.<br />
Dieser Zusammenhang ist insbesondere deshalb<br />
widersinnig, weil vielen Geduldeten der Zugang<br />
<strong>zum</strong> Arbeitsmarkt bekanntermaßen rechtlich bzw.<br />
faktisch verwehrt war. Eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung,<br />
die die Chance zu einer Arbeit zunächst eröffnet,<br />
anstatt sie vorauszusetzen, setzt als aktive Integrationspolitik<br />
Zeichen. Den Betroffenen soll bundesweit<br />
die Aufnahme jeder Arbeit ohne Beschränkungen<br />
ermöglicht werden. Auch selbstständige<br />
Erwerbstätigkeit ist entgegen der bisherigen Praxis<br />
zuzulassen. Maßnahmen der Arbeits-, Sprach- und<br />
Ausbildungsförderung sind zu gewährleisten.<br />
Ein fehlender Pass sowie ein zeitweilig illegaler Aufenthalt<br />
darf kein Ausschlussgrund sein.<br />
Das Aufenthaltsrecht soll in ein Niederlassungsrecht<br />
münden, wenn der Lebensunterhalt gesichert<br />
ist. Weitere Voraussetzungen müssen nicht vorliegen.<br />
Bei Alleinerziehenden, Familien mit kleinen<br />
Kindern, unbegleiteten Kindern und Jugendlichen,<br />
Auszubildenden, alten Menschen, Arbeitsunfähigen,<br />
Kranken und Behinderten darf ein eventueller<br />
Sozialhilfebezug der Verfestigung des Aufenthaltes<br />
nicht entgegenstehen.<br />
Das Aufenthaltsrecht sollte eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen und deswegen<br />
Folgendes beinhalten:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
eine unbeschränkte Arbeits- und Ausbildungserlaubnis<br />
das Recht auf Familiennachzug<br />
keinerlei Wohnsitz- oder Aufenthaltsbeschränkungen<br />
Anspruch auf Kinder- und Erziehungsgeld und sonstige Familienleistungen<br />
Anspruch auf Sprachförderung, Ausbildung und Arbeitsförderung<br />
im Bedarfsfall Anspruch auf Leistungen nach dem BSHG<br />
Die <strong>Bleiberecht</strong>sregelung sollte uneingeschränkt <strong>für</strong> alle Herkunftsländer von Flüchtlingen gelten.<br />
8
Gisela Penteker (Niedersächsischer Flüchtlingsrat) - Begrüßung<br />
Wir bitten den Petitionsausschuss des Landtags, sich da<strong>für</strong> einzusetzen, dass bis <strong>zum</strong> Erlass<br />
einer <strong>Bleiberecht</strong>sregelung keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegen potentiell<br />
anspruchsberechtigte Flüchtlinge ergriffen werden. Ihnen soll bis <strong>zum</strong> Inkrafttreten einer <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />
eine Duldung oder, wenn möglich, Aufenthaltsbefugnis erteilt werden. Die<br />
geltenden ausländerrechtlichen Bestimmungen sollten ansonsten großzügig umgesetzt werden.<br />
Dr. Hans-Jürgen Marcus<br />
Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in Niedersachsen (Zusammenschluss<br />
von Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonisches Werk, Jüdische Wohlfahrt,<br />
Paritätischer Wohlfahrtverband)<br />
Die Petition wird mitgetragen von:<br />
AWO Niedersachsen, Caritas in Niedersachsen, AMFN, Deutscher Gewerkschaftsbund Niedersachsen,<br />
Diakonisches Werk der ev. Luth. Landeskirche Hannover e.V., Förderverein Niedersächsischer Flüchtlingsrat,<br />
Niedersächsischer Integrationsrat, Jüdische Wohlfahrt, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband<br />
Niedersachsen, Deutsches Rotes Kreuz Niedersachsen, Romane Aglonipe - Roma in Niedersachsen<br />
e.V. Netzwerk Flüchtlingshilfe und Menschenrechte e.V.<br />
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------<br />
Inzwischen haben sich Regierung und Opposition auf das neue Zuwanderungsgesetz geeinigt. Eine<br />
<strong>Bleiberecht</strong>sregelung ist im Kontext der ausländerrechtlichen Neuregelugen nicht vorgesehen. In einer<br />
der nächsten Ausgaben diese Zeitschrift werden wir uns näher mit dem Zuwanderungsgesetz und dessen<br />
Implikationen <strong>für</strong> den Aufenthaltsstatus von <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong>n Flüchtlingen und <strong>Asyl</strong>bewerbern<br />
beschäftigen.<br />
Die Redaktion<br />
2. Begrüßung<br />
Dr. Gisela Penteker,<br />
Vorstandsmitglied des Niedersächsischen Flüchtlingsrates<br />
Sehr geehrte Damen und<br />
Herren,<br />
im Namen der Veranstalter<br />
möchte ich Sie herzlich zu unserer<br />
<strong>Anhörung</strong> <strong>zum</strong> <strong>Bleiberecht</strong><br />
<strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong><br />
Flüchtlinge und <strong>Asyl</strong>bewerber<br />
willkommen heißen.<br />
Zunächst sollen die Mitveranstalter<br />
noch einmal genannt<br />
werden: Es sind:<br />
Arbeiterwohlfahrt” in Niedersachsen,<br />
Caritas” in Niedersachsen,<br />
Arbeitsgemeinschaft Migrantinnen und Flüchtlinge<br />
in Niedersachsen,<br />
Deutscher Gewerkschaftsbund,<br />
Diakonisches Werk der evangelisch-lutherischen<br />
Landeskirche Hannover,<br />
Jüdische Wohlfahrt,<br />
Deutscher Paritätische Wohlfahrtsverband,<br />
Deutsches Rote Kreuz.<br />
Romane Aglonipe” - der Verein der Roma,<br />
Netzwerk Flüchtlingshilfe” und Menschenrechte<br />
e.V.,<br />
Republikanische Anwältinnen- und Anwaltsverein”<br />
sowie<br />
Runder Tisch <strong>für</strong> ein interkulturelles Hannover<br />
gegen Rassismus, Fremdenhass und Ausländerfeindlichkeit,<br />
Niedersächsischer Flüchtlingsrat.<br />
Ich freue mich, dass so viele Betroffene die Bereitschaft<br />
und den Mut aufgebracht haben, heute hier<br />
vor einem so großen Kreis über ihre Situation zu<br />
sprechen. Einer musste dieses Recht sogar vor Gericht<br />
einklagen.<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
9
Jo Schradert - Einleitung<br />
Ich bedanke mich im Namen der Veranstalter bei<br />
den engagierten Fachleuten, die hier sprechen werden<br />
und auch bei den ehrenamtlichen Unterstützern<br />
der Flüchtlinge, ohne deren Engagement diese Veranstaltung<br />
in dieser Form nicht möglich gewesen<br />
wäre. Und einen möchte ich herausheben. Wir bedanken<br />
uns bei Achim Beinsen, der mit Unterstützung<br />
von verschiedenen Seiten federführend und<br />
verantwortlich diese Veranstaltung konzipiert und<br />
vorbereitet hat. (Applaus)<br />
Wir bedanken uns, dass Sie, Herr Oberbürgermeister<br />
Schmalstieg, die Schirmherrschaft <strong>für</strong> die Veranstaltung<br />
übernommen haben, und die <strong>Anhörung</strong><br />
heute hier im Neuen Rathaus in Hannover stattfinden<br />
kann. Besonders freuen wir uns auch, dass Sie,<br />
Frau Beck und Herr Schwarz-Schilling - der später<br />
dazukommen wird - sowie Bernd Mesovic von <strong>Pro</strong><br />
<strong>Asyl</strong> die Zeit gefunden haben, uns heute Ihre Positionen<br />
<strong>für</strong> ein <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> Flüchtlinge vorzutragen.<br />
Nun übergebe ich an Herrn Schrader vom Journalistenbüro<br />
o-ton-team”, der uns moderierend durch<br />
diese Veranstaltung begleitet.<br />
Danke schön. (Applaus)<br />
ROMANE<br />
AGLONIPE<br />
Roma aus Niedersachsen e.V.<br />
<strong>für</strong> ein interkulturelles Hannover<br />
gegen Rassismus, Fremdenhass<br />
und Ausländerfeindlichkeit<br />
3. Einleitung<br />
Jo Schrader, o-ton-team<br />
Sehr verehrte Damen und Herren, sehr verehrter<br />
Herr Oberbürgermeister, Herr Bürgermeister, sehr<br />
verehrte Damen und Herren Landtagsabgeordnete,<br />
liebe Vertreter von Initiativen und Betroffene, die<br />
wir heute hier hören wollen,<br />
ich begrüße Sie und selbstverständlich<br />
auch alle anderen<br />
Interessierten, die zu dieser<br />
Veranstaltung gekommen<br />
sind, ganz herzlich!<br />
Das Wesentliche bei dieser<br />
<strong>Anhörung</strong> ist es, den Menschen,<br />
die seit vielen Jahren in<br />
diesem Lande leben, ein Gesicht<br />
zu geben. Diese Menschen<br />
kennen zu lernen und<br />
zu begreifen, durch welches<br />
Schicksal sie gehen müssen.<br />
Nicht nur, dass sie in ihrer<br />
Heimat teilweise viele schreckliche<br />
Erlebnisse durchleiden<br />
Foto: Jo Schrader, o-ton-team u. Achim<br />
Beinsen, Nds. Flüchtlingsrat<br />
mussten, sondern dass sie auch in unserem Land,<br />
dessen Grundgesetz beginnt mit “Die Würde des<br />
Menschen ist unantastbar”, ein Schicksal haben, das<br />
vielfach wirklich anrührend ist und uns die Notwendigkeit<br />
von Veränderungen<br />
vor Augen führt. Um diesen<br />
Menschen ein Gesicht zu<br />
geben, muss man sie persönlich<br />
kennen lernen.<br />
Ich selber lernte im Oktober<br />
einen jungen Menschen kennen,<br />
der in einem Übergangswohnheim<br />
wohnte. Er hieß<br />
Houmajun und war 16 Jahre<br />
alt, also noch minderjährig.<br />
Seine Eltern lebten in Kabul,<br />
er hatte sie lange nicht mehr<br />
gesehen. Und jeder weiß, zu<br />
dieser Zeit fielen Bomben auf<br />
Kabul. Die Vorstellung, als 16-<br />
Jähriger in einem fremden<br />
10
Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg - Grußwort<br />
Land zu sein, dessen Kultur nicht zu verstehen,<br />
dessen Sprache nicht zu kennen, und ohne Kontakt<br />
zu Menschen der eigenen Kultur leben zu müssen,<br />
ohne Wissen, wie es den Eltern geht, das ist wirklich<br />
furchtbar. So etwas gibt es vielfach. Houmajun<br />
lebt immer noch in Deutschland und ihm droht,<br />
nun nach mehreren Jahren, die Abschiebung zurück<br />
nach Afghanistan in eine durchaus ungewisse Zukunft.<br />
Dieses Beispiel hat mir persönlich gezeigt,<br />
wie Menschen leben müssen, die in Deutschland geduldet<br />
werden und keine Rechte haben. Und diesen<br />
Menschen das Recht zu geben, hier zu bleiben, das<br />
ist nicht zuletzt eines der wesentlichen Ziele dieser<br />
Veranstaltung.<br />
Ich freue mich, dass viele Betroffene gekommen<br />
sind, die uns den Blick öffnen <strong>für</strong> das Schicksal von<br />
Flüchtlingen. Darüber hinaus werden wir interessante<br />
Fachvorträge und Berichte von ehrenamtlichen<br />
Unterstützern hören, die uns aus ihrer jeweiligen<br />
Perspektive das Schicksal und die Situation von<br />
Flüchtlingen näher bringen, damit wir dann<br />
entsprechend handeln können.<br />
(Applaus)<br />
4. Grußwort<br />
durch Hannovers Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg<br />
Meine sehr verehrten Damen und Herren,<br />
ich freue mich darüber, dass wir heute hier zu einer<br />
wichtigen <strong>Anhörung</strong> <strong>zum</strong> Thema des <strong>Bleiberecht</strong>s<br />
im Hodler-Saal zusammen gekommen sind. Ich darf<br />
sie alle ganz herzlich begrüßen und freue mich auch,<br />
dass sie, verehrte Frau Beck, nach Hannover gekommen<br />
sind. Wir beschäftigen uns mit einem Thema,<br />
wobei wir uns nach meinem Wunsch an dem<br />
Bild hier in diesem Hodler-Saal orientieren sollten.<br />
Lassen Sie mich dies kurz erklären. Der Raum ist<br />
benannt nach dem Schweizer Maler Ferdinand<br />
Hodler, der während der Erbauung des Rathauses<br />
im Jahr 1911 den Auftrag bekam, ein Gemälde anzufertigen,<br />
welches das Bekenntnis der Hannoveraner<br />
zur Reformation darstellen sollte. Erstaunlich<br />
dabei war, dass ein deutscher Stadtdirektor einem<br />
Schweizer Maler damals einen derartigen Auftrag<br />
erteilte.<br />
Lieber <strong>Pro</strong>bst Funke: Ich bitte um Nachsicht, dass<br />
ich dieses Thema anspreche, aber die Teilnehmer<br />
der Veranstaltung sollten wissen, wo sie sich befinden.<br />
Am 26. Juni 1533 hatten sich die Hannoveraner<br />
zwischen Marktkirche und altem Rathaus<br />
einstimmig und einmütig - deswegen heißt dieses<br />
Gemälde auch “Einmütigkeit” - zur Reformation<br />
bekannt. Die katholischen Glaubensbrüder und der<br />
katholische Bürgermeister mussten die Stadt verlassen.<br />
In Hildesheim erhielten sie Schutz. Nach einiger<br />
Zeit kamen sie von dort nach Hannover zurück.<br />
Und wenn da nur Männer zu sehen sind, meine Damen<br />
und Herren, so liegt das daran, dass es damals<br />
leider noch keine Frauenbeauftragten gab, die da<strong>für</strong><br />
gesorgt haben, dass auch Frauen mit abstimmen<br />
konnten und abstimmen durften. Dies ist ein überaus<br />
wichtiges Gemälde, das übrigens noch eine<br />
zweite Ausführung hat. Wenn Sie einmal nach<br />
Zürich kommen und die dortige Kunsthalle aufsuchen,<br />
können Sie das Gemälde dort in der gleichen<br />
Größe noch einmal sehen.<br />
Soviel zu dem Raum und dem Gemälde. Ich wäre<br />
sehr froh darüber, wenn es auch in der Diskussion<br />
um ein <strong>Bleiberecht</strong> eine solche Einmütigkeit gäbe.<br />
Ich hoffe sehr, dass es eines Tages ein Zuwanderungsgesetz<br />
geben wird, das den Namen Zuwanderungsgesetz<br />
auch verdient hat. Ob das, was jetzt<br />
ausgehandelt worden ist, dieses Prädikat verdient,<br />
will ich nicht kommentieren. Ich hätte mir etwas anderes<br />
gewünscht als das, was jetzt zustande gekommen<br />
ist.<br />
Vor mehr als 80 Jahren formulierte Kurt Schwitters:<br />
Hannovers Rathaus gehört den Hannoveranerinnen<br />
und Hannoveranern. Und deswegen gehört das<br />
Rathaus allen, die hierher kommen. Wir haben ein<br />
offenes Rathaus und täglich besuchen mehrere hundert,<br />
teilweise über 1.000 Menschen das Gebäude.<br />
Die Offenheit gilt <strong>für</strong> alle Einwohnerinnen und<br />
Einwohner unserer Stadt und ganz besonders auch<br />
<strong>für</strong> den Teil unserer Einwohnerinnen und Einwohner,<br />
die zu dieser Veranstaltung gekommen sind,<br />
weil das heutige Thema <strong>für</strong> sie wirklich von existenzieller<br />
Bedeutung ist. Aus diesem Grund habe ich<br />
auch sehr gern die Schirmherrschaft <strong>für</strong> diese Veranstaltung<br />
übernommen. Es geht um das <strong>Bleiberecht</strong><br />
ausländischer Einwohnerinnen und Einwohner,<br />
deren Aufenthalt nur geduldet wird, obwohl sie<br />
<strong>zum</strong> Teil seit vielen Jahren hier leben. Diese Menschen<br />
sind zur Ausreise verpflichtet, im Weigerungsfall<br />
müssen sie ihre Abschiebung be<strong>für</strong>chten.<br />
In Hannover leben nach dem jetzigen Stand 1.851<br />
<strong>Asyl</strong>berechtigte, und 1.575 Duldungsinhaber<br />
(Stand: 31.122003). Wir haben zwar die Gesamtdauer<br />
ihres Aufenthalts statistisch nicht erfasst, wis-<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
11
Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg - Grußwort<br />
“Einmütigkeit” von Ferdinand Hodler<br />
sen allerdings, dass die größte Zahl dieser Flüchtlinge<br />
mit einer Duldung seit längeren Jahren in unserer<br />
Stadt lebt. Viele von ihnen sind hier heimisch geworden,<br />
haben hier Freunde. Ihre Kinder besuchen<br />
die Kindergärten in der Stadt oder die Schulen und<br />
sind weitgehend integriert. Deshalb wäre es aus humanitärer<br />
aber vor allem auch aus einwanderungspolitischer<br />
Sicht betrachtet wünschenswert und hilfreich,<br />
wenn es hier zu einer <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />
kommen würde. (Applaus)<br />
Es lässt sich, meine Damen und Herren, darüber<br />
diskutieren, inwieweit die ursprünglichen Zielsetzungen<br />
dieses so genannten Zuwanderungsgesetzes<br />
mit jenen Regelungen erreicht werden, wie sie jetzt<br />
nach über drei Jahren Verhandlungsdauer zwischen<br />
Regierung und Opposition vereinbart wurden. Die<br />
Feststellung bleibt bestehen, dass wir hier in<br />
Deutschland in der Zukunft Einwanderung brauchen<br />
- und ich will jetzt gar nicht über demographische<br />
Entwicklungen sprechen - aber wenn wir nicht<br />
in einem Land, welches mitten im Zentrum Europas<br />
liegt, zu Einwanderungsregelungen kommen,<br />
werden wir in ein paar Jahren unser Land nicht wiedererkennen.<br />
Dann ist es sicherlich in weiten Teilen<br />
verödet, weil dort keine Menschen mehr leben. Und<br />
deshalb muss man auch aus diesen Gesichtspunkten<br />
heraus darüber nachdenken, in welcher Weise Einwanderung<br />
stattfinden kann. Dabei muss darauf<br />
hingewiesen werden, dass eine nachhaltige Integration<br />
ohne eine bundesweite <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />
und ohne den Zugriff auf die Potenziale der bisher<br />
hier nur <strong>geduldete</strong>n Flüchtlinge nicht denkbar ist.<br />
Die derzeitige Duldungspraxis ist bei rund 230.000<br />
betroffenen Menschen in Deutschland, davon<br />
26.000 in Niedersachsen, ohne konkrete Lösungsversuche<br />
sowohl gesellschaftspolitisch als auch gegenüber<br />
den Betroffenen unverantwortlich. (Applaus)<br />
Ich könnte aus meiner Erfahrung sehr viele<br />
Beispiele nennen, höchst tragische Fälle, weil die betroffenen<br />
Menschen hier fünf, sechs, sieben und<br />
mehr Jahre gelebt haben und es keine Möglichkeit<br />
gab, sie hier in der Stadt zu halten. Unsere Ausländerbehörden<br />
würden manchmal das eine oder andere<br />
gerne selbst regeln, wenn es dort stärkere, größere<br />
Ermessensspielräume gäbe. In einem mir bekannten<br />
Fall handelte es sich um eine junge Frau aus<br />
Bulgarien, die hier mit ausgezeichneten Leistungen<br />
ihr Abitur gemacht hat. Trotzdem gab es schließlich<br />
keine Chance, sie in Deutschland zu halten. Ich war<br />
zu der Zeit Abgeordneter des Landtages und hatte<br />
12
Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg - Grußwort<br />
das Glück, eine Petition in diesem Fall bearbeiten zu<br />
können. Ich habe mir die größte Mühe gegeben, um<br />
noch ein Jahr und noch ein Jahr und noch ein Jahr<br />
Aufenthalt <strong>für</strong> diese Frau herauszuholen, aber eines<br />
Tages ging es nicht länger. So etwas darf und kann<br />
nicht sein. Es muss, so glaube ich, hier eine Regelung<br />
gefunden werden, die menschliche Lösungen<br />
ermöglicht. (Applaus)<br />
Die Zuwanderungskommission unter Leitung von<br />
Rita Süssmuth hat deshalb Erleichterungen beim<br />
Zugang zu einer Aufenthaltsbefugnis vorgeschlagen.<br />
Im Kommissionsbericht heißt es: Es liegt im originären<br />
Interesse jedes Aufnahmelandes, dass Ausländer,<br />
deren Aufenthalt aus humanitären Gründen<br />
auf längere Zeit nicht beendet werden kann, und<br />
die deshalb voraussichtlich auf Dauer im Lande<br />
bleiben werden, so früh wie möglich integriert werden.<br />
Ausländer, die nur geduldet sind, leben in unsicheren<br />
rechtlichen Verhältnissen mit negativen Folgen<br />
auch <strong>für</strong> das Aufnahmeland. Auch die Ausländerbeauftragten<br />
der Länder erklärten im Mai 2002<br />
mit Blick auf das Zuwanderungsgesetz, dass es <strong>für</strong><br />
den integrationspolitischen Erfolg mit entscheidend<br />
sei, wie viele Menschen aus dem Kreis der bisher<br />
Geduldeten künftig einen rechtmäßigen Aufenthalt<br />
erhalten werden. Sie haben eine klare und bundesweit<br />
einheitliche Altfallregelung <strong>für</strong> bisher Geduldete<br />
gefordert. Die Diskussion um den bisher erzielten<br />
Kompromiss <strong>zum</strong> so genannten Zuwanderungsgesetz<br />
ändert nichts an diesen Einsichten und am dringenden<br />
Handlungsbedarf. Auch ohne Regelungen<br />
im Zuwanderungsgesetz müssen die Geduldeten,<br />
die schon lange Mitglieder unserer Gesellschaft<br />
sind, aus ihrem weitgehend rechtlosen Status befreit<br />
werden und die Chance zu einem menschenwürdigen<br />
und gleichberechtigten Dasein erhalten. Es ist<br />
hoffentlich noch nicht zu spät, in Ergänzung zu den<br />
bisherigen Beschlüssen über das Zuwanderungsgesetz,<br />
die Weichen hier<strong>für</strong> richtig zu stellen.<br />
Eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung <strong>für</strong> diesen Personenkreis<br />
könnte aber auch unabhängig vom Zuwanderungsgesetz<br />
von den Innenministern der Bundesländer<br />
beschlossen werden. Verschiedene Regelungen <strong>für</strong><br />
Geduldete hat es in den vergangenen Jahrzehnten<br />
bereits gegeben, obwohl diese so gestaltet waren,<br />
dass viele derer, <strong>für</strong> die sie gedacht waren, sie gar<br />
nicht in Anspruch nehmen konnten. Häufig scheiterten<br />
sie an der geforderten Unabhängigkeit von<br />
der Sozialhilfe bei gleichzeitig eingeschränktem Arbeitsmarktzugang,<br />
der faktisch einem Arbeitsverbot<br />
gleichkommt. Eine ernsthaft gemeinte <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />
muss zunächst deshalb bundesweit auch<br />
eine Chance zu einer Arbeit eröffnen. Ich begrüße<br />
es daher, dass in Niedersachsen ein Bündnis existiert,<br />
das sich mit der heutigen <strong>Anhörung</strong>, aber<br />
auch mit einer Petition, <strong>für</strong> ein <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> langfristig<br />
in Niedersachsen lebende <strong>Asyl</strong>suchende und<br />
Flüchtlinge einsetzt. Dabei nimmt auch der Runde<br />
Tisch hier in unserer Stadt, der "Runde Tisch <strong>für</strong> ein<br />
Interkulturelles Hannover gegen Rassismus, Fremdenhass<br />
und Ausländerfeindlichkeit", eine wichtige<br />
Rolle ein. Hier in Hannover ist unter seiner Mitwirkung<br />
einiges erreicht worden, wie <strong>zum</strong> Beispiel die<br />
Ausarbeitung eines Konzeptes zur Unterbringung<br />
von Flüchtlingen und Aussiedlern sowie <strong>für</strong> unbegleitete<br />
minderjährige Flüchtlinge.<br />
<strong>Bleiberecht</strong>, meine Damen und Herren, ist Integrationspolitik.<br />
Eine generelle <strong>Bleiberecht</strong>sregelung auf<br />
Bundesebene schafft deshalb nicht nur <strong>für</strong> die Betroffenen<br />
eine Rechtssicherheit und Lebensperspektive,<br />
sondern erleichtert auch die Integrationsbemühungen<br />
in unseren Städten. Ich hoffe, dass alle<br />
diejenigen, die heute hier hergekommen sind - als<br />
Vortragende aber auch als diejenigen, die Fragen<br />
stellen, die mit diskutieren wollen - gemeinsam in einem<br />
Ziel einig bleiben: Es muss eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />
geben im Interesse der Menschen, weil<br />
das, was Herr Schrader eingangs gesagt hat, völlig<br />
klar ist: Ganz gleich, in welcher Stellung man sich<br />
befindet, ob man hier lebt als jemand, der einen<br />
deutschen Pass hat und deutsche Eltern oder einen<br />
türkischen oder einen Pass aus Nigeria oder woher<br />
auch immer, <strong>für</strong> alle gilt: Die Würde des Menschen<br />
ist unantastbar.<br />
(Applaus)<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
13
Marieluise Beck - Integrationsbeauftragte der Deutschen Bundesregierung<br />
5. Die Position der Integrationsbeauftragten<br />
der Bundesregierung <strong>zum</strong> Thema <strong>Bleiberecht</strong><br />
Marieluise Beck<br />
Einen schönen guten Tag, meine sehr geehrten Damen<br />
und Herren,<br />
ich möchte mich zunächst einmal bedanken bei<br />
denjenigen, die über viele Jahre hinweg mit sehr viel<br />
Energie und auch der Bereitschaft, Enttäuschungen<br />
auszuhalten, hier in der Flüchtlingsarbeit tätig sind.<br />
Sie geben den Menschen, die ganz am Rand unserer<br />
Gesellschaft stehen, schon dadurch Hoffnung, dass<br />
sie überhaupt Unterstützung bekommen, dass jemand<br />
da ist, der sie durch schwierige Situationen,<br />
durch Zurückweisungen und durch zähe Formalitäten<br />
begleitet. Es ist wichtig, dass sie diese Arbeit leisten<br />
und sich auch nicht entmutigen lassen durch<br />
problematische Entscheidungen, die es ja gerade im<br />
Bereich der Flüchtlings- und Ausländerpolitik immer<br />
wieder gibt. Das hat sich eigentlich auch in den<br />
letzten 15 Jahren nicht grundlegend verändert. Es<br />
hat immer mal wieder die Möglichkeit gegeben, die<br />
Tür ein bisschen zu öffnen <strong>für</strong> <strong>Bleiberecht</strong>sregelungen,<br />
über die wir jetzt sprechen.<br />
Das war <strong>zum</strong> einen – Sie werden sich erinnern,<br />
wenn sie aus der aktiven Flüchtlingsarbeit kommen<br />
- die <strong>Bleiberecht</strong>sregelung von 1999. Diese Regelung<br />
war sehr hart umkämpft. Zur Ehrenrettung des<br />
Bundesinnenministers, zu dem ich ja kein unkompliziertes<br />
Verhältnis habe, muss ich sagen, dass diese<br />
<strong>Bleiberecht</strong>sregelung nur zustande gekommen<br />
ist, weil er die Landesinnenminister an diesem<br />
Punkt in der Bund-Länder-Innenministerkonferenz<br />
so gedrängt hat, dass dann immerhin eine relativ<br />
kleine und bescheidene Lösung beschlossen wurde.<br />
Die Länder wollten zunächst definitiv überhaupt<br />
keine einzige Altfallregelung mehr machen.<br />
Wir haben dann wiederum im Jahr 2000 in zäher<br />
und mühseliger Arbeit das <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> etwa<br />
8000 traumatisierte Bosnierinnen und Bosnier ermöglicht.<br />
Von den insgesamt etwa 340.000 Menschen,<br />
die aus Bosnien-Herzegowina in unser Land<br />
gekommen waren, kehrte die Mehrzahl zurück, andere<br />
sind in die USA, nach Kanada und nach Neuseeland<br />
gegangen. Im Fall der Traumatisierten hatten<br />
wir in manchen Bundesländern skandalöse Verfahren<br />
über die Art der Gutachtenerstellung, wodurch<br />
traumatisierte Menschen noch mal und noch<br />
mal in ein gutachterliches Verfahren gezwungen<br />
worden sind. In Berlin wurde dies dann dem polizeiärztlichen<br />
Dienst übertragen, dessen Mitarbeiter<br />
überhaupt nicht wussten, was eine Traumatisierung<br />
eigentlich ist.<br />
Durch die Intervention von Herrn Schwarz-Schilling,<br />
der die ganzen Jahre eine aufrechte Unerschrockenheit<br />
an den Tag gelegt hat, wurde schließlich<br />
eine Art Schlussregelung <strong>für</strong> das ehemalige Jugoslawien<br />
gefunden. Dies war allerdings immer<br />
mühselig und immer wieder mit Hürden versehen.<br />
So wurde die <strong>Bleiberecht</strong>sregelung an die eigenständige<br />
Existenzsicherung geknüpft und scheiterte daher<br />
<strong>für</strong> viele an der schlechten Arbeitsmarktsituation.<br />
Dies ereignete sich vor der Zuwanderungsdebatte,<br />
vor der Erkenntnis, dass wir eine vergreisende Gesellschaft<br />
sind und im eigenen Interesse Menschen,<br />
die eingewandert sind, hier auch behalten sollten.<br />
Es wurde überhaupt keine Verbindung hergestellt<br />
zwischen diesen beiden politischen Sachverhalten.<br />
Also kehrten die Bosnier zurück.<br />
Nachdem der Bundeskanzler hier in Hannover die<br />
CeBIT besucht hatte und die Green Card-Regelung<br />
ankündigte, schien es, als gäbe es einen Umschwung<br />
in der Debatte, einen migrationspolitischen Frühling.<br />
Sowohl die Süssmuth-Kommission als auch die<br />
Müller-Kommission erstellten Berichte, die schlichtweg<br />
von Vernunft geprägt waren. Vernünftig ist es,<br />
Menschen, die seit vielen Jahren hier leben und an-<br />
14
Marieluise Beck - Integrationsbeauftragte der Deutschen Bundesregierung<br />
fangen, sich niederzulassen und deren Kinder hier<br />
geboren werden, in dieses Land zu integrieren. Es<br />
ist dann wie eine Verbannung, wenn man sie nach<br />
vielen Jahren wieder des Landes verweist. (Applaus)<br />
Solch ein Denken in Kategorien der Verbannung<br />
gibt es in verschiedenen Bereichen. Beispielsweise<br />
im Fall junger Ausländer, die keine Flüchtlinge sind,<br />
in Deutschland geboren wurden, jedoch keinen<br />
deutschen Pass besitzen, und denen aufgrund unseres<br />
Rechtes die Ausweisung droht, sollten sie<br />
straffällig werden. Dann heißt es: Ausweisung in ein<br />
unbekanntes „Heimatland“.<br />
Wie auch der Fall Mehmet in München einer Verbannung<br />
gleich kam - öffentlich und medienwirksam<br />
inszeniert. Derartige mediale Inszenierungen<br />
vermitteln immer auch die Botschaft an die<br />
aufnehmende Bevölkerung: Wir setzen diese Ausländer,<br />
die eben wirklich nicht zu uns gehören, vor<br />
die Tür, wenn sie in irgendeiner Weise von uns als<br />
störend empfunden werden. Mit den Berichten der<br />
Süssmuth- und der Müller-Kommission schien sich<br />
nun die Atmosphäre zu verändern. Es bestand Einigkeit<br />
darüber, dass Integration auch bedeutet:<br />
Dort, wo eine faktische Integration allein über die<br />
Zeit der Anwesenheit stattgefunden hat, muss das<br />
mit dem entsprechenden Aufenthaltstitel rechtlich<br />
nachvollzogen werden. Die Hoffnungen richteten<br />
sich auf eine Zuwanderungsregelung.<br />
nicht wieder fortgeschickt werden konnten, waren<br />
gleichwohl – teilweise auf unabsehbare Zeit - nur<br />
geduldet. Denn sie kamen aus Ländern, in denen es<br />
keine staatlichen Strukturen mehr gab. Wenn nunmehr<br />
nichtstaatliche und geschlechtspezifische Verfolgung<br />
endlich als Fluchtgrund auch ausländerrechtlich<br />
Anerkennung findet, werden diese Menschen<br />
eher einen Flüchtlingsstatus und in der Folge<br />
einen gesicherten Aufenthalt bekommen.<br />
Es wird außerdem in einem neuen § 25 Abs. 5 AufenthG<br />
definiert, wie in anderen Fällen anstelle einer<br />
Duldung ein Aufenthaltsrecht erteilt werden kann.<br />
Bei einem absehbaren längeren Aufenthalt der betroffenen<br />
Menschen kann ein Aufenthaltsrecht erteilt<br />
werden. Zudem kann die Aufenthaltserlaubnis auch<br />
erteilt werden, wenn keine eigene Existenzsicherung<br />
durch Erwerbstätigkeit und Beruf möglich ist.<br />
Das sind im Wesentlichen jene Bereiche, in denen es<br />
Erleichterungen geben kann und wird. Für einige<br />
Betroffene wird es darüber hinaus Erleichterungen<br />
Der Gesetzentwurf <strong>zum</strong> Zuwanderungsgesetz jedoch,<br />
der dann auf den Tisch kam, war schon mit<br />
der Schere im Kopf erstellt, nämlich mit der Schere<br />
einer oppositionellen Union, von der man wusste,<br />
dass sie über den Bundesrat mit am Tisch saß. Es<br />
war keine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung mehr vorgesehen.<br />
Es gab und gibt eine Diskussion über die Beendigung<br />
von Kettenduldungen, die im Kontext der<br />
Forderung nach einem <strong>Bleiberecht</strong> steht. An dieser<br />
Stelle will ich Ihnen sagen, welche Entwicklung sich<br />
in den vorliegenden Teilen der Gesetzesänderungen<br />
in Bezug auf diese Kettenduldungen abzeichnet. Es<br />
wird keine grundsätzliche Abschaffung der Kettenduldungen<br />
geben. Das ist bitter, aber ich will das<br />
hier ganz klar aussprechen. Es hat keinen Sinn, vier<br />
Wochen bevor der Text vielleicht dann endgültig auf<br />
dem Tisch liegt, nicht auch ehrlich zu sagen, was ansteht.<br />
Wir werden keine grundsätzliche Absage an<br />
Kettenduldungen erreichen. Es wird über andere<br />
Rechtsbereiche mittelbar Entlastungen geben <strong>für</strong><br />
Menschen, die bisher in der Kettenduldung gelandet<br />
wären, nun aber in anderen Bereichen gleich mit<br />
einem verfestigten Aufenthalt bedacht werden.<br />
Dies betrifft zunächst jene Flüchtlinge, die einer<br />
nichtstaatlichen und/oder einer geschlechtsspezifischen<br />
Verfolgung ausgesetzt waren. Viele Menschen,<br />
deren persönliche Verfolgung niemals von irgendjemandem<br />
infrage gestellt wurde und die auch<br />
durch eine weitere Regelung, die neu in das Gesetz<br />
aufgenommen wird, geben. Hierbei handelt es sich<br />
um die Härtefallkommissionen auf Länderebene.<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
15
Marieluise Beck - Integrationsbeauftragte der Deutschen Bundesregierung<br />
Allerdings handelt es sich auch hier um eine Kann-<br />
Regelung <strong>für</strong> die Länder. Das heißt, die Länder können,<br />
müssen jedoch keine Härtefallkommissionen<br />
einrichten. Dort, wo es diese Härtefallkommissionen<br />
geben wird, können sie dazu dienen, humanitäre<br />
Lösungen <strong>zum</strong> Beispiel in Fällen zu finden, in denen<br />
ansonsten eine haarsträubende Unmenschlichkeit<br />
zu beklagen wäre. Die Härtefallkommissionen<br />
ermöglichen Einzelentscheidungen<br />
<strong>für</strong> ein <strong>Bleiberecht</strong> auf der Grundlage eines flexiblen<br />
Rechts, das einen gewissen Ermessensspielraum<br />
vorsieht.<br />
Das ist nicht das Gesetz, welches ich mir wünsche -<br />
auch der Oberbürgermeister hat sich eben sehr<br />
deutlich erklärt.<br />
Sie alle lesen Zeitung, sie alle haben gesehen, wie<br />
sich das Drama in den letzten drei Jahren abgespielt<br />
hat. Ich weiß nicht, ob die Zeit noch reicht, in den<br />
nächsten Wochen so einen politischen Druck zu<br />
entfachen, dass gerade im Bereich der Kettenduldungen<br />
und im Bereich des <strong>Bleiberecht</strong>s noch mal<br />
ein deutlicher Schub nach vorne gelingt.<br />
Ich kann nur darum bitten, dass mit den eindeutigen,<br />
den ganz eindeutigen Bekenntnissen und Haltungen,<br />
die sie gerade hier geäußert haben, doch<br />
auch bitte noch einmal in die Sozialdemokratie hinein<br />
gewirkt wird. (Applaus)<br />
das möchte ich hier auch sagen, trotz aller Kritik,<br />
die mit Sicherheit zu Recht kommen wird, doch erklären,<br />
dass mein Kollege Volker Beck bis an den<br />
Rand seiner psychischen und physischen Kräfte gegangen<br />
ist in den vielen Wochen der Verhandlungen,<br />
wo es wenig Hemmungen gab, auch unter die<br />
Gürtellinie zu gehen. Das möchte ich hier ganz offen<br />
aussprechen: Also wenn es noch eine Chance<br />
gibt, brauchen wir dazu vor allen Dingen auch eine<br />
andere Entschiedenheit in der großen Partei der Sozialdemokratie.<br />
Ob die Zeit da<strong>für</strong> reicht, kann ich<br />
nicht sagen. Wenn nicht, werden wir alle weiterhin<br />
wie bisher in Sisyphusmanier den herunterrollenden<br />
Ball wieder aufnehmen und anfangen, ihn erneut<br />
hinauf zu schieben. Das heißt, wenn das Gesetz so<br />
kommt, wie es sich jetzt abzeichnet, wird die Auseinandersetzung<br />
um eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung <strong>für</strong><br />
die Menschen, die schon lange hier sind, mit dem<br />
Tag der Unterzeichnung wieder beginnen. Wir werden<br />
dann wie immer und wie in den letzten Jahren<br />
schon gehabt, auf die Bund-Länder-Innenministerkonferenz<br />
zugehen, auf die Oberbürgermeister zugehen,<br />
auf die Parteipräsidien zugehen und versuchen,<br />
einzelnen Menschen aus diesen überaus belastenden<br />
Lebenssituationen, in denen wir ihnen<br />
nicht gestatten, die Koffer auszupacken, obwohl sie<br />
ihren Platz in dieser Gesellschaft haben und haben<br />
könnten, herauszuhelfen. Wir werden mit dieser<br />
Auseinandersetzung dann wieder von vorne anfangen.<br />
(Applaus)<br />
Als Grüne vertreten wir nicht gerade den stärksten<br />
Part in dieser Regierung. Ich glaube ich kann, und<br />
16
Bernd Mesovic -<strong>Pro</strong> <strong>Asyl</strong><br />
6. Die von der Politik Vergessenen - Position<br />
von <strong>Pro</strong> <strong>Asyl</strong> <strong>zum</strong> <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong><br />
<strong>geduldete</strong> Flüchtlinge und <strong>Asyl</strong>bewerber<br />
Bernd Mesovic<br />
Meine sehr verehrten Damen und Herren,<br />
es wäre sicher schön gewesen, wenn Herr Schwarz-<br />
Schilling noch vor mir gesprochen hätte, weil das eines<br />
belegt hätte - er wird das ja selbst vielleicht<br />
nachher noch belegen: Die Frage des Schicksals der<br />
dauer<strong>geduldete</strong>n Menschen in Deutschland, ihres<br />
<strong>Bleiberecht</strong>s, ist eine, bei der das Engagement<br />
durchaus über Parteigrenzen hinweggeht. Das hat<br />
sich im Verlauf der Jahre, die diese Kampagne <strong>für</strong><br />
ein <strong>Bleiberecht</strong> jetzt läuft, gezeigt: Gerade auf der<br />
Ebene der Kommunalpolitik gibt es Bürgermeister,<br />
Kommunalpolitiker aller Couleur, die durchaus wissen,<br />
wovon sie reden und die eine Lösung wollen.<br />
Eine Lösung, die sich von der unterscheidet, die<br />
vermutlich jetzt gefunden wird im Rahmen des Zuwanderungsgesetzes.<br />
Je näher die Politiker also an<br />
den <strong>Pro</strong>blemen der Menschen dran sind - Herr<br />
Schmalstieg hat das sehr plastisch geschildert -<br />
desto mehr Verständnis gibt es da<strong>für</strong>, dass die Forderung<br />
nach einem <strong>Bleiberecht</strong> eben nichts Abstraktes<br />
ist und dass es dabei keineswegs um die<br />
Menschen geht, die nach tagespolitischem Kalkül<br />
als Beispiel <strong>für</strong> angeblichen Missbrauch herangezogen<br />
werden: Diejenigen, die ihre Identität verschleiern,<br />
die nach dieser Auffassung angeblich selbst<br />
daran schuld sind, dass es zu einem einen langen<br />
Aufenthalt hierzulande gekommen ist.<br />
Wir hatten im Vorfeld darüber gesprochen, wie die<br />
Überschrift meines Beitrages hier lauten könnte. Ich<br />
denke, ich möchte eigentlich über die "von der<br />
Politik Vergessenen" sprechen. Nach alledem, was<br />
an Gesetzestexten bisher vorliegt, vertrete ich die<br />
Auffassung, dass dieses Zuwanderungsgesetz die<br />
meisten der Menschen, um die es uns bei der <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />
geht, auch wieder vergessen wird.<br />
Das ist leider unsere Be<strong>für</strong>chtung. Ich denke, dass es<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
17
Bernd Mesovic - <strong>Pro</strong> <strong>Asyl</strong><br />
sich lohnt, jetzt noch mal Druck zu machen. Aber<br />
ich sehe es auch so wie Sie, Frau Beck: Wir werden<br />
den langen Atem brauchen. Wir werden auch nach<br />
Ende Juli weiter darauf aufmerksam machen müssen:<br />
Die Leute sind da. Es ist unrealistisch sie abzuschieben,<br />
inhuman ist es sowieso. Was in Deutschland<br />
fehlt, wenn ich das in sentimentalem Rückblick<br />
auf die Süßmuth-Kommission sehe, ist, so glaube<br />
ich, eine Mischung aus common sense und Humanität.<br />
Wenn ich daran denke, dass viele EU-Staaten in den<br />
letzten 10, 15 Jahren eine Reihe von Legalisierungsregelungen<br />
eingeführt haben - meistens dann, wenn<br />
ein neues und von der Zielrichtung her <strong>zum</strong>eist<br />
durchaus restriktives Ausländerrecht<br />
eingeführt<br />
wurde, habe ich den<br />
Eindruck: Deutschland<br />
schafft dies nicht einmal<br />
<strong>für</strong> die vergleichsweise<br />
geringe Zahl derer, die<br />
wir als Menschen mit<br />
Daueraufenthalt im Auge<br />
haben. Wenn es nicht gelingt,<br />
sie zu regularisieren,<br />
dann fehlt in diesem Lande<br />
etwas. Und wenn hingegen<br />
Kinder, die hier<br />
groß geworden sind, die<br />
die Sprache nur dieses<br />
Landes sprechen, in Staaten<br />
abgeschoben werden,<br />
die <strong>für</strong> sie auf keinen Fall<br />
Heimat sind, nur weil ihre<br />
Eltern nicht mehr als eine<br />
Duldung haben, dann<br />
fehlt uns beides, nämlich<br />
common sense, also eine<br />
pragmatische Haltung<br />
<strong>zum</strong> Faktischen und das<br />
Gespür da<strong>für</strong>, dass die<br />
Abschiebung in diesen<br />
Fällen im Grunde eine<br />
zutiefst inhumane Aktion<br />
ist. Sie, Frau Beck, haben<br />
es mit Verbannung bezeichnet.<br />
Manche Politiker<br />
trauen sich nicht, es beim Namen zu nennen.<br />
Auch wir würden das Wort Verbannung <strong>für</strong> Abschiebungsaktionen<br />
dieser Art verwenden.<br />
Die Dauer-Geduldeten in Deutschland: Dabei handelt<br />
es sich um eine Zahl, die ich hier noch mal in<br />
den Raum stellen will. Je nachdem, wie man die<br />
Grenze zieht, kann man davon ausgehen: Ca.<br />
150.000 Menschen haben ihre Duldung 5 Jahre oder<br />
mehr. Diese Tatsache weist im Prinzip bereits auf<br />
eine rechtswidrige Verfahrensweise dieses Staates<br />
selbst. Die <strong>Pro</strong>blemgruppe sollte es eigentlich gar<br />
nicht geben, denn die Duldung war nie als Mittel<br />
zur Regelung eines Daueraufenthaltes gedacht. Und<br />
auf diese Tatsache hat die Süßmuth-Kommission<br />
hingewiesen, hat die Ausländerbeauftragte, haben<br />
auch Andere immer wieder hingewiesen. Darauf,<br />
dass es eigentlich um eine Legalisierung unseres eigenen<br />
Rechtsverständnisses geht, das die Existenz<br />
von Kettenduldungen bislang hingenommen hat. In<br />
der Konsequenz wegzukommen von diesen Dauerduldungen<br />
hin zu einer klaren Entscheidung <strong>für</strong> die<br />
Regelung eines verfestigten Aufenthaltes.<br />
Ich sehe es so: Mit der nun im Raum stehenden<br />
zeitlichen Höchstgrenze <strong>für</strong> die Erteilung einer Duldung<br />
im neuen Zuwanderungsgesetz<br />
ist nicht viel<br />
geregelt, weil die zusätzlichen<br />
Voraussetzungen,<br />
die verlangt werden - so<br />
man die jetzt kursierenden<br />
Texte zugrundelegt -<br />
sehr schwer zu erbringen<br />
sein werden. Es wird immer<br />
wieder behauptet<br />
werden - aus Gründen des<br />
tagespolitischen Distinktionsgewinns<br />
gegenüber<br />
den Unterstützern dieser<br />
Personengruppe - sie seien<br />
an ihrer Situation selbst<br />
schuld. Wer selbst freiwillig<br />
ausreisen könnte, dem<br />
soll auch künftig kein<br />
Daueraufenthalt gewährt<br />
werden, selbst wenn er<br />
nicht abgeschoben werden<br />
kann. Diese Konstruktion<br />
ist de facto ein großes<br />
<strong>Pro</strong>blem und ich nehme<br />
an, das neue Gesetz wird<br />
es nicht lösen, jedenfalls<br />
nicht im Sinne von<br />
Rechtssicherheit <strong>für</strong> die<br />
Betroffenen. Stattdessen<br />
wird es wieder ein Hauen<br />
und Stechen geben um jeden<br />
Einzelfall vor Gericht,<br />
in Härtefallkommissionen usw. Trotzdem, wir<br />
machen weiter, wir nehmen auch diese Herausforderung<br />
an. Aber common sense wäre stattdessen<br />
gewesen, ein größtmögliches Maß an Rechtssicherheit<br />
zu schaffen. Deswegen sind wir mit dem Gesetz<br />
unzufrieden, aber wir bleiben kämpferisch. Die<br />
Kampagne wird auch von PRO ASYL, den Flüchtlingsräten<br />
und, wie ich hoffe, von allen bisherigen<br />
Unterstützern weitergeführt, weil die betroffenen<br />
Menschen eben da sind und bleiben sollen. Danke.<br />
(Applaus)<br />
18
Rita Süssmuth- Sachverständigenrat <strong>für</strong> Zuwanderung und Integration<br />
7. Grußwort<br />
der Vorsitzenden desSachverständigenrates<br />
<strong>für</strong> Zuwanderung und Integration der<br />
Deutschen Bundesregierung<br />
<strong>Pro</strong>f. Dr. Dr. h.c. mult. Rita Süssmuth<br />
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
die Veranstalter dieser <strong>Anhörung</strong> haben mich gebeten,<br />
meine Position als Vorsitzende der Unabhängigen<br />
Kommission Zuwanderung <strong>zum</strong> Thema <strong>Bleiberecht</strong><br />
<strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong> Flüchtlinge darzulegen.<br />
Gern komme ich dieser Bitte nach.<br />
Als wir im Juli des Jahres 2001<br />
den Abschlussbericht unserer<br />
vom Ministerium des Inneren<br />
eingesetzten Unabhängigen<br />
Kommission Zuwanderung<br />
unter dem Titel "Zuwanderung<br />
gestalten - Integration<br />
fördern" der Öffentlichkeit<br />
vorstellten, verbanden wir damit<br />
gleichzeitig die Hoffung,<br />
dass die Arbeitsergebnisse und<br />
Empfehlungen der Kommission<br />
in absehbarer Zeit in neue<br />
gesetzliche Regelungen münden<br />
würden. Denn, so die Ergebnisse<br />
unserer Arbeit, im<br />
Bereich Migration und Zuwanderung<br />
herrscht ein deutlicher<br />
Regelungsbedarf, um den<br />
aktuellen Herausforderungen<br />
besser begegnen und auf neue<br />
Entwicklungen internationaler Migrationsprozesse -<br />
aber auch auf den Bedarf nach qualifizierten Fachkräften<br />
- in unserem Land angemessen reagieren zu<br />
können. Aus verschiedenen Gründen ist es zu gesetzlichen<br />
Neuregelungen bisher nicht gekommen.<br />
Die zurückliegenden Jahre seit der Veröffentlichung<br />
unseres Abschlussberichtes waren von schweren internationalen<br />
Erschütterungen, von dem schrecklichen<br />
terroristischen Anschlag am 11. September<br />
2001 in den USA, von den Kriegen in Afghanistan<br />
und zuletzt im Irak sowie den daraus erwachsenen<br />
politischen <strong>Pro</strong>blemen gekennzeichnet.<br />
In diesem Rahmen wächst der Bundesrepublik<br />
Deutschland eine immer größere Verantwortung<br />
<strong>für</strong> die Bewahrung des Friedens und <strong>für</strong> die Achtung<br />
der Menschenrechte zu. Dabei muss die Bundesrepublik<br />
Deutschland ihre Verpflichtung und<br />
Verantwortung als wichtiges Mitglied der Staatengemeinschaft<br />
nicht zuletzt <strong>für</strong> den Geltungsbereich<br />
und die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention<br />
und der Europäischen Menschenrechtskonvention<br />
wahrnehmen.<br />
Der Einsatz <strong>für</strong> die weltweite<br />
Achtung der Menschenrechte<br />
und die Stärkung des Völkerrechts<br />
bedeutet auch, den<br />
<strong>langjährig</strong> in Deutschland lebenden<br />
Flüchtlingen eine<br />
menschenwürdige Existenz<br />
und eine rechtlich-formale Integration<br />
mit den dazugehörigen<br />
Rechten und Pflichten zu<br />
ermöglichen.<br />
Hier hat sich insbesondere in<br />
Bezug auf Flüchtlinge, die aus<br />
humanitären oder faktischen<br />
Gründen nicht in ihren Heimatstaat<br />
zurückkehren können,<br />
eine sowohl aus rechtlichen<br />
als auch aus menschlichen<br />
Gründen inakzeptable<br />
Praxis herausgebildet. Obwohl<br />
Duldungen nach der Intention des Ausländerrechts<br />
nicht länger als <strong>für</strong> ein Jahr erteilt werden sollen,<br />
sieht die Wirklichkeit anders aus. In weit über der<br />
Hälfte der Fälle wird die Jahresfrist um ein vielfaches<br />
überschritten. Die Duldungen sind daher zu einem<br />
"Ersatzaufenthaltsrecht" geworden, welches<br />
die Betroffenen in administrativer Hinsicht zu Menschen<br />
zweiter und dritter Klasse degradiert. Geduldete<br />
Flüchtlinge dürfen ihre Familien nicht nachholen,<br />
sie erhalten herabgesetzte Sozialleistungen, ihre<br />
Freizügigkeit ist ebenso wie die Möglichkeit, eine<br />
Erwerbstätigkeit auszuüben, stark eingeschränkt.<br />
Für die Betroffenen ist eine solche Situation extrem<br />
belastend. Fachleute weisen immer wieder darauf<br />
hin, dass dies zu psychischen oder physischen Erkranken<br />
führen kann.<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
19
Mirsan Kurpejevic<br />
Integration zu verweigern. Dies ist ein unwürdiger<br />
und bedrückender Umgang <strong>für</strong> die Betroffenen. In<br />
dem Abschlussbericht unserer "Unabhängigen<br />
Kommission Zuwanderung" formulierten wir: "Es<br />
liegt im originären Interesse jeden Aufnahmelandes,<br />
dass Ausländer, deren Aufenthalt aus humanitären<br />
Gründen über längere Zeit nicht beendet werden<br />
kann und die deshalb voraussichtlich auf Dauer im<br />
Lande bleiben werden, so früh wie möglich integriert<br />
werden."<br />
Es ist daher nicht vertretbar, die Betroffenen über<br />
Jahre hinweg in eine rechtlich ungesicherte Situation<br />
zu drängen und ihnen faktisch die Möglichkeit der<br />
Die Bundesregierung möge da<strong>für</strong> Sorge tragen, dass<br />
dem unhaltbaren Zustand <strong>für</strong> die <strong>langjährig</strong> Geduldeten<br />
so bald wie möglich im Rahmen einer <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />
abgeholfen wird. In diesem Sinne<br />
wünsche ich den Veranstaltern dieser <strong>Anhörung</strong> bei<br />
der Realisierung ihres Anliegens viel Erfolg.<br />
8. Eine Familie aus Serbien-Montenegro<br />
zwischen Integrationsbemühungen<br />
und bürokratischen Hürden<br />
Mirsan Kurpejevic<br />
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
mein Name ist Mirsan Kurpejovic. Ich komme aus<br />
Serbien-Montenegro, bin muslimischer Abstammung<br />
und werde Ihnen unsere <strong>Pro</strong>bleme mit dem<br />
Duldungsstatus jetzt näher erläutern:<br />
Wir sind am 05.Mai 1992 in Deutschland eingereist<br />
und leben seit 12 Jahren in unserem Ort "Großefehn"<br />
in Ostfriesland. Und jetzt kommen wir zu den<br />
<strong>Pro</strong>blemen mit dem Duldungsstatus die uns betreffen:<br />
Mein Vater, bald 49 Jahre alt, beantragte mehrmals<br />
und jahrelang eine Arbeitserlaubnis bei verschiedenen<br />
Firmen und bekam sie nicht. Selbst die Rechtsanwältin<br />
konnte ihm nicht helfen. Nur durch einen<br />
Zufall bekam mein Vater eine Stelle bei der Firma<br />
Nils Bogdol GmbH als Gebäudereiniger in Vechta,<br />
weil sich der Chef <strong>für</strong> ihn eingesetzt hat und kein<br />
deutscher Mitkonkurrent diese Stelle haben wollte.<br />
Dies wurde aber vorher vom Arbeitsamt eingehend<br />
geprüft, so dass kein Deutscher oder EU-Bürger<br />
diese Stelle in Anspruch nehmen wollte. Doch die<br />
Arbeitsstelle ist an die Laufzeit der Duldung gebunden<br />
und mein Vater darf nur in den Regionen Ostfriesland<br />
und Emsland arbeiten. Hierzu ein Beispiel:<br />
20
Misan Kurpejevic<br />
Ist die Duldung <strong>für</strong> 3 Monate verlängert worden, so<br />
darf mein Vater nur in dieser Zeit arbeiten und nur<br />
in dieser Zeit die Region verlassen und sich frei bewegen.<br />
Dann muss ein neuer Antrag von der Firma<br />
ausgefüllt und an das Arbeitsamt geschickt werden.<br />
Parallel dazu muss auch das Kindergeld immer neu<br />
beantrag werden. Die Firma will meinen Vater fest<br />
einstellen, doch das geht nicht. Es besteht auch die<br />
Gefahr, dass die Firma meinen Vater nicht länger<br />
behält, weil sie diese Strapazen nicht mehr auf sich<br />
nehmen kann und ihm einfach kündigt. Das alles<br />
läuft jetzt seit 2 ½ Jahren.<br />
Meine Mutter , 45 Jahre alt, hat dieselben <strong>Pro</strong>bleme,<br />
wie mein Vater. Doch der Unterschied liegt darin,<br />
dass meine Mutter noch nie eine Arbeitserlaubnis<br />
bekommen hat, wegen dem Duldungsstatus, obwohl<br />
sie auch viele Firmen fand, die sie nehmen<br />
wollten.<br />
Jetzt kommen wir zu meinem Zwillingsbruder Mirhan<br />
Kurpejovic. Er ist 20 Jahre alt, hat die Schule<br />
<strong>für</strong> Körper- und Geistigbehinderte beendet und<br />
wartet seit 3 Jahren auf Arbeit. Er ist zu 100% behindert.<br />
Er hatte eine Stelle beim "Institut <strong>für</strong> Erwachsenenbildung"<br />
und bei den "Werkstätten <strong>für</strong><br />
Behinderte", später aber wurden sie ihm nicht gewährt.<br />
Doch sie haben uns gesagt, wenn wir einen<br />
Aufenthaltsstatus bekommen sollten, wären sie dazu<br />
bereit, eine Stelle <strong>für</strong> ihn zu besorgen. Trotz einer<br />
Behinderung könnte er ein zufriedener Mensch<br />
sein, wenn er die entsprechende Förderung bekäme<br />
und eine Arbeit ausführen könnte, die seinen Fähigkeiten<br />
entspricht.<br />
Als nächstes kommen wir zu mir: Ich selber wollte<br />
privat Praktika absolvieren, um die verschiedenen<br />
kaufmännischen Berufe sowie Betriebe kennen zu<br />
lernen. Das wurde mir nicht gewährt. Als nächstes<br />
habe ich eine Ausbildungsstelle bei der Firma<br />
"Edeka" als Einzelhandelskaufmann gefunden. Alles<br />
lief prima, bis ich den Antrag auf Arbeitserlaubnis<br />
beim Arbeitsamt abgegeben hatte. Dort musste<br />
ich einen Monat auf die Entscheidung warten, obwohl<br />
ich schon längst hätte anfangen müssen.<br />
Schließlich habe ich die Stelle nicht bekommen<br />
wegen dem Duldungsstatus, und mir bleibt nichts<br />
anderes übrig, als weiter zur Schule zu gehen, und<br />
ich hoffe, dass ich im nächsten Jahr, 2005, mein<br />
Abitur schaffe.<br />
Ein anderes <strong>Pro</strong>blem entsteht auch, wenn wir<br />
unsere Verwandten besuchen wollen, die nicht in<br />
unserem Bundesland leben. Dann müssen wir <strong>zum</strong><br />
Landkreis gehen und eine Genehmigung einholen,<br />
dass wir unseren Ort verlassen dürfen und in ein<br />
anderes Bundesland reisen möchten. Und diese<br />
ganzen <strong>Pro</strong>bleme begleiten uns jahrelang durch das<br />
tägliche Leben. So lange wir den Duldungsstatus<br />
haben, können wir unsere Wünsche nicht erfüllen.<br />
Das war's von meiner Seite. Vielen Dank.<br />
(Applaus)<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
21
Alvaro Juchanian<br />
9. "Zu 99 <strong>Pro</strong>zent integriert"<br />
Alvaro Juchanian<br />
Vielen Dank dass Sie mir das Wort geben. Ich habe<br />
nicht erwartet, dass ich so schnell zu Wort komme,<br />
hatte eigentlich keine Hoffnung. Ja, ich habe einen<br />
Brief gekriegt, dass ich fünf Minuten sprechen<br />
kann, das ist sehr wenig. Und ich habe nachgedacht,<br />
was kann ich sagen, ich<br />
habe soviel zu sagen.<br />
Der junge Mann hat<br />
viele ähnliche Geschichten<br />
erzählt, wie<br />
ich sie mit meiner Familie<br />
auch kenne. Wir,<br />
meine Familie und ich,<br />
sind seit elf Jahren in<br />
Deutschland. Meine<br />
Tochter ist 24 Jahre<br />
alt, mein Sohn ist 16<br />
Jahre alt. Meine<br />
Tochter studiert an<br />
der Universität Hildesheim<br />
"Internationale<br />
Fachkommunikation"<br />
und mein Sohn<br />
ist in der 9. Klasse des<br />
Scharnhorst-Gymnasiums.<br />
Ich bin Elternratssprecherin<br />
<strong>für</strong> ausländische<br />
Kinder im<br />
Scharnhorstgymnasium.<br />
Ja, und wie der<br />
junge Mann sagte, kriegen<br />
wir auch immer<br />
wieder drei Monate<br />
Duldung, ohne Arbeitserlaubnis,<br />
ohne uns<br />
frei bewegen zu können<br />
in diesem Land und wir<br />
haben mehrere Male versucht,<br />
eine Aufenthaltserlaubnis<br />
zu kriegen.<br />
Wir hatten viel Hilfe, viele<br />
gute Beziehungen und deutsche<br />
Freunde, die uns helfen<br />
wollten, aber es klappte nicht.<br />
Aber wir haben uns bemüht,<br />
mein Mann und ich, haben irgendwie von unserer<br />
Sozialhilfe gespart und haben Deutschkurse mit<br />
Zertifikat bestanden. Mein Mann hat die C-Lizenz<br />
als Fußballtrainer erworben, und er hat das neun<br />
Jahre lang kostenlos gemacht und nichts gekriegt,<br />
nur geholfen. Seine Mannschaften waren die<br />
Besten.<br />
Jetzt trainiert er die Hildesheimer Frauenmannschaft,<br />
die sind Bezirks-Champion geworden und es<br />
läuft ganz gut, aber ohne irgendetwas, ohne Vertrag,<br />
ohne Geld und gar nichts. Meine Tochter studiert,<br />
sie ist im sechsten Semester, sie hat vor fünf Jahren<br />
eine Aufenthaltsbefugnis <strong>für</strong> zwei Jahre bekommen.<br />
Da haben wir uns gefreut, sie hat Gott sei Dank<br />
eine Arbeitserlaubnis gekriegt, damals. Und dann<br />
nach zwei Jahren wurde sie ihr weggenommen,<br />
obwohl sie ihr Studium behalten konnte. Sie bezahlt<br />
das selber, sie hat Aushilfejobs. Sie bekommt kein<br />
BAFÖG, gar nichts, keine Sozialhilfe, keinen Cent<br />
vom Staat. Und da haben wir auch gesagt, ok, wir<br />
wollen gar nichts vom Staat, wir können<br />
uns hier irgendwie, wenn wir eine Arbeitserlaubnis<br />
kriegen, integrieren. Meine<br />
Kinder sind bereits zu 99 % integriert.<br />
Ein <strong>Pro</strong>zent sind sie noch Armenier.<br />
Mein Sohn kann überhaupt kein armenisch,<br />
obwohl ich<br />
versuche, mit ihm ein<br />
wenig zu sprechen.<br />
Aber diese Ungewissheit,<br />
alle drei Monate<br />
<strong>zum</strong> Ausländeramt zu<br />
gehen. Ich kann nicht<br />
mehr. Ich bin zwei Jahre<br />
lang im Landeskrankenhaus<br />
in der Psychiatrie<br />
gewesen, nur<br />
aus diesem Grund. Ich<br />
war (vorher) kerngesund.<br />
Aber jetzt, wenn<br />
ich daran denke, ach,<br />
wir müssen hin, dann<br />
fängt das Zittern an.<br />
Es geht nicht, es geht<br />
nicht mehr weiter so<br />
zu leben. Und ich bitte<br />
Sie, ich war letztes Jahr<br />
auch bei einer ähnlichen<br />
Veranstaltung<br />
wie dieser, wir haben<br />
uns getroffen und dieses<br />
Jahr wieder. Wissen<br />
Sie was, ich möchte<br />
nicht, dass wir uns<br />
nächstes Jahr wieder<br />
hier treffen (Applaus).<br />
Es sei denn, wir haben<br />
unsere Aufenthalts<br />
erlaubnis und können<br />
unseren Gewinn feiern.<br />
(Applaus)<br />
22
10. Wie Flüchtlinge<br />
ins soziale Abseits gedrängt werden<br />
Yunga Malundama<br />
Meine Name ist Yunga Malundama. Ich komme aus<br />
Zaire, heute Kongo. Ich bin im April 1992 nach<br />
Deutschland gekommen und habe einen <strong>Asyl</strong>antrag<br />
gestellt, der abgelehnt worden ist.<br />
Im Jahr 1993 habe ich mich in der Volkshochschule<br />
eingeschrieben, um die deutsche Sprache zu lernen,<br />
<strong>für</strong> eine bessere Integration. Ich habe die deutsche<br />
Sprache gelernt und ein Zertifikat erhalten.<br />
Anschließend habe ich nach Arbeit gesucht. Im<br />
September 1994 habe ich eine Arbeit bekommen<br />
beim Maritim Hotel in Hannover. Ich habe einen<br />
unbefristeten Arbeitsvertrag bekommen, und ich<br />
habe acht Jahre lang gearbeitet, bis 2002.<br />
In der ganzen Zeit hatte ich immer nur eine Duldung<br />
und keine Aufenthaltsgenehmigung. Da die<br />
Arbeitserlaubnis mit dem Aufenthaltsstatus zusammenhängt,<br />
gab es oft <strong>Pro</strong>bleme mit dem Arbeitsamt.<br />
Es musste jedes Mal wieder eine Arbeitserlaubnis<br />
beantragt werden, und das hat oft <strong>Pro</strong>bleme<br />
verursacht. Des öfteren wollte das Arbeitsamt die<br />
Arbeitserlaubnis nicht erteilen. Wegen der Duldung<br />
sollte der Arbeitsplatz Deutschen oder Ausländern<br />
aus der Europäischen Union überlassen werden. Ich<br />
hatte daher immer <strong>Pro</strong>bleme, weil mein Arbeitgeber<br />
immer mit dem Arbeitsamt verhandeln musste, damit<br />
meine Arbeitserlaubnis verlängert oder erneuert<br />
wird. Jedes mal, wenn es ein <strong>Pro</strong>blem<br />
mit meiner Duldung gab, brachte das<br />
Schwierigkeiten mit meiner Arbeitserlaubnis<br />
mit sich. Das war der Grund,<br />
weshalb ich nach acht Jahren, als meine<br />
Arbeitserlaubnis nicht verlängert wurde,<br />
meine Arbeit verlor, da mein Arbeitgeber<br />
mich nicht beschäftigen<br />
konnte. Auf jeden Fall wollte mein<br />
Chef mich bei der Arbeit behalten. Er<br />
hat bei der Stadt Hildesheim gefragt, ob<br />
sie mir eine Aufenthaltserlaubnis geben<br />
könnten. Er hat auch das Arbeitsamt<br />
gebeten, mir eine Arbeitserlaubnis zu<br />
geben. Aber die Antwort war negativ.<br />
Vom Arbeitsamt wurde mir gesagt, da<br />
ich nur eine Duldung habe, kann die<br />
Arbeitserlaubnis nicht verlängert werden.<br />
Wegen all dem wurde ich krank und<br />
depressiv. Deswegen wurde ich auch<br />
schon zwei Mal im Krankenhaus<br />
behandelt. Bis heute bin ich in einer<br />
Therapie.<br />
Yunga Malundama<br />
Ich will noch hinzufügen, was ich sehr merkwürdig<br />
finde, dass jetzt, wo ich arbeitslos bin und Arbeitslosenhilfe<br />
nehmen muss, das Arbeitsamt mir droht<br />
und sagt, ich soll eine Arbeit suchen. Dabei wissen<br />
sie genau, dass ich meine Arbeit verloren habe, weil<br />
ich keine Arbeitserlaubnis bekommen habe. Und sie<br />
sind zuständig, mir eine Arbeitserlaubnis zu geben.<br />
Ich weiß nicht, wie ich ohne Arbeitserlaubnis Arbeit<br />
finden soll. Ich habe immer noch die gleiche Duldung.<br />
Die Sachbearbeiter haben die Akten und sie<br />
haben mein Kündigungsschreiben gesehen, wo<br />
deutlich steht, dass ich nicht mehr arbeiten darf,<br />
weil die Arbeitserlaubnis fehlt. Da, wo ich gearbeitet<br />
habe, hatte ich einen unbefristeten Arbeitsvertrag.<br />
Wenn ich eine richtige Arbeitserlaubnis bekomme,<br />
kann ich auch wieder arbeiten.<br />
Ich kann nicht zurück in den Kongo. Die Situation<br />
hat sich noch nicht geändert. Ich habe dort<br />
niemanden mehr, es ist Krieg und alles ist katastrophal.<br />
Ich bin in Deutschland integriert. Ich habe<br />
alles gemacht, was man machen kann. Ich habe die<br />
Sprache gelernt und dann gearbeitet. Ich habe mich<br />
gut bei den Deutschen integriert. Das ist alles was<br />
man machen kann. Ich möchte hier normal leben<br />
und arbeiten.<br />
(Applaus)<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
23
<strong>Pro</strong>bst Klaus Funke - Katholische Kirche<br />
11. Die Position der Katholischen Kirche<br />
in Niedersachsen <strong>zum</strong> <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong><br />
<strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong> Flüchtlinge<br />
<strong>Pro</strong>bst Klaus Funke<br />
Sehr geehrte Frau Beck, sehr geehrter Herr Dr.<br />
Schwarz-Schilling, meine sehr verehrten Damen<br />
und Herren,<br />
ich darf die Grüße der katholischen<br />
Bischöfe von<br />
Niedersachsen hier mit<br />
einbringen und im Namen<br />
der katholischen Kirchen,<br />
die in Niedersachsen vertreten<br />
sind, eine kurze<br />
Stellungnahme abgeben.<br />
Ich weiß, dass die persönlichen<br />
Zeugnisse der drei,<br />
die wir gerade gehört haben,<br />
sicher eine ganz andere<br />
Strahlkraft besitzen,<br />
weil sie spüren lassen, wie<br />
konkret auch das Anliegen<br />
ist, um das es geht. Trotzdem<br />
wollen auch die Kirchen<br />
zeigen, dass wir nicht<br />
nur dem Namen nach als<br />
Mittragende genannt sind,<br />
sondern dass wir uns<br />
wirklich um die Betroffenen<br />
sorgen. Nicht aus ein<br />
bisschen Nächstenliebe,<br />
sondern es ist unser Beruf,<br />
auf der Seite der Schwachen,<br />
der Armen, auf der<br />
Seite derer zu stehen, die<br />
in Not sind.<br />
bung an den unabweisbaren Mindestanforderungen<br />
ausrichten. Vielmehr müssen wir uns fragen, was<br />
theologisch und ethisch geboten ist. Und da ist ganz<br />
besonders die Familie im Blick. Ihr kommt ein besonderer<br />
Schutz zu.<br />
Dazu gehört das<br />
Recht, dass Eltern zusammenleben,<br />
ihre<br />
Kinder erziehen und<br />
Kinder in der Familie<br />
ihrer Eltern leben. Die<br />
Kirchen setzen sich<br />
darum nachdrücklich<br />
<strong>für</strong> die Sicherung der<br />
Familieneinheit und<br />
<strong>für</strong> die Familienzusammenführung<br />
ein.<br />
Diese sind gerade<br />
auch in der Gesetzgebung<br />
und in der Verwaltungspraxis<br />
zu sichern.<br />
Der 5. Internationale<br />
Kongress der<br />
Pastorale <strong>für</strong> Migranten<br />
und Flüchtlinge,<br />
der im November vergangenen<br />
Jahres in<br />
Rom stattfand, appelliert<br />
unter anderem an<br />
die Regierungen und<br />
gesetzgebenden Körperschaften,<br />
indem er<br />
formuliert:<br />
Deshalb: Auf die Frage, warum sich die Kirchen<br />
um Migranten sorgen, müssen wir antworten: Weil<br />
ihnen das von ihrem Herrn aufgegeben ist, und weil<br />
auch in diesen Menschen und in ihren Nöten Gott<br />
selbst um Dienst bittet. Darum nehmen sich die<br />
Kirchen der Fremden und Bedrängten an und treten<br />
als Anwalt und Verteidiger ihrer Rechte auf, wo<br />
es Not tut. Menschen sollen leben können, gesund<br />
werden, zu sich selbst finden, sich annehmen und<br />
Annahme erfahren. Sie sollen unter menschengerechten<br />
gesellschaftlichen und politischen Bedingungen<br />
in Freiheit leben können.<br />
Aus christlicher Sicht genügt es dabei nicht, dass<br />
sich der Schutz von Flüchtlingen und Migranten<br />
und eine dementsprechende Politik und Gesetzge-<br />
1. Die Menschenwürde und die Menschenrechte<br />
der Migranten und Flüchtlinge zu respektieren<br />
und zu schützen, unabhängig davon, ob sie legale<br />
oder illegale Einwanderer sind. Es wird dazu<br />
aufgefordert, den Terrorismus nicht als Vorwand<br />
zu benutzen, diese Rechte zu reduzieren.<br />
2. Den Kindern unter den Migranten, den Jugendlichen<br />
und den Frauen ist eine besondere Aufmerksamkeit<br />
zu widmen und es sind schwere<br />
Sanktionen im Falle ihrer Ausbeutung vorzusehen.<br />
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wir<br />
dann zur Kenntnis nehmen müssen, dass es sich bei<br />
den 26.000 in Niedersachsen <strong>geduldete</strong>n Migranten<br />
24
Christoph Dahling-Sander Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers<br />
oft um Familien mit Kindern handelt, die hier aufgewachsen<br />
oder sogar hier die Kinder geboren<br />
sind, - wir haben ja gerade schon Beispiele gehört -<br />
dann können wir mit diesem Zustand um Gottes<br />
Willen nicht zufrieden sein. (Applaus) Obwohl diese<br />
Menschen sich mit guten Gründen viele Jahre in<br />
Deutschland aufhalten, können sie in aller Regel<br />
keine regulären Aufenthaltstitel und damit auch keine<br />
Aufenthaltsverfestigung erlangen. Die Lebensplanung<br />
von "Geduldeten", die oft über Jahre hinweg<br />
einer nicht realisierbaren Ausreiseverpflichtung<br />
unterliegen, ist einer massiven Unsicherheit unterworfen.<br />
Wiederum gilt dies besonders <strong>für</strong> Familien<br />
mit Kindern im Vorschul- und Schulalter sowie <strong>für</strong><br />
Jugendliche, denen berufliche Ausbildung verschlossen<br />
ist. Eine Reihe von öffentlichen Leistungen,<br />
unter anderem auch das Kindergeld, werden<br />
Geduldeten nicht gewährt, Familiennachzug ist ausgeschlossen.<br />
Statt frühzeitig einen Integrationsprozess in Gang<br />
zu setzen und verlässliche rechtliche Rahmenbedingungen<br />
zu schaffen, wird über Jahre hinweg eine<br />
Duldung verlängert. Bei jedem Antrag auf Verlängerung<br />
der Duldung wird jedoch von den meisten<br />
zuständigen Behörden nur überprüft, ob nicht doch<br />
eine Abschiebung möglich bzw. rechtlich geboten<br />
ist. In den seltensten Fällen wird dabei über die<br />
Möglichkeit von Integrationsmaßnahmen oder gar<br />
eine Aufenthaltsverfestigung nachgedacht.<br />
Werden diese Menschen, diese Familien, diese Kinder<br />
so nicht um ihre Zukunft betrogen?<br />
Vor diesem Hintergrund ist eine Reform der rechtlichen<br />
Bestimmungen dringend geboten Ob dies<br />
das neue Zuwanderungsgesetz leisten kann, muss<br />
dahingestellt sein. Eine <strong>für</strong> die Betroffenen dringend<br />
notwendige und sowohl gesellschaftlich als<br />
auch politisch vertretbare Lösung würde eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />
darstellen, wie sie von der Kampagne<br />
"Recht auf <strong>Bleiberecht</strong> in Niedersachsen" gefordert<br />
wird und als Petition an den niedersächsischen<br />
Landtag gerichtet worden ist. Wir unterstützen<br />
diese Petition. (Applaus)<br />
12.Die Position der Konföderation Evangelischer<br />
Kirchen in Niedersachsen <strong>zum</strong> <strong>Bleiberecht</strong><br />
<strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong> Flüchtlinge<br />
Dr. Christoph Dahling Sander<br />
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
der humanitäre Schutz von Flüchtlingen und ihren<br />
Familien stellt <strong>für</strong> die Evangelischen Kirchen eine<br />
elementare Aufgabe dar.<br />
Das Evangelium befreit die Christen zu einem verantwortlichen<br />
Dienst <strong>für</strong> alle Menschen, ausnahmslos.<br />
Besonders hebt die biblische Überlieferung den<br />
humanitären Schutz von Fremden hervor. „Wenn<br />
ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht<br />
bedrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält,<br />
soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst<br />
ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde<br />
in Ägypten gewesen.“ (3. Mose 19,33f) Im Neuen<br />
Testament werden die Grenzen der Fremdheit<br />
überwunden durch das Gebot der Nächstenliebe<br />
(z.B. Lk 10,25-37).<br />
Menschenwürde und Menschenrechte gründen <strong>für</strong><br />
die Kirchen in der biblischen Botschaft. Aus der Bestimmung<br />
des Menschen als Ebenbild Gottes und<br />
der darin gründenden Würde ergeben sich die elementaren<br />
Grundlagen menschlichen Zusammenlebens.<br />
(1. Mose 1,26f) Keinem Menschen ist die<br />
Würde abzusprechen. Wenn Menschen unwürdig<br />
behandelt werden, widerspricht dies der Bestimmung<br />
Gottes. Nach christlichem Verständnis ist die<br />
Menschenwürde unantastbar, unabhängig <strong>zum</strong> Beispiel<br />
von der Herkunft, vom Geschlecht, von der<br />
Religion, dem Familienstand oder der Gesundheit<br />
jedes einzelnen Menschen.<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
25
Christoph Dahling-Sander Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers<br />
Dies korrespondiert mit den Menschenrechtserklärungen<br />
und mit den im Grundgesetz verbürgten<br />
Grundrechten. Ein Perspektivenwechsel ist hier besonders<br />
im Blick auf Flüchtlinge dringend nötig. Es<br />
ist nicht entscheidend, wer der Verfolger ist, sondern<br />
ob jemand einer Verfolgung ausgesetzt ist. Aus<br />
diesem Grund ist den Kirchen besonders wichtig,<br />
dass nach der Genfer Flüchtlingskonvention diejenigen<br />
Menschen einen Anspruch auf Schutz haben, die<br />
wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Nationalität,<br />
ihres Geschlechts, ihrer Religion, ihrer Zugehörigkeit<br />
zu einer bestimmten sozialen Gruppe<br />
oder wegen ihrer politischen Überzeugung an Leib<br />
und Leben in Freiheit bedroht sind. Die Genfer<br />
Flüchtlingskonvention muss uneingeschränkt angewendet<br />
werden. Nicht-staatliche Verfolgung muss<br />
also dringend anerkannt werden. (Dies fordern die<br />
Kirchen immer wieder ein, z.B. in der EKD-Handreichung<br />
„Zuwanderung gestalten“ vom Dezember<br />
2002, durch EKD-Ratspräsident Bischof Huber am<br />
4. März 2004 und zuletzt durch die „Liebfrauenberg-Erklärung“<br />
am 12. Mai 2004.)<br />
Humanitärer Flüchtlingsschutz ist allerdings nicht<br />
mit der bloßen Aufnahme erledigt.<br />
wenn die „Geduldeten“ schon über Jahre hier leben,<br />
ihren Beitrag <strong>zum</strong> gesellschaftlichen Leben leisten<br />
und in ihrem persönlichen Umfeld menschliche Anerkennung<br />
finden. Deshalb legen die Kirchen im<br />
aktuellen Diskussionsprozess <strong>zum</strong> Niedersächsischen<br />
Handlungsprogramm Wert darauf, dass auch<br />
„Geduldete“ in den Blick kommen und integriert<br />
werden. Ein Leben ohne sichere Zukunft und ein<br />
Leben ohne von der Politik gewollte und abgesicherte<br />
Integration ist menschenunwürdig, es ist ein<br />
Leben „draußen vor der Tür“. Deshalb sind „Kettenduldungen“<br />
von Menschen – wo immer möglich<br />
– abzuschaffen und durch einen sicheren Aufenthaltsstatus<br />
mit Zukunftsperspektiven zu ersetzen.<br />
In der Bevölkerung gibt es Angst vor Gewalt und<br />
Terror, gerade nach den Anschlägen in Istanbul und<br />
Madrid. Zugleich sorgen sich viele, dass unsere<br />
rechtsstaatlichen Regelungen missbraucht und unterwandert<br />
werden. Diese Ängste und Sorgen sind<br />
ernst zu nehmen. Es versteht sich von selbst, dass<br />
die Forderung nach einem sicheren Aufenthaltsstatus<br />
nicht <strong>für</strong> schwer straffällig gewordene Menschen<br />
gilt. Zugleich setzen die Kirchen auf die Fähigkeit<br />
aller Menschen, hier klar zu unterscheiden. Unterstellungen<br />
und Pauschalurteile schaden den Zuwanderern<br />
ebenso wie den Einheimischen; sie missachten<br />
die einzelnen Menschen. Landesbischöfin Dr.<br />
Margot Käßmann hat gestern vor der Synode unterstrichen:<br />
„Die Menschenwürde darf der Angst<br />
vor dem Terror nicht geopfert werden.“<br />
Es ist zu betonen: Zur Zuwanderung und <strong>zum</strong> humanitären<br />
Flüchtlingsschutz gibt es keine Alternative.<br />
Wer Integration ernsthaft anstrebt, muss diejenigen<br />
<strong>zum</strong> Ausgangspunkt nehmen, die sich faktisch<br />
in Deutschland aufhalten und ihnen gleiche Rechte<br />
und Lebenschancen einräumen. Faire Chancen zur<br />
Integration sind zwingend erforderlich.<br />
Bedrohte Menschen sind würdig zu behandeln.<br />
Dies erfordert, ihnen einen sicheren Aufenthaltsstatus<br />
einzuräumen, besonders den Menschen, die<br />
schon lange hier leben. Die sogenannten „Kettenduldungen“<br />
zielen immer wieder neu nur auf eine<br />
kurzfristige Duldung, <strong>zum</strong> Teil <strong>für</strong> einen Monat.<br />
Die so Geduldeten können gar nicht erst Zukunftsperspektiven<br />
entwickeln. Wir als Kirchen bedauern,<br />
dass im Niedersächsischen Handlungsprogramm<br />
zur Integration „Geduldete“ nicht berücksichtigt<br />
werden. Sie sollen demnach nicht beraten werden,<br />
nicht am gesellschaftlichen Leben teilhaben, keine<br />
Möglichkeit haben, sich frei zu bewegen, sich zu bilden<br />
und einer Arbeit nachzugehen. Dies gilt selbst,<br />
Ein besonderes Augenmerk richten die Kirchen auf<br />
die unwürdige Trennung von Familien. Der Erhalt<br />
und Schutz von Ehe und Familie hat <strong>für</strong> die Kirchen<br />
eine große Bedeutung. Nach christlicher Überzeugung<br />
ist die Familie als Keimzelle des Lebens<br />
und Zusammenlebens eine elementare Form der<br />
Schöpfung Gottes. Ehe und Familie dienen der<br />
Weitergabe des Lebens, der Weitergabe des Glaubens<br />
und dem konstruktiven Erhalt von Gesellschaft<br />
und Kultur. Diese soziale Dimension von<br />
Ehe und Familie macht sie nach christlicher Überzeugung<br />
besonders schützenswert. Dies korrespondiert<br />
mit Art. 6 des Grundgesetzes: „Ehe und Familie<br />
stehen unter dem besonderen Schutz der<br />
staatlichen Ordnung.“<br />
Die Beraterinnen und Berater der Kirchen und Diakonischen<br />
Werke fragen sich allerdings zunehmend,<br />
ob dieser grundrechtliche Schutz von Ehe und Fa-<br />
26
Ardit Rexhaj<br />
milie ausschließlich <strong>für</strong> Familien mit deutschem<br />
Pass gilt. Immer öfter wird in letzter Zeit berichtet,<br />
dass Ausländerbehörden Familien trennen, um deren<br />
Aufenthalt hier zu beenden. Mehr noch: durch<br />
die Trennung der Familien wird offenbar versucht,<br />
eine so genannte „freiwillige Ausreise“ herbeizuführen.<br />
Aus behördlicher Sicht mag dies Erfolg versprechen.<br />
Aus menschlicher Sicht stellt sich die Frage,<br />
ob dies unmenschliche Vorgehen noch im Einklang<br />
mit Artikel 6 des Grundgesetzes steht.<br />
Oft tauchen diese Menschen unter, selbst ihre medizinische<br />
Grundversorgung wird fraglich, und die<br />
in der Legalität Verbliebenen erkranken psychisch.<br />
Werden hier die Familien getrennt so ist in anderen<br />
Fällen die Zusammenführung der Familien nicht<br />
möglich. Nur drei konkrete Forderungen möchte<br />
ich nennen:<br />
1. Ein Rechtsanspruch auf Familiennachzug unter<br />
Verzicht auf Wartefristen sollte gewährt werden.<br />
2. Ehegatten sollten bereits nach zwei-jähriger Ehebestandszeit<br />
ein eigenes Aufenthaltsrechts erhalten.<br />
(vgl. EKD, Zusammenleben gestalten, 20).<br />
3. Nehmen Sie bitte auch die Perspektive der Kinder<br />
ein! Kinder brauchen ein uneingeschränktes<br />
Recht, mit ihren Eltern zusammenzuleben.<br />
Statt restriktiver Interpretationen dessen, was Ehe<br />
und Familie sei, ist eine Politik erforderlich, die Familien<br />
nicht trennt und die Chancen der zusammengeführten<br />
Familie <strong>für</strong> die Integrationsprozesse<br />
erkennt. Dazu sind unter anderem im Rahmen von<br />
Erlassen klärende Handlungsanweisungen erforderlich.<br />
Denn nur so verhilft die Politik zur gesellschaftlichen<br />
Anerkennung und Durchsetzung des<br />
besonderen Schutzes von Ehe und Familie nach<br />
dem Grundgesetz Artikel 6.<br />
Vielen Dank <strong>für</strong> Ihre Aufmerksamkeit! (Applaus)<br />
13. Als alleinreisender minderjähriger<br />
Flüchtling in Deutschalnd<br />
Ardit Rexhaj<br />
Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer,<br />
mein Name ist Ardit Rexhaj. Ich bin 17 Jahre alt<br />
und Kosovo-Albaner aus der Stadt Bujanovic, die<br />
heute serbisch-montenegrinisches Gebiet ist. Seit<br />
meiner Ankunft vor drei Jahren lebe ich hier in einer<br />
Jugendwohngruppe vom Jugendamt mit sieben<br />
anderen deutschen und ausländischen Kindern.<br />
Meine Betreuerinnen und Betreuer helfen mir dort<br />
in Schul- und Alltagsproblemen, und sie bereiten<br />
mich auf ein selbständiges Leben vor. Ich besuche<br />
gerade die 9. Klasse auf der Ada-Lessing-Schule in<br />
Bothfeld. Nächstes Jahr möchte ich die 10. Klasse<br />
und eventuell den Realschulabschluss machen.<br />
Dann will ich einen Ausbildungsplatz<br />
suchen oder eine<br />
weiterführende Schule besuchen.<br />
Ich spiele gern Schach<br />
und Fußball in meiner Freizeit<br />
und bin Mitglied eines<br />
Sportvereines.<br />
Mein Leben ist durch meinen<br />
Aufenthaltsstatus sehr<br />
eingeschränkt. Mein <strong>Asyl</strong>antrag<br />
wurde abgelehnt, und<br />
ich werde hier nur geduldet.<br />
Jedes Mal, wenn ich mit der<br />
Schule oder mit der<br />
Wohngruppe einen<br />
Ausflug außerhalb<br />
von Hannover unternehme, muss ich zur Ausländerbehörde,<br />
eine Genehmigung holen, was nicht<br />
immer so einfach und spontan machbar ist.<br />
Vor drei Jahren bin ich nach Deutschland geflüchtet,<br />
weil ich und meine Eltern Angst um mein Leben<br />
hatten, und heute noch haben. Ich habe in Kosovo<br />
schlimme und brutale Seiten des Krieges miterlebt<br />
und konnte damit nicht fertig werden. Ich<br />
werde zur Zeit auch therapeutisch betreut, um das<br />
alles zu verarbeiten. Ich wünsche mir, dass ich wieder<br />
gesund werden und meine<br />
Behandlung fortsetzen<br />
kann. Ich wünsche mir, dass<br />
ich weiterhin hier bleiben<br />
kann, um eine Perspektive <strong>für</strong><br />
die Berufsausbildung zu haben.<br />
Ich möchte meine Zukunft<br />
planen können, wie alle<br />
anderen Jugendlichen auch.<br />
Ich bedanke mich <strong>für</strong> die Gelegenheit,<br />
hier zu sprechen,<br />
und danke Ihnen <strong>für</strong>s<br />
Zuhören. (Applaus)<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
27
Anke Wagener-Nordelbische Ev. Luth. Kirche<br />
14. <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong><br />
Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge<br />
Anke Wagener<br />
Erlauben Sie mir<br />
bitte, dass ich aus<br />
der Bibel zitiere,<br />
wie ich es immer<br />
dann tue, wenn<br />
ich in Hamburg<br />
ehrenamtliche<br />
Vormünder werbe.<br />
"Und Jesus<br />
stellte ein Kind<br />
in ihre Mitte, und<br />
er sagte, wenn<br />
ihr dieses Kind<br />
aufnehmt, nehmt<br />
ihr mich auf."<br />
Ich hoffe, dieses Zitat richtig wiedergegeben zu haben.<br />
Dieser Bibeltext bewegt Ehrenamtliche häufig<br />
dazu, Vormundschaften <strong>für</strong> Flüchtlingskinder zu<br />
übernehmen.<br />
Von einigen Betroffenen haben wir heute bereits<br />
gehört, welche <strong>Pro</strong>bleme ihnen das Verwaltungshandeln<br />
bereitet. Von diesen <strong>Pro</strong>blemen sind auch<br />
viele Flüchtlingskinder betroffen. Damit Sie verstehen,<br />
wie es diesen Kindern geht, möchte ich Ihnen<br />
einige Beispiele nennen und durch diese Beispiele<br />
quasi die Kinder selbst zu Wort kommen lassen.<br />
In einem Fall, über den ich berichten will, geht es<br />
um sechs Kinder im Alter von sechs bis 17 Jahren,<br />
die der Gruppe der Roma angehören. Fast alle Geschwister<br />
sind in Hamburg geboren worden, der älteste<br />
Junge lebt seit 16 Jahren in dieser Stadt. Die<br />
Kinder sind in Pflegefamilien und Lebensgemeinschaften<br />
in Hamburg untergebracht, denn die Mutter<br />
ist untergetaucht und nicht auffindbar, und der<br />
Vater lebt in Serbien-Montenegro. Seit über einem<br />
Jahr betreibt die Ausländerbehörde die Abschiebung<br />
der Geschwister. Eines der Geschwister, ein<br />
von mir betreuter Junge, hat vor einiger Zeit gesagt,<br />
er kenne gar kein anderes Land als Deutschland, seine<br />
Heimat sei Deutschland. Dieser Junge hat in einem<br />
langen Brief an den Bundespräsidenten seine<br />
Sorgen und Hoffnungen beschrieben.<br />
Eine ehrenamtliche Vormundin und ich reisten in<br />
Begleitung eines NDR-Journalisten vor einiger Zeit<br />
nach Montenegro und bestätigten, dass die kindgerechte<br />
Versorgung der Kinder dort nicht gegeben<br />
ist. In einer Baracke von zwölf Quadratmetern, die<br />
nur aus Holz, Pappe und Stoff besteht und in der es<br />
keine Heizung und kein fließendes Wasser gibt, lebt<br />
der fast blinde, schwer diabeteskranke Vater mit drei<br />
weiteren Kindern. Erwachsene Menschen können<br />
in dieser vielleicht anderthalb Meter hohen Baracke<br />
nicht einmal aufrecht stehen. Der Mann erhält keinerlei<br />
soziale oder finanzielle Unterstützung seitens<br />
der montenegrinischen Behörden.<br />
Dennoch behauptet die Ausländerbehörde, dass er<br />
in der Lage sei, seine Kinder aufzunehmen und aufzuziehen.<br />
In einem weiteren dramatischen Fall will die Ausländerbehörde<br />
einen sechs Jahre alten Jungen abschieben,<br />
dessen Vater, Mutter und Bruder seit Jahren<br />
legal im Hamburg leben. Gerade jetzt, wo dieser<br />
Junge - in der Schule ist er Klassenbeste - beginnt,<br />
Freunde zu finden und sich zu integrieren, soll er<br />
das Land verlassen. Denn seine Familie hatte versäumt,<br />
in seinem Fall den Familiennachzug zu beantragen.<br />
Hier wird deutlich, wie inhuman und absurd<br />
die Bürokratie in vielen Fällen handelt.<br />
Schließlich will ich Ihnen noch von einem dritten<br />
Fall berichten. Es geht dabei um ein zwölf Jahre altes<br />
Mädchen aus Sierra Leone mit einem grausamen<br />
Schicksal. Das Mädchen ist von diesem Schicksal<br />
gezeichnet; als ich sie kennen lernte, hatte sie bereits<br />
das Gesicht einer 30-Jährigen. In dieser Angelegenheit<br />
bat mich ein Student vom sierraleonischen Verein<br />
in Hamburg um Hilfe, da er be<strong>für</strong>chtete, dass<br />
die Behörden das Kind <strong>für</strong> älter erklären werden, so<br />
wie es seit Jahren in Hamburg praktiziert wird.<br />
Das Mädchen zeigte mir damals eine Geburtsurkunde<br />
sowie etliche Fotos ihrer Familie. Einige dieser<br />
Fotos waren sehr grausam, auf ihnen waren Leichen<br />
zu sehen. Diese Fotos haben mich sehr bewegt<br />
und lange beschäftigt. Der Vater des Mädchens ist<br />
ein wichtiger Mann im Militär gewesen. Auf Fragen<br />
nach ihrer Herkunft reagiert das Mädchen immer<br />
noch mit Weinkrämpfen oder mit Apathie. Glücklicherweise<br />
konnte sie in die Familie der Vormundin<br />
Mama Lilo aufgenommen werden. Mit deren Hilfe<br />
blieb es ihr auch erspart, amtlich <strong>für</strong> älter erklärt<br />
und nach Ostdeutschland umverteilt zu werden.<br />
Das Mädchen lebt heute mit zwei weiteren Kinderflüchtlingen<br />
und sechs deutschen Kindern in einem<br />
Hamburger Kinderhaus. Es gelingt nicht oft, so eine<br />
Möglichkeit <strong>für</strong> Flüchtlingskinder zu erstreiten.<br />
Einige Wunden sind geheilt, aber noch immer hat<br />
dieses Mädchen Albträume. Die deutsche Sprache<br />
beherrscht sie mittlerweile perfekt. Sie besucht eine<br />
28
Anke Wagener-Nordelbische Ev. Luth. Kirche<br />
Regelschule und strebt den Hauptschulabschluß an.<br />
Eine Operation am Herzen hat sie gut überstanden.<br />
Eine weitere Operation, um die Folgen einer Genitalverstümmelung<br />
zu behandeln, steht ihr noch bevor..<br />
Noch immer ist das Mädchen nicht in der Lage,<br />
alle grausamen Erinnerungen im Detail zu schildern.<br />
Trotz ihrer grausamen Vergangenheit und ihres<br />
schweren Schicksals ist der Aufenthaltsstatus<br />
nach wie vor nicht gesichert.<br />
Das sind drei Beispiele aus Hamburg. New Yorker<br />
und Londoner Zeitungen berichteten im Herbst<br />
2003, dass Hamburg die erste europäische Stadt ist,<br />
die Kinderrechte missachtet, weil sie nämlich Kinder<br />
abschiebt. Es gibt mehrere Tausend in Deutschland<br />
lebende Kinderflüchtlinge. Ihre Zahl ist in letzter<br />
Zeit nicht mehr konkret zu bennenen, weil nur<br />
die unter Sechzehnjährigen gezählt werden. Es gibt<br />
fragwürdige Alterseinschätzungen sowie Umverteilungen<br />
aus Großstädten wie Hamburg und Berlin in<br />
andere Bundesländer. Immer mehr Kinder leben<br />
deshalb in der Illegalität, melden sich gar nicht mehr<br />
bei den Behörden und schlafen in Wohnunterkünften,<br />
wo sich teilweise zwei Kinder ein Bett teilen<br />
müssen. Diese "Kinder in der Illegalität" können<br />
nicht erfasst und unterstützt werden.<br />
Kinderflüchtlinge aus den Hauptfluchtländern verfügen<br />
regelmäßig nicht über ein Aufenthaltsrecht,<br />
da sie nur selten eine politische Einzelverfolgung im<br />
klassischen Sinne nachweisen können? Der aufenthaltsrechtliche<br />
Status beschränkt sich, soweit kein<br />
Abschiebungshindernis festgestellt werden kann,<br />
weitgehend auf die Duldung des Aufenthaltes. Das<br />
<strong>Asyl</strong>verfahren ist rechtlich nicht kindgerecht ausgestaltet,<br />
Kinder werden dem gleichen Verfahren mit<br />
den gleichen Fragen unterzogen wie erwachsene<br />
Flüchtlinge. Solche Fragen lauten beispielsweise:<br />
"Wo warst Du aktiv?", "Wann bist Du gekommen?",<br />
"Wie sah das Schiff aus, mit dem Du gekommen<br />
bist?". Kinder, die häufig noch unter dem Eindruck<br />
der Flucht und der Schrecken im Heimatland stehen,<br />
sind mit diesen Fragen meistens völlig überfordert.<br />
Eigentlich sollte es ein sinnvolles Clearingverfahren<br />
geben, in welchem die individuelle Situation jedes einzelnen<br />
Kindes zu klären ist. Gemeint ist die Suche<br />
nach kinderspezifischen Fluchtgründen. Wird jedoch<br />
lediglich eine Duldung erteilt, so erschwert das<br />
jede angemessene pädagogische Weiterversorgung<br />
von Minderjährigen. Die psychosoziale Situation<br />
der Kinder, die ungewisse Lebensplanung und die<br />
ständige Angst vor der Abschiebung sind der Auslöser<br />
<strong>für</strong> eine Flucht Minderjähriger in die Illegalität.<br />
Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht. So verlangt<br />
es unser Grundgesetz und das achte Buch des Sozialgesetzbuches,<br />
das Kinder- und Jugendhilfegesetz.<br />
Denn die minderjährigen Flüchtlinge sind in erster<br />
Linie Kinder, und sie sollten auch als solche behandelt<br />
werden. Diese Kinder haben ein Recht auf<br />
Schule, auf Ausbildung, und auf Arbeit. Die Teilnahme<br />
an Schulreisen und Gruppenausflügen stellen<br />
beispielsweise immer wieder ein <strong>Pro</strong>blem dar,<br />
selbst wenn die Reise nur von Schleswig-Holstein<br />
nach Dänemark geht. Ich könnte noch zahlreiche<br />
Beispiele nennen, die zeigen, wie stark Flüchtlingskinder<br />
benachteiligt sind. Benachteiligungen erstrecken<br />
sich auf die Förderung im Rahmen der Jugendhilfe,<br />
auf das Leben in einem Familienverbund<br />
oder in gleichwertigen Gemeinschaften, auf den<br />
Schutz tragfähiger Bindungen, auf die gesundheitliche<br />
Versorgung, auf die individuelle Förderung zu<br />
einem eigenverantwortlichen Handeln und auf<br />
Wertschätzung und Liebe.<br />
Die Kinder haben das Recht auf einen gleichberechtigten<br />
Platz in unserer Gesellschaft. Und so wie<br />
die Kinder uns heute brauchen, so braucht die Gesellschaft<br />
diese Kinder morgen.. Sie werden einmal<br />
ihren sozialen Beitrag leisten, wie es Frau Beck bereits<br />
während dieser Veranstaltung formulierte.<br />
Herr Oberbürgermeister Schmalstieg wies darauf<br />
hin, dass die Länder leer aussehen werden, wenn wir<br />
keine Kinder haben. Und die Kinder selbst brauchen<br />
einfach eine Lebensperspektive und eine Zukunft.<br />
Da<strong>für</strong> setzen wir vom "Bundesfachverband<br />
Unbegleiteter Minderjähriger Flüchtlinge" uns ein.<br />
(Applaus)<br />
Hieraus ergeben sich folgende Forderungen:<br />
Langjährig in Deutschland lebende Flüchtlingskinder<br />
müssen unbedingt ein <strong>Bleiberecht</strong> erhalten, das<br />
ihren Aufenthalt absichert und eine gleichberechtigte<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
29
Christian Schwarz-Schilling - Internationaler Streitschlichter<br />
15. Für ein <strong>Bleiberecht</strong><br />
Dr. Christian Schwarz-Schilling, Internationaler Streitschlichter<br />
<strong>für</strong> Bosnien und Herzegovina<br />
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe<br />
Freunde,<br />
zunächst möchte ich mich bedanken, dass ich hier<br />
eine Einladung bekommen habe, um hier bei diesem<br />
Hearing dabei zu sein. Es ist schön, dass man<br />
wieder das Gefühl hat, dass man ja doch unter verschiedenen<br />
Gruppen und Menschen gleiche Auffassungen<br />
wiederfindet, die so unglaublich wichtig<br />
sind, wenn wir an die Menschenrechte denken.<br />
Wenn wir an das Schicksal der Menschen außerhalb<br />
Deutschlands denken, aber auch wenn wir an das<br />
Schicksal von Menschen in der Bundesrepublik<br />
Deutschland denken. Ich möchte mich also<br />
zunächst bedanken und auch <strong>für</strong> die eindrucksvollen<br />
Beiträge, die ich bisher hören durfte. Ich konnte<br />
leider nicht pünktlich kommen, weil ich in einem<br />
Stau stand und dadurch meine Ankunft hier verspätet<br />
war.<br />
Es war im Monat Mai, also vor drei Wochen etwa,<br />
da gab es innerhalb von einer Woche zwei Fälle: Der<br />
eine Fall, eine Familie aus der Türkei, über zehn Jahre<br />
hier, die Eltern werden abgeschoben, die drei<br />
Kinder bekommen davon Wind; sie sind schon auf<br />
dem Weg zur Schule - als sie dort davon erfahren,<br />
rennen sie aus der Schule weg und tauchen unter in<br />
die Illegalität. Die Eltern - abgeschoben nach Istanbul.<br />
Eine Woche später, genau das umgekehrte Beispiel:<br />
Die Mutter, schwer krank, kann nicht abgeschoben<br />
werden, der Vater ist mit seinem Sohn auf<br />
Reisen und wurde nicht angetroffen. Aber die anderen<br />
drei Kinder waren zu Hause, morgens um sechs<br />
wurden sie aufgefordert sich fertig <strong>zum</strong>achen, teilweise<br />
sogar mit Handschellen <strong>zum</strong> Flughafen gebracht<br />
und abgeschoben.<br />
Was hier gerade auch die Vertreter der Kirchen gesagt<br />
haben, sollte uns zutiefst anrühren. Wenn wir<br />
das Wort "christlich" überhaupt noch irgendwie<br />
in den Mund nehmen wollen,<br />
dann schreit es wirklich <strong>zum</strong> Himmel, wie<br />
wir durch behördliche Erlasse Familien<br />
auseinander sprengen und wahrscheinlich<br />
<strong>für</strong> ihr ganzes weiteres Leben ins Unglück<br />
stürzen. Dass dieses in unserem Lande<br />
geschieht, immer wieder geschieht, ist eigentlich<br />
<strong>für</strong> jeden, der politisch in diesem<br />
Lande tätig ist, unerträglich. Und ich<br />
möchte mich deswegen jetzt nicht auf die<br />
religiösen Fragen beziehen, da haben die<br />
Kirchen ihr Wort gesagt und andere ihre<br />
Beiträge geliefert. Aber wenn man in der<br />
Politik ist, dann hat man ja wohl als Oberstes<br />
da<strong>für</strong> zu sorgen, dass wir ein Rechtsstaat<br />
sind und bleiben. Doch wenn der<br />
Staat selber Unglück über Familien bringt<br />
und familiäre Tragödien produziert,<br />
kommt die Frage, was ist heute ein<br />
Rechtsstaat? Ich glaube, dass die Gratwanderung,<br />
die wir hier gehen, immer<br />
komplizierter und immer fragwürdiger<br />
wird. Aber dabei können wir nicht stehen<br />
bleiben.<br />
Was heute alles gemacht wird, um irgendein<br />
abstraktes Ziel von Recht zu erreichen,<br />
kann nicht durch konkretes Unrecht<br />
geschehen (Applaus). Alle Welt und<br />
hier natürlich auch unser Staat, regen sich<br />
darüber auf, wenn Kriminelle den Schutz<br />
unseres Staates suchen und bekommen;<br />
und dieses wird als schlimmes Unrecht<br />
30
Christian Schwarz-Schilling - Internationaler Streitschlichter<br />
empfunden. Wenn sie sehen, wie in den Medien z.<br />
B. der Fall Kaplan bis zur Hysterie breitgetreten<br />
wird, dann stelle ich mir immer die Frage: Gut, da<br />
mögen ja bestimmte rechtsstaatliche Regelungen<br />
nicht vollkommen sein, sodass so einer krimineller<br />
Typ immer durchs Netz schlüpft und das tut, was er<br />
will. Richtig - so etwas muss unterbunden werden!<br />
Aber wer regt sich eigentlich auf bei den Tausenden<br />
von Menschen, die unschuldig sind und durch das<br />
Netz des Rechtsstaates fallen? (Applaus) Die nichts<br />
verbrochen haben, die nur friedlich hier mit uns leben<br />
wollen und daran gehindert werden und mit einer<br />
teilweise unmenschlichen Gewalt aus unserem<br />
Lande vertrieben werden? Nur in der allernächsten<br />
Umgebung, bei den Nachbarn, den Freunden, den<br />
Klassenkameraden, den Kollegen gibt es dann einmal<br />
einen Aufschrei der Empörung - doch bald<br />
wird alles wieder ruhig. Und die Politiker, die es eigentlich<br />
angeht, beruhigen sich ebenfalls und freuen<br />
sich, dass die lästigen Bittsteller nichts mehr von<br />
sich hören lassen - bis <strong>zum</strong> nächsten Fall. Die Gewöhnung<br />
an dieses Ritual ist wirklich besorgnis erregend.<br />
Es kann auch nicht die Entschuldigung gelten,<br />
dass Gesetze nie vollkommen sein können und<br />
dass immer wieder irgendwo Späne fallen, wo gehobelt<br />
wird. So leicht darf man das sich in der<br />
Politik nicht machen. In Wirklichkeit geht<br />
es gar nicht um individuelle Härtefälle, es<br />
geht um den "Härtefall Rechtsstaat Bundesrepublik<br />
Deutschland" in dem nämlich<br />
Gesetze gelten, die in einer völlig anderen<br />
Zeit gemacht worden sind und heute den<br />
Herausforderungen in keinster Weise gerecht<br />
werden können; oder es geht um Regelungen,<br />
wo sie schon vorausschauen können,<br />
dass sie zu einer Unzahl von schicksalmäßigen<br />
Verkettungen führen werden<br />
oder wo neue Regelungen zu Vorfällen mit<br />
Menschen führen, die auf unserem Boden<br />
mit uns zusammenleben wollen und wo es<br />
zu unendlichen Folgen von Ängsten führen<br />
wird. Das heißt also, hier liegt ein gravierender<br />
Systemfehler vor! Es ist nicht so,<br />
dass wir gute Gesetze haben, dass wir gute<br />
Verwaltungsvorschriften haben, und irgendwo<br />
haben wir etwas übersehen, sondern<br />
ein Systemfehler in der gesamten<br />
Handhabung auf diesem Gebiet ist seit geraumer<br />
Zeit deutlich sichtbar. Denn sonst<br />
könnten wir nicht Tausende solcher Fälle<br />
haben und jeden Tag irgendwo in der Bundesrepublik<br />
Deutschland werden ein/zwei<br />
neue Fälle bekannt (Applaus). Fälle, wo Eltern<br />
und Kindern oder eine ganze Familie<br />
in das Mahlwerk der Bürokratie geraten<br />
und ihres Lebens nicht mehr froh werden.<br />
ehemaliges Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.<br />
Und ich möchte ihnen sagen, es geht ja jedem<br />
so: Man ist nicht 100 % mit seiner Partei zufrieden,<br />
sondern hat hier oder da einmal mehr oder<br />
weniger großen Dissens. Entscheidend ist meines<br />
Erachtens, dass man seine Dissense benennt, begründet<br />
und zu seinen eigenen Auffassungen steht.<br />
(Applaus) (Zur Bundesintegrationsbeauftragten<br />
Marie-Luise Beck gewandt) Ich erinnere mich noch<br />
sehr gut, wie Sie, Frau Beck in der Opposition sitzend<br />
über die ganz große Katastrophe Srebrenica<br />
im Deutschen Bundestag berichtet haben. Und das<br />
war, glaube ich, noch vor dem furchtbaren Massaker,<br />
war noch in der Zeit der Eingeschlossenheit der<br />
Bevölkerung, der Flüchtlinge in dieser Stadt, wo das<br />
Wasser chemisch verunreinigt worden ist und die<br />
biologischen Grundlagen der Bevölkerung mehr<br />
und mehr zerstört worden sind. Man hörte Sie an,<br />
etwas ungläubig aber keiner hat es besonders Ernst<br />
genommen. Und dann ist alles Schlimme passiert,<br />
was man sich nur vorstellen kann. Dazu will ich<br />
noch eines sagen: Wir sprechen immer vom 11.<br />
September - das war etwas Furchtbares, darüber<br />
gibt es keinen Zweifel - aber dass dreimal so viel<br />
Menschen innerhalb von drei bis vier Tagen in Sre-<br />
Sie wundern sich vielleicht, weil ich als Mitglied<br />
der CDU hier bin (Gelächter) oder als<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
31
Christian Schwarz-Schilling - Internationaler Streitschlichter<br />
brenica systematisch umgebracht worden sind, davon<br />
weiß heute kaum einer etwas und dennoch liegt<br />
es uns viel näher, nämlich mitten in Europa und das<br />
ist auch noch passiert, weil der Westen versagt hat.<br />
In dem er die UN-Friedenszonen eingerichtet hat,<br />
die Flüchtlinge mussten ihre Waffen abgeben, weil<br />
sie sich angeblich in Sicherheit befinden, wie man<br />
ihnen sagte, und dann wurden sie wehrlos den Angreifern<br />
ausgesetzt und niedergemacht. Die so genannte<br />
Schutztruppe der UN, damals UNPRO-<br />
FOR, suchte das Weite. Es waren hier also nicht islamistische<br />
Fundametalisten, die das anrichteten,<br />
was da geschah, sondern es war die Unzuverlässigkeit<br />
der UN, Europas und des Westens insgesamt.<br />
Ist uns dies hier in Deutschland, in Europa bewusst?<br />
Ich muss Ihnen sagen, als Streitschlichter komme<br />
ich alle sechs bis acht Wochen dort hin nach<br />
Bosnien-Herzegovina und arbeite dort etwa zehn<br />
Tage, um in verschiedenen Kommunen und Kantonen<br />
die verschiedenen Parteien und Verwaltungen<br />
an einen Tisch zu bringen. Über 100 Verträge habe<br />
ich jetzt abgeschlossen, war in über 50 Gemeinden<br />
tätig. Aber jetzt war ich neulich wieder in Srebrenica<br />
und wissen Sie: wenn man dann sieht, dass da ein<br />
so genanntes UNDP-<strong>Pro</strong>gramm (United Nations<br />
Development <strong>Pro</strong>gramme) in Gang gesetzt werden<br />
sollte, um dieser Region nach dieser größten Katastrophe<br />
in Europa nach dem 2. Weltkrieg etwas zu<br />
helfen und wir zunächst von vierzig Millionen<br />
Dollar sprachen, der <strong>Pro</strong>jektumfang dann zwölf<br />
Millionen Dollar betragen hat, und dann schließlich<br />
ganze sechs Millionen zusammengekommen sind,<br />
und von den sechs Millionen dann drei Millionen<br />
bis jetzt zur Verfügung standen und wenn man dann<br />
erfährt, dass die Bundesrepublik Deutschland leider<br />
Gottes mit überhaupt nichts daran beteiligt ist, dann<br />
stellt man sich ja schon die Frage, wer muss sich hier<br />
eigentlich schämen? Diejenigen, die dort die Hölle<br />
erlebt haben oder diejenigen, die wie ich ihre Besuche<br />
machen, das Unglück sehen und aus einem<br />
Land kommen, das eigentlich anders hätte handeln<br />
müssen, damals wie heute. Ich sage das deswegen,<br />
weil im Grunde genommen das Leid sich immer<br />
weiter fortsetzt. Es ist schlimm, dass wir uns immer<br />
weiter daran gewöhnen und uns der Brutalität<br />
schon gar nicht mehr bewusst sind. Aber die Ausländerbeamten,<br />
haben sie eine Ahnung, was hier mit<br />
den Flüchtlingen vorgeht, wenn sie das Wort Srebrenica<br />
aussprechen oder in irgendein Dokument<br />
eintippen? Können sie wissen, was in diesen Menschen<br />
vorgeht?<br />
Oder ein anderes Beispiel der Unsensibilität und<br />
Unsinnigkeit: Wir reden bei der Debatte um das Zuwanderungsgesetz<br />
ständig von den notwendigen Integrationskursen<br />
und streiten uns um die Kosten,<br />
die damit zusammenhängen. Ja wozu brauchen wir<br />
eigentlich solche Kurse, wenn Flüchtlinge oder Ausländer<br />
die voll integriert sind, dann von uns wieder<br />
wegschickt werden? (Applaus) Was soll das? Kinder,<br />
die hier aufgewachsen sind, fließend Deutsch sprechen,<br />
kaum eine andere Schule in ihrem Leben gesehen<br />
haben, manchmal auch eben hier geboren<br />
sind, jetzt acht Jahre, zehn Jahre, zwölf Jahre alt<br />
sind. Ja was wollen wir denn mit Integrationskursen<br />
mehr erreichen, als was diese jungen Menschen erreicht<br />
haben? Also - wo ist hier die Glaubwürdigkeit?<br />
Wo ist hier die Logik? Wo ist hier das Verständnis<br />
dessen, was wir eigentlich wollen?<br />
Und es ist ja auch nicht so, dass wir hier vor Kinderfülle<br />
bersten und nicht mehr wissen, wo wir sie<br />
alle unterbringen können. Wir sollten froh sein,<br />
wenn wir noch ein paar, in intakten Familien aufgewachsene,<br />
vernünftige Menschen hier haben, die<br />
sich selbst bewiesen haben, dass sie sich integrieren<br />
können und friedliche Bürger dieses Landes werden<br />
wollen (Applaus).<br />
In diesem Sinne habe ich mich bemüht, wo immer<br />
ich konnte, tätig zu sein. Ich habe damals im Jahre<br />
2000, zusammen mit Parteien des Deutschen Bundestages<br />
einen Beschluss initiiert, der <strong>zum</strong>indest <strong>für</strong><br />
die damaligen Verhältnisse die wirkliche <strong>Pro</strong>bleme<br />
angesprochen und sowohl die Bundesregierung als<br />
auch vor allem die Länder gebeten hat, auf die humanitären<br />
Gesichtspunkte und Belange bei Rückführungen<br />
von Flüchtlingen zu achten und zu respektieren.<br />
Und dabei wurde dann im Einzelnen<br />
aufgezählt, wer eben nicht "zurückgeführt" werden<br />
soll, um dieses merkwürdige Wort zu gebrauchen,<br />
sondern wer ein <strong>Bleiberecht</strong> erhalten sollte. Und da<br />
sind eine ganze Menge differenzierte Kategorien<br />
genannt worden, welche in einem Rechtstaat, der<br />
die Würde des Menschen achtet, wie es im Artikel 1<br />
unseres Grundgesetzes heißt, würdig und angemessen<br />
gewesen wären.<br />
Hätte man das aufgegriffen und hätte man das von<br />
den damaligen Fall Bosnien-Herzegovina auf weitere,<br />
gleich gelagerte Fälle länger hier lebender Flüchtlinge<br />
übertragen, dann hätten wir mindestens 80%<br />
bis 90% derjenigen, die heute in diese katastrophale<br />
Lage der Beendigung von Duldungen hineingekommen<br />
sind, nicht als tragische Fälle auf unseren<br />
Schreibtischen. Und dann hätte man noch von Härtefällen<br />
sprechen können, wenn die letzten zehn<br />
oder fünfzehn <strong>Pro</strong>zent nicht gelöst werden können,<br />
weil man an etwas nicht gedacht hat, weil man eine<br />
Kategorie vergessen hat, weil es irgendeine menschliche<br />
Situation gibt, die man als Gesetzgeber oder<br />
Verordnungsgeber nicht voraussehen kann. Dann<br />
könnte man zu Recht von "Härtefällen" sprechen.<br />
Ich hoffe ja immer noch, dass das zu einem Kompromiss<br />
kommt. Ich war auch einer derjenigen, der<br />
bei dem Zuwanderungsgesetz seine Stimme dem<br />
Regierungsentwurf gegeben hat, weil ich der Meinung<br />
war, dass, auch wenn dieses Gesetz nicht voll-<br />
32
Christian Schwarz-Schilling - Internationaler Streitschlichter<br />
kommen ist, es in jedem Falle immer noch gerechter<br />
ist, als die Zustände, die im Moment herrschen.<br />
Aus dem Grunde war es meines Erachtens auch eine<br />
Pflicht desjenigen, der diese Dinge aus eigener<br />
Erfahrung wirklich kennt, dem seine Stimme zu geben.<br />
Jetzt reden wir seit etwa vier, fünf Jahren von Veränderungen,<br />
und wir haben sie immer noch nicht<br />
erreicht. Politik geht ja heute langsam voran, aber so<br />
langsam wie beim Zuwanderungsgesetz, ich muss<br />
schon sagen, solche Gesetzgebungswerke gibt es eigentlich<br />
kaum. Zumal es eben offensichtlich ist,<br />
dass hier durch bewusste Politisierung eine so große<br />
Meinungsverschiedenheit in unserer Gesellschaft<br />
herrscht, meistens durch Fehlinformation bzw.<br />
Nichtinformation und durch eine falsche Auffassung<br />
über das, was in unserem Land geschieht und<br />
was Menschenwürde bedeutet. Dass die Menschenwürde<br />
eben nicht gebunden ist an deutsche Staatsbürgerschaft,<br />
und dass sie gültig ist <strong>für</strong> alle diejenigen,<br />
die auf unserem Boden leben. Und so hat es<br />
das Grundgesetz auch formuliert und vorgesehen,<br />
ungeachtet ethnischen, staatsbürgerlichen oder religiösen<br />
Zugehörigkeiten.<br />
Ich muss Ihnen allerdings eines sagen, und das<br />
macht mich sehr besorgt: In dem Moment, wo ein<br />
Rechtsstaat, der bekanntermaßen aus drei Gewalten<br />
besteht, Legislative, also der Gesetzgeber, Exekutive,<br />
die Verwaltung oder die Regierung und Judikative,<br />
das Rechtswesen, Arm in Arm in eine Richtung<br />
marschiert und die eigentliche Aufgabe der gegenseitigen<br />
Kontrolle nicht mehr wahrnimmt, da muss<br />
man sich die Frage stellen, was ist hier überhaupt<br />
passiert und was könnte passieren, wenn es so weitergeht?<br />
Ich muss Ihnen sagen, dass mich das beunruhigt,<br />
was z. B. durch die anonymen Konferenzen<br />
der Innenminister beschlossen wird und ohne wirkliche<br />
Kontrollen - denn wer kontrolliert denn diese<br />
Beschlüsse - so etwas ist in unserer Verfassung jedenfalls<br />
nicht vorgesehen. Wir erleben es jetzt dann<br />
und wann einmal bei der Kultusministerkonferenz,<br />
dass Eltern sagen, ja was ist das denn <strong>für</strong> ein Unsinn,<br />
der da beschlossen worden ist. Es ist aber kein<br />
Parlament da, was diese Beschlüsse jedes Mal kontrollierend<br />
begleitet, ändert oder kritisiert. Nein,<br />
wenn es eine Konferenz der entsprechenden Minister<br />
gibt, die alle zu einer Meinung gekommen sind,<br />
dann ist das sakrosant und richtig und keiner wagt<br />
mehr, in irgendeinem Parlament dazu irgendetwas<br />
noch zu sagen. Wenn es eine Rechtschreibreform<br />
gibt, da werden dann plötzlich ausgedehnte Diskussionen<br />
geführt, weil man merkt, dass man jahrelang<br />
die Entwicklung nicht zur Kenntnis genommen hat<br />
und spürt, dass die Weisheit hier auch nicht mit Löffeln<br />
gegessen wurde. Ähnlich bei der Innenministerkonferenz:<br />
Hier werden Regelungen getroffen,<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
33
Christian Schwarz-Schilling - Internationaler Streitschlichter<br />
die jeweils den ganzen Menschen betreffen, die<br />
große Gruppen von Menschen betreffen, die aber<br />
nur von einem Segment der Politik, nämlich der Innenpolitik,<br />
ausformuliert und bestückt werden. Alle<br />
anderen Gesichtspunkte, die mit dem Menschen etwas<br />
zu tun haben, bleiben außen vor, weil es nur eine<br />
Gruppe von Menschen ist, nämlich die Innnenpolitiker,<br />
die hier in kollegialer Solidarität übereinstimmend<br />
ihre Entscheidungen treffen. Das Gesamtparlament<br />
ist in der Praxis ausgeblendet. Wo<br />
sind die Innenminister, die zur Konferenz kommen<br />
und sagen: "Also liebe Leute, jetzt habe ich hier wieder<br />
drei Fälle auf dem Tisch liegen, die mit unserer<br />
jetzigen Regelung einfach nicht lösbar sind, deswegen<br />
sage ich, hier müssen dringend Änderungen<br />
eintreten." Stattdessen sagt dieser Innenminister zu<br />
seinen Beamten - sofern er die Unsinnigkeit der<br />
strikten Anwendung vorgesehener Regelungen<br />
sieht: " Leute, macht diesen Fall jetzt nicht so Aufsehen<br />
erregend, vielleicht<br />
können wir dadurch, dass<br />
wir den Fall erst einmal<br />
wieder nach unten in den<br />
Aktenstoß packen die<br />
nächsten Monate darüber<br />
Ruhe bewahren - vielleicht<br />
gibt´s ja später mal ´ne Regelung,<br />
wir verhandeln ja<br />
noch weiter, sodass wir diese<br />
Frage jetzt nicht aufgreifen<br />
sollten."<br />
Für ein in Ordnung befindliches<br />
Rechtswesen eine<br />
merkwürdige Situation!<br />
Oder wenn Ihnen dann ein<br />
anderer Innenminister sagt,<br />
"Ja, also, was wollen Sie<br />
denn eigentlich, wenn Sie<br />
wirklich einen schwierigen<br />
Fall haben, dann melden<br />
Sie sich doch mal bei mir,<br />
ich werde dann sehen, was<br />
wir in der Sache tun können<br />
und wie wir eine Regelung<br />
finden können, die<br />
das <strong>Pro</strong>blem aus der Welt schafft". Ja wo oder in<br />
welchem Land leben wir eigentlich? (Applaus), dass<br />
man mit guten Beziehungen die Sache weiter nach<br />
vorne bringt? Das ist nicht der Staat, den wir wollen!<br />
Wir wollen, dass jeder gleiches Recht hat, vor einem<br />
legal verankerten Staat. Und was machen die<br />
Petitionsausschüsse? Was machen die Innenausschüsse?<br />
Wer hat sich wirklich mit diesen Fragen beschäftigt?<br />
Es kann doch nicht wahr sein, dass diese<br />
Fülle von Fällen bei den Ausschüssen kollektiv immer<br />
gleich negativ verabschiedet werden und jeweils<br />
immer nur eine entsprechende Empfehlung von<br />
dem gleichen Minister kommt, dessen Behörde entschieden<br />
hat und dessen Behörde die dazu gehörige<br />
Verordnung ausgearbeitet hat! Meine Damen und<br />
Herren, ich glaube hier ist ein grundsätzliches <strong>Pro</strong>blem,<br />
und wenn wir die <strong>Pro</strong>blematik nicht in dieser<br />
Frage, wo es eigentlich offensichtlich wird, aufgreifen,<br />
könnte es in anderen, komplexeren Fragen<br />
noch viel gefährlicher werden. (Applaus)<br />
Meine Damen und Herren, ich habe mich damals,<br />
vor einigen Monaten dieser Kampagne von <strong>Pro</strong><br />
<strong>Asyl</strong> "Wer lange hier lebt muss bleiben dürfen" angeschlossen,<br />
so stark ich konnte. Ich habe viele <strong>Pro</strong>minente<br />
angeschrieben, ich habe teilweise befriedigende,<br />
meistens aber keine befriedigenden Antworten<br />
bekommen. Und man merkt natürlich immer<br />
schon, wo die aktenmäßigen Versatzstücke benutzt<br />
werden, wo also längst ausgediente Argumente<br />
dann jeweils von den Referenten zusammengestellt<br />
werden. Und dann macht man sich so seine Gedanken,<br />
wer wie seine Briefe<br />
schreibt und beantwortet.<br />
Ich hoffe wirklich, dass wir<br />
im Zuwanderungsgesetz<br />
auch nach meinem Gesamteindruck<br />
der Antworten<br />
zu einem Kompromiss<br />
kommen, obwohl dieser<br />
Kompromiss, wie man ja<br />
schon heute sehen kann,<br />
weitere Härtefälle produzieren<br />
wird - nicht nur andere<br />
beseitigen, sondern<br />
eben neue wieder produzieren<br />
wird. Wo Dinge zu<br />
eingegrenzt und restriktiv<br />
festgelegt werden, wo zeitliche<br />
Grenzen ohne die<br />
Praxis des Lebens eingezogen<br />
werden, wo man jetzt<br />
schon sieht, dass die Kompromisslinien<br />
sich in diese<br />
Richtung bewegen, da weiß<br />
man schon jetzt, dass es<br />
nicht funktionieren wird,<br />
<strong>zum</strong>indestens nicht in dem<br />
Umfang, wie es funktionieren<br />
könnte. Z. Bsp. wenn ein Mensch, der hier jahrelang<br />
gelebt hat, der seine Arbeitsstelle hat und der<br />
von seinem Arbeitgeber durch Zertifikat besonders<br />
gelobt wird, bei der Vorsprache beim Arbeits- oder<br />
Ausländeramt zu hören bekommt: "Ja, wo ist denn<br />
das "besondere öffentliche Interesse", dass Sie hier<br />
weiter leben und arbeiten müssen." Wenn diese Formulierung<br />
nun dahin abgeändert wird, dass man das<br />
Wort "besonders" streicht und nur noch das "öffentliche<br />
Interesse" als notwendig anerkennen will,<br />
dann weiß ich nicht, worin hier ein großer Unterschied<br />
besteht, denn die Tatsache, dass friedliebende<br />
Menschen, die längere Zeit hier sind auch<br />
34
Christian Schwarz-Schilling - Internationaler Streitschlichter<br />
tatsächlich hier bleiben sollen, habe ich als ein "öffentliches<br />
Interesse" noch nicht formuliert gehört.<br />
Wenn dies unser Staatsverständnis sein sollte, nehme<br />
ich alles zurück. Bei den entsprechenden Staatsbeamten<br />
habe ich das jedenfalls noch nicht in der<br />
Weise interpretiert gehört.<br />
Wenn ich <strong>zum</strong> Arbeitsamt gegangen bin oder zu einer<br />
Ausländerbehörde, dann war das immer die Frage,<br />
ja wo ist denn hier das "öffentliche Interesse",<br />
dass dieser Mann jetzt hier bleiben muss. Wir werden<br />
sehen, was dieser Unterschied bei der Behörde<br />
bedeuten wird. Es geht in jedem Falle meistens<br />
nicht um den Menschen, sondern es ging dann darum,<br />
ob in der Branche besondere Interessen <strong>für</strong> den<br />
Staat herrschen, wie viele Leute arbeitslos sind, wie<br />
viele Leute vielleicht auch in dieser Branche arbeitslos<br />
sind. Und so wurden, wie ich es erwähnt habe,<br />
die Argumente <strong>für</strong> diesen vor uns stehenden Menschen<br />
durch statistische Fakten zugeschüttet und<br />
die überlegene Antwort der Behörde war immer die<br />
Statistik, die natürlich so anonym ist, dass man jeden<br />
Menschen damit psychisch erschlagen kann.<br />
Von daher gesehen, habe ich große Zweifel, dass z.<br />
Bsp. eine solche Begriffsveränderung, die in dem<br />
neuen Zuwanderungsgesetz eingeführt werden soll,<br />
wirklich eine Änderung in den Entscheidungsparametern<br />
bewirken wird. Nein, wir müssen wieder das<br />
in den Mittelpunkt stellen, was das Grundgesetz in<br />
den Mittelpunkt gerückt hat, dass die Person das<br />
oberste Kriterium in unserem Staat ist. Haben wir<br />
denn vergessen, dass der Unterschied von der Weimarer<br />
Republik zur Bundesrepublik der ist, dass in<br />
der Weimarer Verfassung der Ausgangspunkt aller<br />
weiteren Gesetze der Staat war, währenddessen in<br />
der Bundesrepublik Deutschland das Grundgesetz<br />
seinen Ausgangspunkt bei der Person und seiner<br />
Würde hat und der Staat erst dahinter kommt. Haben<br />
wir in unserem Bewusstsein überhaupt begriffen,<br />
was die Väter und Mütter des Grundgesetzes,<br />
die damals nach der Katastrophe des nationalsozialistischen<br />
Staates beraten haben, sich überhaupt dabei<br />
gedacht haben? Das war sehr bewusst so gemacht<br />
worden und wir müssen das schnellstens<br />
nachvollziehen, denn sonst werden wir den Fährnissen,<br />
vor denen wir stehen, nicht gewachsen sein.<br />
Ich kriege manchmal eine Gänsehaut, wenn ich sehe,<br />
was heute aufgrund der Terrorgefahr an rechtsstaatlichen<br />
Barrieren einfach weggeräumt wird<br />
(Applaus).<br />
Und jetzt komme ich zurück auf das, was Sie vorhin<br />
gesagt haben. (Zu Frau Beck gewandt) Wenn Sie<br />
etwas Geschichte studiert haben, dann sehen Sie,<br />
wie unmerklich Errungenschaften der Menschheit<br />
und der Kultur, wenn sie nicht bewusst und präsent<br />
in den Köpfen sind, wieder vergessen werden. Und<br />
eines Tages werden wir konfrontiert mit Zuständen,<br />
von denen wir überhaupt nicht <strong>für</strong> möglich gehalten<br />
haben, dass sie jemals wieder eintreten können. Und<br />
aus diesem Grunde rufe ich Ihnen allen zu: "Sie<br />
kämpfen hier eigentlich, auch unsere ausländischen<br />
Freunde, nicht <strong>für</strong> sich, Sie kämpfen <strong>für</strong> die Würde<br />
hier in unserem Land. Sie kämpfen <strong>für</strong> das höchste<br />
Recht in unserem Staat Bundesrepublik Deutschland."<br />
(Applaus)<br />
Dass dieser Staat die Fährnisse der Zukunft besteht,<br />
dass er die entsprechenden Parameter des Rechtstaates<br />
immer wieder in die Mitte rückt. Und es<br />
muss immer wieder nachjustiert werden, weil der<br />
Mensch so wie die Geschichte und die Völker sich<br />
jeden Tag verändern und neue Herausforderungen<br />
und auch neue Antworten brauchen. Dies gilt auch<br />
<strong>für</strong> die gesetzlichen Rahmenbedingungen, in denen<br />
wir hier alle leben und leben wollen, die natürlich<br />
entsprechend neu justiert werden müssen.<br />
Der große Völkerrechtslehrer, der eigentlich <strong>zum</strong><br />
ersten Mal über den Frieden der Völker ein großes<br />
Werk geschrieben hat, Hugo Grotius, im 16. Jahrhundert,<br />
er hat gesagt, “man muss mit allen seinen<br />
Kräften an dem Tag, in dem Jahrhundert, in dem man<br />
lebt, mit allen seinen Kräften gegen das Herabfließen<br />
der Dinge ins Schlechtere stemmen, wenn man den<br />
Zustand, den man einmal erreicht hat, erhalten will”.<br />
Das vergessen wir. Es ist wirklich so, dass, wenn wir<br />
nicht aufpassen, auch das wieder verloren geht, was<br />
frühere Generationen mühsam erreicht haben. Gerade,<br />
wenn wir jetzt diese Feiern von der Normandie<br />
sehen, (Anmerkung: Dr. Schwarz-Schilling spielt<br />
auf 60 Jahre D-Day an) wo Menschen mit ihrem<br />
Leben bezahlt haben und zwar Tausende, Zigtausende,<br />
um unseren Kontinent zu befreien. Die Befreiung<br />
von der Diktatur zur Demokratie und <strong>zum</strong><br />
Rechtsstaat hin, wenn das nicht fest in unseren<br />
Köpfen ist, dass das <strong>für</strong> jede Generation eine neue<br />
Aufgabe ist, dann könnten wir unsere Errungenschaften<br />
wieder verlieren. Und hier steht das Ausländerrecht,<br />
wie wir es ja bezeichnen, als ein ganz<br />
wichtiger Bestandteil rechtsstaatlicher Neuentwicklung<br />
vor uns, die absolut erforderlich ist. Und deswegen<br />
wäre es eine Schande, wenn wir in dieser<br />
Zeit, in der wir heute leben, angesichts der Fälle, die<br />
jedem, der nur seine Augen aufmacht, vor Augen<br />
stehen, sagen, er wüsste es nicht, was hier los ist.<br />
Wir wissen es alle und wir wissen es genau, wenn<br />
wir uns darum bemühen. Wir nehmen es nur nicht<br />
ernst genug. Und aus diesem Grunde rufen Sie es so<br />
laut wie Sie können weiter heraus, und seien Sie<br />
sicher, es gibt in allen Parteien Menschen, die hören,<br />
die sehen, die dem zustimmen und die den Kampf<br />
dann vielleicht ermutigter als bisher, wieder aufnehmen.<br />
Ich danke Ihnen (Applaus).<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
35
Ulrike Grund Mobile Beratung <strong>für</strong> Opfer rechtsextremer Gewalt<br />
16. Verantwortung <strong>für</strong> die Opfer<br />
rassistischer Gewalt<br />
Ulrike Grund, Mobile Beratung <strong>für</strong> Opfer rechtsextremer Gewalt<br />
in Sachsen-Anhalt<br />
Guten Tag!<br />
In unserer Beratungsstelle in Sachsen-Anhalt beraten<br />
und unterstützen wir auch Betroffene von rassistischer<br />
und minderheitenfeindlicher Gewalt. Dabei<br />
handelt es sich um eine Personengruppe, die erstaunlicherweise<br />
recht selten im Zusammenhang<br />
mit der Diskussion um das <strong>Bleiberecht</strong> erwähnt<br />
wird. In den meisten Fällen ist Rassismus das<br />
grundlegende Motiv minderheitenfeindlicher Gewalt.<br />
Es existieren Zahlen aus verschiedenen Beratungsstellen<br />
in den neuen Bundesländern, die - wie<br />
unsere Beratungsstelle - teilweise von der Bundesinitiative<br />
"Civitas" gefördert werden, denen zufolge<br />
ein sehr hoher Anteil von ungefähr zwei Drittel der<br />
von rassistischer Gewalt Betroffenen Flüchtlinge<br />
und MigrantInnen sind. Daneben gibt es andere<br />
Opfergruppen, so beispielweise Angehörige alternativer<br />
Jugendkulturen, Behinderte sowie Angehörige<br />
anderer Minderheiten.<br />
Diejenigen, die sich an Beratungsstellen wenden<br />
oder von Beratungsstellen aufgesucht werden, stellen<br />
dabei keineswegs die Gesamtzahl der von rassistischer<br />
und rechtsextremer Gewalt betroffenen<br />
Menschen dar. Die Dunkelziffer, so wird vermutet,<br />
ist hoch und von vielen Fällen erfahren wir nicht.<br />
Rassistische Gewalt trifft Menschen dann besonders<br />
schwer, wenn, wie wir heute mehrfach an Beispielen<br />
gehört haben, ihre Lebenssituation und ihre<br />
Aufenthaltssituation in der Bundesrepublik nicht sicher<br />
ist. Zu der allgemein schwierigen Lebenssituation,<br />
die aus den fehlenden sozialen Bindungen und<br />
Kontakten sowie aus der ungewissen Zukunftsperspektive<br />
resultieren, treten dann noch die physischen<br />
und psychischen Folgen der Gewalttat. Es ist<br />
bekannt, dass MigrantInnen und Flüchtlinge ganz<br />
häufig schon zuvor in ihren Heimatländern von<br />
traumatischen Erlebnissen betroffen waren. Die<br />
daraus resultierenden Ängste und psychischen Leiden<br />
potenzieren sich, wenn die Betroffenen auch<br />
hier wieder zu Opfern von Gewalttaten, in diesem<br />
Fall zu Opfern rassistischer Gewalt, werden.<br />
Um ein deutliches politisches Signal gegen rassistische<br />
Gewalt zu setzen, fordern wir seitens der gesamten<br />
Arbeitsgemeinschaft dieser Beratungsprojekte<br />
in Deutschland (agora) ein uneingeschränktes,<br />
dauerhaftes <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> die Opfer rassistischer<br />
Gewalt. Dieses muss grundsätzlich gewährleistet<br />
werden, unabhängig von den Folgen des Angriffs,<br />
und darf an keine weiteren Voraussetzungen geknüpft<br />
sein.<br />
Das ist unsere Hauptforderung. Dieser Forderung<br />
nach einem dauerhaften Bleiberrecht liegen drei wesentliche<br />
Sachverhalte zugrunde:<br />
1. Die Gewährung eines uneingeschränkten <strong>Bleiberecht</strong>s<br />
würde sowohl den Opfern als auch ihrem<br />
sozialen Umfeld zeigen, dass die Gesellschaft die<br />
Verantwortung <strong>für</strong> das übernimmt, was in diesem<br />
Land geschieht. Rassistische Angriffe sollen den<br />
Opfern <strong>zum</strong>eist die Daseinsberechtigung, oder<br />
doch <strong>zum</strong>indest das Aufenthaltsrecht in diesem<br />
Land absprechen. Der aus solchen Angriffen resultierende<br />
Schaden ist jedoch nicht ausschließlich<br />
auf physische und psychische Folgen beim<br />
Opfer beschränkt. Vielmehr verstehen die Opfer<br />
und ihr Umfeld genau, dass der Angriff nicht<br />
dieser einzelnen Person gilt, sondern auf eine bestimmte<br />
Gruppe von Menschen zielt. In der Folge<br />
wirkt sich ein rassistischer Angriff in Form<br />
von Angst, Einschüchterung, Einschränkung der<br />
Bewegungsfreiheit und Desintegration nicht nur<br />
auf das einzelne Opfer aus, sondern auf das gesamte<br />
soziale Umfeld, in dem die betroffene Person<br />
lebt. Durch die Gewährung eines <strong>Bleiberecht</strong>s<br />
werden sowohl die Betroffenen als auch<br />
das soziale Umfeld erfahren, dass sie nicht sich<br />
selbst überlassen bleiben und allein gelassen werden,<br />
sondern eine deutliche gesellschaftliche Unterstützung<br />
erhalten.<br />
36
Samir Asanovic<br />
2. Es gilt, gegenüber den Tätern und der gesamten<br />
Gesellschaft ein politisches Signal zu setzen. Die<br />
Täter sprechen, wie ich bereits betonte, den Opfern<br />
das Recht ab, in der Bundesrepublik<br />
Deutschland zu leben und glauben, durch ihre<br />
Tat einem allgemeinen gesellschaftlichen Grundkonsens<br />
Ausdruck zu verleihen. Durch die Gewährung<br />
eines <strong>Bleiberecht</strong>s allerdings wird die<br />
Wirkung des Angriffs gebrochen und ins Gegenteil<br />
verkehrt. Durch das <strong>Bleiberecht</strong> wird den Tätern<br />
schlichtweg gezeigt, dass ihre Handlung<br />
nicht akzeptiert wird und sie damit keinen Erfolg<br />
haben, sondern sogar das Gegenteil erreichen.<br />
Zudem signalisiert ein <strong>Bleiberecht</strong> den Opfern<br />
rassistischer Angriffe, das die Gesellschaft Verantwortung<br />
auch <strong>für</strong> die Folgen politischen und<br />
gesellschaftlichen Versagens übernimmt, denn<br />
rassistische Gewalt ist nicht zuletzt eine Folge<br />
dieses Versagens. Wenn dieses Eingeständnis in<br />
der Öffentlichkeit stärker thematisiert würde, wäre<br />
das auch eine Art der Anerkennung jener Menschen,<br />
denen diese Gewalt angetan wird.<br />
3. Der dritte Aspekt betont die humanitären Verpflichtungen<br />
unserer Gesellschaft. Menschen mit<br />
einem ungesichertem Aufenthaltsstatus befinden<br />
sich regelmäßig in einer sehr kritischen Lebenssituation.<br />
Oft ist ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt,<br />
sie dürfen nicht arbeiten, es fehlt an sozialen<br />
Kontakten und sie haben eine völlig ungewisse<br />
Zukunftsperspektive. Aus diesem Grund<br />
entfaltet ein rassistischer Angriff sehr viel einschneidendere<br />
Wirkungen bei dieser speziellen<br />
Personengruppe als bei anderen Opfergruppen.<br />
Und vor diesem Hintergrund schafft die Gewährung<br />
eines <strong>Bleiberecht</strong>s zusätzliche Sicherheit<br />
und Perspektiven, die es ermöglichen können, die<br />
erlittenen Verletzungen besser zu verarbeiten.<br />
Die Folgen einer psychischen Gewalttat bestehen<br />
nicht allein in körperlichen, sondern auch in psychischen<br />
Verletzungen. Viele der hier Anwesenden<br />
wissen, wie schwierig es ist, traumatische Erlebnisse<br />
mittels <strong>langjährig</strong>er Therapien soweit bewältigen zu<br />
können, um ein menschenwürdiges Leben zu<br />
führen. Ein Leben in Sicherheit ist da<strong>für</strong> die<br />
wesentliche Voraussetzung. Mit diesen Worten werde<br />
ich meinen kurzen Beitrag beenden. Ich bedanke<br />
mich <strong>für</strong> ihr offenes Ohr und hoffe, dass Sie im<br />
Rahmen Ihrer <strong>Bleiberecht</strong>skampagne auch die<br />
Opfer rassistischer Gewalt berücksichtigen.<br />
(Applaus)<br />
17. "Diese Gesetze sind sind gefühllos!"<br />
Samir Asanovic<br />
Schönen guten Tag,<br />
mein Name ist Samir Asanovic.<br />
Ich bin im Alter von siebeneinhalb<br />
Jahren mit meiner<br />
Familie nach Deutschland<br />
gekommen und gehe<br />
heute in die zweijährige Wirtschaftsschule,<br />
kaufmännischer<br />
Bereich. Ich wollte auf<br />
jeden Fall meine Zukunft hier aufbauen. Das<br />
geht halt leider nicht mehr, da ich jetzt am 15.<br />
Juli abgeschoben werde. Meine Zukunft ist jetzt<br />
kaputtgegangen, und ich kann leider nichts mehr<br />
dagegen machen. Wenn ich jetzt da unten in Jugoslawien<br />
lande, sehe ich keine Perspektive und<br />
keine Zukunft mehr, ich beherrsche noch nicht<br />
einmal die Sprache. Meine Familie ist durch die<br />
Abschiebungsdrohung krank geworden und musste<br />
psychisch betreut werden, das finde ich grausam.<br />
Als die Polizei mich abgeholt hat, haben sie mich<br />
zuerst ins Gefängnis gebracht. Ich hatte mir vorgenommen,<br />
nie in meinem ganzen Leben im Gefängnis<br />
zu landen. Aber es ist doch passiert, und das war<br />
sehr schlimm, es war der letzte Horror <strong>für</strong> mich.<br />
Dieses Gesetz ist ein<br />
Gesetz ohne Gefühle.<br />
Sorry, aber das<br />
Gesetz ist <strong>für</strong> mich<br />
kein Gesetz, es ist <strong>für</strong><br />
mich einfach eine<br />
Misshandlung von<br />
Menschen, so sage ich mal,<br />
und das finde ich nicht gut.<br />
Meine Zukunft, wie gesagt,<br />
die ist sowieso - Entschuldigung,<br />
wenn ich das sagen<br />
muss - "am Arsch" jetzt. Ich<br />
bin seit zwölfeinhalb Jahren<br />
hier in Deutschland, ich bin<br />
hier aufgewachsen und ich<br />
kriege noch nicht einmal die<br />
Möglichkeit, meine Zukunft<br />
hier aufzubauen. Das ist eine Frechheit! Was soll ich<br />
dazu sagen (?), ich hoffe die Politiker hören dies und<br />
halten ihre Ohren offen. Ich hoffe, die ändern noch<br />
etwas, und ich hoffe, das Gesetz existiert bald nicht<br />
mehr. Ich hoffe, das Gesetz wird endlich einmal<br />
davongehen. So, das war's. (Applaus)<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
37
Lothar Flachsbart - <strong>Asyl</strong>beratung von amnesty international in Hannover<br />
18. Das Schicksal der Familie Kisivu<br />
Lothar Flachsbart<br />
Mein Name ist Lothar Flachsbart, ich arbeite bei<br />
amnesty international Hannover in der <strong>Asyl</strong>beratung.<br />
Die Familie Kisiwu kann heute nicht hier sein,<br />
deswegen möchte ich stellvertretend die Erlebnisse<br />
schildern, mit einer, Gott sei Dank, negativ endenden<br />
Abschiebung. Dieser Bericht, den ich hier gebe,<br />
ist einem Petitionsantrag entnommen, den die Anwältin<br />
dieser Familie an den Niedersächsischen<br />
Landtag gestellt hat. Darüber ist allerdings bis heute<br />
noch nicht entschieden worden, wie<br />
mir die Rechtsanwältin bestätigt hat.<br />
Bei der aus der Demokratischen Republik<br />
Kongo, ehemals Zaire, kommenden<br />
Familie Kisiwu handelt sich<br />
um Freddy Ndungidi Kisiwu, 38 Jahre<br />
alt; seine Ehefrau Tschianana Nguya,<br />
31 Jahre alt; um den Sohn Fabrice, er<br />
ist jetzt 15 Jahre alt, um die Tochter<br />
Josephat, sie ist zehn Jahre alt sowie<br />
um Priscilla, sie ist zwei Jahre alt.<br />
Frau und Herr Kisiwu leben seit fast zehn Jahren in<br />
Deutschland. Nach der Einreise in unser Land haben<br />
sie <strong>Asyl</strong> beantragt. Auch die Kinder haben <strong>Asyl</strong>anträge<br />
gestellt. Alle Anträge sind rechtmäßig abgelehnt<br />
worden. Noch vor dem Eintritt der Rechtskraft<br />
des Urteils gegen die in Deutschland geborene<br />
und damals ein Jahr alte Priscilla Kisiwu, hat die<br />
Ausländerbehörde Hameln einen Abschiebeversuch<br />
über Holland unternommen. Dieser gestaltete sich<br />
folgendermaßen: Die Polizei und eine Vertreterin<br />
der Ausländerbehörde suchten in der Nacht vom<br />
16. auf den 17. Februar 2004 laut Schilderung des<br />
Ehepaares Kisiwu um 3:3O Uhr die Wohnung der<br />
Familie auf und führte die Festnahmen durch. Dieses<br />
Vorgehen verstößt gegen § 1O4 StPO, denn danach<br />
ist eine solche Maßnahme erst ab<br />
6.00 Uhr erlaubt. Freddy Kisiwu wurden<br />
Handschellen angelegt und er wurde <strong>zum</strong><br />
Amtsgericht gefahren, welches dann einen<br />
Abschiebebeschluss traf. Dieses Vorgehen<br />
verstieß ebenfalls gegen das Bundesrecht,<br />
da in der Bundesrepublik Freiheitsentziehung<br />
grundsätzlich nur auf einen vorherigen<br />
Haftbefehl hin erfolgen darf.<br />
Eine Ausnahme begründende Gefahr im<br />
Verzug war im vorliegenden Fall nicht gegeben,<br />
da die zuständigen Verwaltungsorgane nicht<br />
daran gehindert waren‚ den Haftbeschluss vor der<br />
Maßnahme zu beantragen. Als der Vater der Familie<br />
abgeführt wurde, blieb die übrige Familie in der<br />
Wohnung, um Sachen zu packen. Währenddessen<br />
stellte sich heraus, dass der 14-jährige Fabrice verschwunden<br />
war. Darauf hin gab die Polizei die Anweisung,<br />
mit dem Packen der Sachen aufzuhören.<br />
Dadurch konnte die Mutter nur eine Windel <strong>für</strong> die<br />
kleine Priscilla mitnehmen. Nicht einmal Babynahrung<br />
konnte sie mitnehmen. Die Polizei wollte offenbar<br />
selbst alles Notwendige einpacken. Die Frau<br />
und die zwei Kinder wurden dann abgeführt.<br />
Im Laufe des Abschiebeversuchs<br />
wurde dem Familienvater<br />
mehrmals schlecht. Obwohl<br />
ein Arzt die Flugfähigkeit<br />
bescheinigt hatte, kam es<br />
während des Fluges <strong>zum</strong><br />
Atemstillstand des Herrn Kisiwu.<br />
Daraufhin wurde er gleich<br />
nach der Ankunft in Amsterdam<br />
in eine Klinik gebracht.<br />
Als er im Rollstuhl zurück<br />
kam, war der Flug nach Afrika<br />
bereits verpasst. Der nächste Flug sollte am 19. Februar<br />
2004 stattfinden. Die Familie schlief auf dem<br />
Boden im Flughafengebäude. Am nächsten Morgen<br />
erhielt die Familie von der holländischen Polizei<br />
zwei Euro und rief bei Bekannten in Deutschland<br />
an, um sich nach ihrem verschwundenen Sohn zu<br />
erkundigen. Von ihm fehlte und fehlt noch immer<br />
jede Spur. Fabrice ist auf der Flucht. Die holländischen<br />
Beamten haben daraufhin die Abschiebung<br />
abgebrochen und die Familie nach Deutschland<br />
zurückgeschoben. Dies alles musste eine Familie ertragen,<br />
deren Vater sozialversicherungspflichtig arbeitet.<br />
Der Sohn Fabrice ist an einer Realschule in<br />
Emmerthal bei Hameln hervorragend integriert.<br />
Die Klassenlehrerin, der Realschulrektor und 23<br />
Schüler haben eine Petition an den niedersächsischen<br />
Landtag unterschrieben.<br />
Fabrice ist im Fußballverein<br />
Preußen-Hameln 07<br />
als aktives Mitglied und als<br />
ein hervorragender Spieler<br />
und Mensch bekannt. Der<br />
Verein hat sich in einem<br />
Schreiben an das Gericht<br />
<strong>für</strong> den Spielkameraden<br />
eingesetzt. Auch die 10-<br />
jährige Josephat hat sich<br />
eine besondere Anerkennung<br />
bei der Fußballmannschaft TSG Emmerthal<br />
verdient Die Kinder der Familie sind hier aufgewachsen.<br />
Sie können sich ein Leben in einem anderen<br />
Land nicht vorstellen. Zaire assoziiert sich bei<br />
ihnen nur mit Angst. (Applaus)<br />
38
19. "Warum<br />
dürfen wir nicht zuhause bleiben"<br />
Suleyman Bulut<br />
Vor 12 Jahren kam ich mit meinen Eltern und meinen<br />
fünf jüngeren Geschwistern nach Deutschland.<br />
Es war im Mai 1992, da war ich gerade acht Jahre alt<br />
geworden. Heute bin ich also 20 Jahre alt. Zu unserer<br />
Familie sind in Deutschland noch die jetzt l0-<br />
jährige Suzan und die 6-jährige Leyla hinzugekommen.<br />
Als uns damals die Flucht aus der Türkei gelungen<br />
war, hatten wir große und berechtigte Hoffnung,<br />
hier in Deutschland nicht nur kurzfristig Zuflucht,<br />
sondern ein <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> immer zu bekommen.<br />
Diese Hoffnung wuchs noch, als Mitte<br />
der 90er Jahre die Geschwister meiner Eltern aufgrund<br />
der genau gleichen Verfolgungsgeschichte<br />
von verschiedenen Gerichten als <strong>Asyl</strong>berechtigte<br />
anerkannt wurden. Verschiedene Gerichte darum,<br />
weil es sich um mehrere Familien in unterschiedlichen<br />
Wohnorten oder gar anderen Bundesländern<br />
handelte. Nur unser AsyIverfahren, das nun weit<br />
mehr als ein ganzes Jahrzehnt gedauert hat, und das<br />
von andauernder Angst vor Abschiebung geprägt<br />
war, kommt erst jetzt, nach 12 Jahren, zu einem<br />
traurigen Abschluss. Mein durch Folter schwer traumatisierter<br />
Vater sowie auch meine Mutter, die viel<br />
Leid ertragen hat, dürfen zusammen mit meinen<br />
jüngeren Geschwistern <strong>für</strong> immer in Deutschland<br />
bleiben. Nicht bleiben dürfen mein zwei Jahre jüngerer<br />
Bruder und ich.<br />
Die Länge des Verfahrens hat uns volljährig werden<br />
lassen, und diese Volljährigkeit wurde uns <strong>zum</strong> Verhängnis.<br />
Als am 29. April diesen Jahres in Lüneburg<br />
das Urteil mündlich verkündet wurde, war Mustafa<br />
sogar noch 17 - also formal noch nicht einmal volljährig!<br />
Ich bin in diesem Land zehn Jahre zur Schule gegangen.<br />
Vor fast zwei Jahren habe ich in Wathlingen,<br />
Landkreis Celle, meinen erweiterten Realschulabschluss<br />
gemacht. Im Anschluss daran wollte ich<br />
eine Lehre als Bankkaufmann anfangen. Einen Ausbildungsplatz<br />
hatte ich bereits in Aussicht. Nur beginnen<br />
durfte ich die Lehre nicht, wegen meinem<br />
unsicheren Status als <strong>Asyl</strong>bewerber. Ich habe mich<br />
aber nicht entmutigen lassen und begann mit dem<br />
Besuch der einjährigen Höheren Handelsschule.<br />
Bald wurde ich von der Ausländerbehörde aufgefordert,<br />
den Schulbesuch zu unterlassen. Ich sollte<br />
gemeinnützige Arbeit leisten. Das hätte ich auch gut<br />
neben der Schule machen können. Doch darauf<br />
ging die Behörde nicht ein. Ich wollte so gerne weiter<br />
zur Schule gehen und versuchte, mich durchzusetzen.<br />
Daraufhin wurde die Hilfe <strong>zum</strong> Lebensun-<br />
Suleyman Bulut<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
39
Abdullah Birsen<br />
terhalt <strong>für</strong> meine Familie um meinen Anteil gekürzt.<br />
Nun gab ich auf, brach den Schulbesuch ab und trat<br />
die gemeinnützige Arbeit an, was mir zusehends<br />
schwerer fiel. Mein linker Arm wurde mir in der<br />
Türkei im Alter zwischen fünf und sechs Jahren<br />
vom türkischen Militär bei einer Mißhandlung gebrochen<br />
und hat sich auch wegen fehlender ärztlicher<br />
Versorgung nicht richtig entwickelt. Bei körperlicher<br />
Belastung ermüdet dieser Arm schnell und<br />
ich habe Schmerzen. So akzeptierte das Sozialamt<br />
nach einem halben Jahr, dass ich der vierstündigen<br />
Tätigkeit nicht mehr nachgehen konnte.<br />
Mein Wunsch ist nach wie vor, hier in Deutschland<br />
eine Ausbildung <strong>zum</strong> Bankkaufmann zu machen<br />
und mit Mustafa zusammen bei unserer Familie zu<br />
bleiben. Wohin sollten wir auch in der Türkei? Unser<br />
Heimatort Basak im Osten der Türkei wurde<br />
dem Erdboden gleichgemacht. Viele unserer Verwandten<br />
dort sind verstorben, verschollen, in Verfolgung<br />
umgekommen - oder aber, wie die erwähnten,<br />
als asylberechtigt anerkannten Angehörigen in<br />
verschiedenen Gegenden oder auch Bundesländern<br />
Deutschlands sesshaft geworden. Darüber hinaus<br />
ist der Osten auch der Ort der Verfolgung gewesen.<br />
In diese Gegend können wir nicht zurückgehen. Im<br />
Westen und in den größeren Städten wird nur türkisch<br />
gesprochen. Wir sind nie in der Türkei zur<br />
Schule gegangen, wir können überhaupt kein türkisch.<br />
Wir sprechen nur kurdisch, was wir zu Hause<br />
sprachen, und wir sprechen Deutsch, weil wir das<br />
hier gelernt haben.<br />
Unser Zuhause ist seit gut 12 Jahren Deutschland.<br />
Wir sind hier in Deutschland sozialisiert und integriert,<br />
hier sind unsere Wurzeln, in Vereinen, bei<br />
Freunden und in unserer Familie. Hier ist unser Zuhause.<br />
Warum dürfen wir nicht zuhause bleiben?<br />
(Applaus)<br />
20. DasLebenimAusreisezentrum"<strong>Pro</strong>jekt X"<br />
Abdullah Birsen<br />
Mein Name ist Abdullah Birsen, ich bin 37 Jahre alt,<br />
kurdischer Yezide, Scheich, aus Syrien. Als ich drei<br />
Jahre alt war, flohen meine Eltern nach Syrien, seit<br />
über zehn Jahren bin ich in Deutschland. Ich bin<br />
auch im yezidischen Verein in Niedersachsen aktiv.<br />
Und ich schreibe Theaterstücke. Im Jahr 1998 wurde<br />
ich als <strong>Asyl</strong>berechtigter nach § 51 anerkannt. Der<br />
Bundesbeauftragte <strong>für</strong> <strong>Asyl</strong>angelegenheiten legte jedoch<br />
dagegen Widerspruch ein. Ende 1999 wurde<br />
die <strong>Asyl</strong>anerkennung daraufhin aufgehoben. Am 25.<br />
Mai 2000 haben sie mich nach Braunschweig in ein<br />
sogenanntes Ausreisezentrum gebracht. Ich lebe<br />
seit vier Jahren in diesem "<strong>Pro</strong>jekt X" ( in der Zentralen<br />
Anlaufstelle <strong>für</strong> <strong>Asyl</strong>bewerberinnen und <strong>Asyl</strong>bewerber,<br />
ZASt, Braunschweig).<br />
Bis heute wurden über 22 Mal <strong>Anhörung</strong>en mit mir<br />
durchgeführt, und ich habe alle Beweise gegeben,<br />
dass ich staatenlos bin. Ich habe über zehn Zeugennamen<br />
angegeben aus meinem Dorf, ich war in der<br />
syrischen Botschaft, ich habe eine Identitätsbescheinigung<br />
als Staatenloser aus Syrien vorgelegt, ich habe<br />
eine Bescheinigung aus der Türkei bekommen,<br />
dass ich dort nicht registriert bin. Aber die glauben<br />
bis heute noch nicht, dass ich staatenlos bin. Braun-<br />
40
Abdullah Birsen<br />
Inzwischen konnte ein Teilerfolg<br />
in dem „Fall” Abdullah<br />
Birsen erreicht werden.<br />
Auf der Grundlage einer<br />
Eilentscheidung des<br />
Verwaltungsgerichts Braunschweig<br />
musste Abdullah<br />
Birsen aus dem Ausreisezentrum<br />
entlassen werden.<br />
Er lebt nun seit Anfang August<br />
bei seinem Bruder in<br />
Goslar.. Abdullah Birsen ist<br />
weiterhin nur „geduldet”.<br />
Die Redaktion<br />
schweig empfinde ich wie ein Gefängnis, das ist kein<br />
Leben dort in Braunschweig. Die Leute (d.h. die<br />
dort lebenden Flüchtlinge, Anmerkung d. Red.)<br />
dort wussten, dass ich hierher nach Hannover kommen<br />
und fünf Minuten reden werde. Sie sind zu mir<br />
gekommen, ich habe eine Liste der Namen aufgeschrieben,<br />
und sie haben gesagt, bitte, wir brauchen<br />
Hilfe. Einer sagte zu mir, "Wir haben kein Taschengeld",<br />
einer sagte, "Ich rauche, habe kein Geld" - ja<br />
was soll ich machen. Einer sagte, "Wir brauchen<br />
Kleider", einer sagte, "Ich habe Hunger". Also hier<br />
in Deutschland, glaube ich, darf man nicht Hunger<br />
haben. Einer von ihnen sagte, "das Fernsehen und<br />
die Zeitung müssen hierher kommen, damit alle<br />
Menschen sehen, wie schwer das Leben hier im<br />
'<strong>Pro</strong>jekt X' ist". Das ist nur Krankheit. Dort werden<br />
die Menschen nur krank gemacht, sonst nichts.<br />
Hossein Davud war mein Freund, wir haben in<br />
einem Zimmer gewohnt. Die haben Hossein Davud<br />
nach Syrien geschickt, er ist zwei Jahre im Gefängnis<br />
geblieben, und er ist jetzt rausgekommen. Vom<br />
Gefängnis ist er krank geworden im Kopf, aber keiner<br />
hat dagegen etwas gesagt. Die Behörden dort<br />
machen, was sie wollen.<br />
Nachdem ich meinen Vortrag am 24.04.2004 * vor<br />
dem Flüchtlingsrat gehalten habe, wurde ich zweimal<br />
vernommen, dabei wurde ich massiv zur Rechenschaft<br />
gezogen, weil ich die Behörden durch<br />
meinen Vortrag kritisiert habe. Sie haben dies <strong>zum</strong><br />
Teil persönlich genommen. Herr Z. sagte zu mir,<br />
"Ich schwöre, dass ich da<strong>für</strong> sorge, dass Sie in die<br />
Türkei oder nach Syrien abgeschoben werden." Bei<br />
der letzten Befragung war ein Dolmetscher anwesend.<br />
Also ich möchte wissen, wie lange ich noch in diesem<br />
Lager in Braunschweig, in diesem Gefängnis,<br />
bleiben muss. Ich möchte zurück zu meiner Theatergruppe,<br />
ich möchte zurück zu meiner yezidischen<br />
Kultur, mit dem yezidischen Verein arbeiten.<br />
Ich möchte meine Freiheit, ich möchte auch leben.<br />
Warum bin ich nach Deutschland gekommen? Ich<br />
möchte ein anderes Leben führen, ich möchte meine<br />
Zukunft aufbauen, ich möchte nicht mein ganzes<br />
Leben in Braunschweig, in diesem "<strong>Pro</strong>jekt X", in<br />
diesem Gefängnis dort sitzen bleiben. Also, ich<br />
möchte meine Freiheit - bitte, bitte, bitte.<br />
(Applaus)<br />
* Am 24.04.2004hat Abdullah Birsen einen Vortrag über die Situation im <strong>Pro</strong>jekt X während der Mitgliederversammlung<br />
des Niedersächsischen Flüchtlingsrates gehalten.<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
41
Pfarrer Joachim Piontek - Katholische Kirchengemeinde St. Adalbert<br />
21. Vortrag über das Schicksal<br />
der Familie Begolli<br />
Joachim Piontek, Dechant des Dekanats Hannover Nord der<br />
Katholischen Kirche und Pfarrer von St. Adalbert<br />
Das Amt <strong>für</strong> Wohnungswesen bat mich vor einigen<br />
Jahren, die Familie Begolli aufzunehmen. Die Familie<br />
Begolli wohnte zu dieser Zeit in einer Gemeinschaftsunterkunft<br />
in der Schützenallee. Die Familie<br />
Begolli hat vier Kinder, dem Jungen fielen damals in<br />
der Gemeinschaftsunterkunft - eine Containeranlage<br />
- nachts die Kakerlaken von der Decke in den<br />
Mund. Ich habe mich seinerzeit bereit erklärt, die<br />
Familie Begolli ins Pfarrhaus aufzunehmen. Ich<br />
wohnte in der mittleren Etage, oben war eine Wohnung<br />
frei, es handelte sich nicht um ein Kirchenasyl,<br />
sondern die Familie hat einfach bei mir im Haus gewohnt.<br />
Nun wohnen die Begollis seit acht Jahren im<br />
Pfarrhaus und sind seit über zehn Jahren in<br />
Deutschland.<br />
Eigentlich sollte hier Mariegona - eine Tochter der<br />
Familie - stehen. Mariegona ist 18. Sie hat ihren Bericht<br />
zurückgezogen, weil sie einfach Angst hatte<br />
und sich nicht traute, hier zu reden. Und so möchte<br />
ich jetzt einen Bericht abgeben, einen kurzen Bericht<br />
über die Situation, so wie ich sie empfinde. Es<br />
geht mir dabei nicht nur um die Familie Begolli,<br />
sondern es geht mir um die vielen Begollis. Wenn<br />
ich das Schicksal der Familie schildere, werden Sie<br />
alle nicken und sagen, "Genau, das kennen wir!" Es<br />
gibt wohl jetzt nichts Neues zu hören, es soll nur<br />
zur Verdeutlichung der Situation dienen, wenn ich<br />
die Familie und deren Situation kurz vorstelle.<br />
Mit der Zeit hat sich herausgestellt, dass die psychische<br />
und physische Verfassung der Familie auch<br />
durch die Folgen der Aufenthalte in den Flüchtlingsheimen<br />
Anlass zu größter Besorgnis gibt. Besonders<br />
der Sohn und der Vater werden krank. Die<br />
Kinder sind jetzt 18, 16, 13 und 12 Jahre alt. Die damals<br />
elfjährige Tochter, so erlebe ich das über die<br />
Jahre, muss alle Verhandlungen mit den Behörden<br />
42
Pfarrer Joachim Piontek - Katholische Kirchengemeinde St. Adalbert<br />
vornehmen. Das bedeutet, dieses elfjährige<br />
Mädchen muss beim Arzt alles das erklären, was die<br />
Mutter hat und was der Vater hat. Sie muss vorzeitig<br />
in die Erwachsenenwelt eintreten, um genau das<br />
erklären zu können, was die Behörden und die Ärzte<br />
wissen wollen, denn die Eltern sprechen schlecht<br />
Deutsch. Es ist doch klar, dass die Leute schlecht<br />
Deutsch sprechen, wenn sie über Jahre hinweg nur<br />
eine Duldung haben. Wie soll ich da Deutsch lernen,<br />
wenn die Frage, wie kann ich überleben und<br />
<strong>für</strong> meine fünfköpfige Familie sorgen, ständig die<br />
äußerste Priorität einnimmt. Der Sohn, auch das ist<br />
aus der Situation heraus zu verstehen, entwickelt<br />
sich plötzlich <strong>zum</strong> <strong>Pro</strong>blemkind. Diese Entwicklung<br />
ist beeinflusst von Gewalterfahrungen, wie jener, als<br />
ihm im <strong>Asyl</strong>heim ein Messer auf die Brust gehalten<br />
wurde. Dass seine Psyche auch durch die unhygienischen<br />
Verhältnisse belastet wird, kommt hinzu,<br />
die Begebenheiten mit den Kakerlaken habe ich bereits<br />
erwähnt Darüber hinaus spielen noch andere<br />
soziale Faktoren eine Rolle: Der Vater ist arbeitslos.<br />
Es gibt Konflikte zwischen Sohn und Vater. Arbeit?<br />
Beide, Vater und Mutter, hätten seit langem eine<br />
gute Arbeit haben können. Diese Geschichte ist -<br />
Entschuldigung - eine Lachnummer. Menschen haben<br />
sich bemüht, der Frau Begolli letztlich eine<br />
Traumstelle zu verschaffen - und das Arbeitsamt hat<br />
abgelehnt. Auch das kennen wir in anderen Fällen.<br />
Die Kinder. Die Kinder sind in der Schule laut ihrer<br />
Zeugnisse "befriedigend" bis "sehr gut". Eine Tochter<br />
geht jetzt auf das Gymnasium, die andere<br />
schließt nun eventuell die Mittlere Reife ab und<br />
steht vor der Aufnahme einer Lehrstelle. Sie hat eine<br />
Lehrstelle angeboten bekommen und wenn die<br />
Familie nicht abgeschoben wird, dann kann das<br />
Mädchen diese Stelle vielleicht annehmen, darum<br />
kümmert sich inzwischen der Anwalt.<br />
Zu mir: Ich habe durch die Begegnung mit Flüchtlingen<br />
sehr viel gelernt. Es klingt ein bisschen skurril,<br />
aber ich bin da<strong>für</strong> dankbar. Auf der anderen Seite,<br />
wenn ich jetzt mal meinen Bauch sprechen lasse,<br />
dann muss ich sagen: Ich werde über die Jahre in<br />
dieser Sache innerlich immer aggressiver. Und noch<br />
etwas: Es macht mich innerlich immer aggressiver,<br />
wenn ich sehe, wie die Menschen um mich herum<br />
aus Hilflosigkeit, das betrifft auch Gemeindemitglieder<br />
in der katholischen Kirchengemeinde und<br />
Menschen in unserem Stadtteil, das <strong>Pro</strong>blem einfach<br />
ignorieren. Oder wie mir jemand sagte: "Pastor,<br />
Du bist viel zu gut <strong>für</strong> die Welt." Das ist schon<br />
schlimm! So - und jetzt <strong>zum</strong> Schluss habe ich zwei<br />
Forderungen: Die eine Forderung richtet sich an<br />
unseren Oberbürgermeister: Und zwar möchte ich,<br />
das allen "Begollis", das sind, wie er hier vorgetragen<br />
hat, in Hannover 1.575 Menschen, die Duldung<br />
genommen und in ein <strong>Bleiberecht</strong> umgewandelt<br />
wird. Die andere Forderung ist eine Minimalforderung:<br />
Ich wünsche mir, dass ab morgen alle in Hannover<br />
und in Niedersachsen begreifen, was wir <strong>für</strong><br />
ein <strong>Pro</strong>blem haben. Danke.<br />
(Applaus)<br />
Der Vater ist aufgrund der Situation, die ihn zur<br />
Untätigkeit verdammt, mittlerweile stark depressiv.<br />
Er ist von Beruf so eine Art Ingenieur und hält sich<br />
inzwischen nur noch in der Garage auf. Dort hat er<br />
sein Fahrrad und sein Moped, an dem er immer etwas<br />
herumbastelt und ändert. Die Mutter ist ganz<br />
stark psychosomatisch gefährdet, sie ist aufgrund<br />
dessen ständig kränkelnd.<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
43
Familie Ferizi<br />
22. Kosovo oder Bosnien?<br />
Ein Ehepaar aus dem ehemaligen Jugoslawien<br />
hat Angst vor der Trennung der Familie<br />
Ragip und Hatidja Ferizi<br />
Sehr geehrte Damen<br />
und Herren,<br />
mein Mann und ich<br />
stammen aus dem<br />
ehemaligen Jugoslawien,<br />
aber mein<br />
Mann aus Kosovo<br />
und ich aus Bosnien.<br />
Vor fünf Jahren<br />
haben wir uns nach deutschem Gesetz verheiratet,<br />
und wir dürfen jetzt nicht zusammen leben. Obwohl<br />
wir nach deutschem Gesetz verheiratet<br />
sind, trennen uns die Behörden.<br />
depressiver und psychisch krank geworden. Ich<br />
leide unter einem Trauma, die Behandlung wird nun<br />
beim Arzt fortgesetzt. Ich habe Angst, dass meine<br />
Familie zurückgeschickt wird. Dies wäre <strong>für</strong> mich<br />
noch schlimmer als meine Krankheit. (Applaus)<br />
Frau Ferizi<br />
Vor vier Jahren haben wir eine Petition an den<br />
Landtag gestellt. Diese Petition wurde im letzten<br />
Jahr abgelehnt, weil wir verschiedener Staatsangehörigkeit<br />
sind. Wir wissen nicht, wie es mit uns<br />
weitergeht und wir wünschen uns, dass wir ein<br />
Bei meinem Mann ist das <strong>Pro</strong>blem, dass<br />
er psychisch erkrankt ist. Er war gerade<br />
zwei Monaten in psychischer Behandlung<br />
im Krankenhaus. Bei mir steht fast<br />
die Abschiebung bevor. Ich weiß nicht,<br />
was ich jetzt machen soll. Wir bitten alle,<br />
uns zu helfen, damit wir nicht getrennt<br />
werden. Meine Kinder leben<br />
auch hier.<br />
Herr Ferezi<br />
Ja, ich wollte auch etwas sagen. Ich habe<br />
damals einen Arbeitsplatz gehabt,<br />
anderthalb Jahre habe ich gearbeitet.<br />
Auf einmal wurde mir ohne Grund<br />
gekündigt, nur weil ich drei Tage krank<br />
geschrieben war. Das kann doch kein<br />
Grund sein. Seitdem bin ich langsam<br />
<strong>Bleiberecht</strong> hier in Deutschland kriegen.<br />
Wir haben immer gesagt, dass wir nichts<br />
vom Staat kassieren wollen. Geben sie uns<br />
bitte die Möglichkeit, zu arbeiten, damit<br />
wir uns selber finanzieren und hier eine<br />
Zukunft <strong>für</strong> unsere Kinder aufbauen<br />
können. Aber das ist schwer, sehr schwer.<br />
Ich frage alle, ob uns niemand helfen<br />
kann, denn ich und meine Kinder sind<br />
gefährdet. Seit ein paar Monaten wird<br />
meine Duldung nur noch jeweils um einen<br />
Monat verlängert, nur um einen Monat.<br />
Ich habe Angst, dass unsere Familie getrennt<br />
wird. Denn bei vielen Familien ist<br />
die Polizei gekommen und hat sie abgeholt.<br />
Das ist alles, was ich sagen wollte.<br />
(Applaus)<br />
44
23. Traumatisierte Flüchtlinge<br />
benötigen ein <strong>Bleiberecht</strong><br />
Stefica Ban, Psychotherapeutin<br />
Stefica Ban - Psychoterapeutin<br />
Dobrodosli i Doberdan!<br />
Ich begrüße euch mit Worten, die <strong>für</strong> einige von<br />
euch vielleicht fremd klingen mögen. Übersetzt<br />
heißen sie: Willkommen und guten Tag! Mein Name<br />
ist Stefica Ban. Ich bin in Sarajevo geboren, einer<br />
Stadt, die leider durch den Ersten Weltkrieg und den<br />
aktuellen Konflikt - Jugoslawiens<br />
Zerfall würde ich das<br />
nennen - sehr bekannt geworden<br />
ist. Ich bin schon<br />
sehr lange hier in Deutschland,<br />
seit 1970, also über 30<br />
Jahre. Manchmal bezeichne<br />
ich mich selbst als einen der<br />
ersten Flüchtlinge. Ich kann<br />
nicht sagen, dass ich damals<br />
in Jugoslawien Schlimmes<br />
erlebt hätte, dass mich<br />
schlimme Ereignisse dazu<br />
verleitet hätten, mein Land<br />
zu verlassen. Wir wurden damals<br />
in den Schulen angeworben<br />
mit den Worten:<br />
"Kommt nach Deutschland,<br />
ihr könnt dort arbeiten." Wir<br />
sind hier also gut aufgenommen<br />
worden.<br />
Bei den Flüchtlingen, mit<br />
denen ich seit dem Zerfall<br />
von Jugoslawien arbeite, ist<br />
das allerdings anders. 1990<br />
kamen die ersten - damals<br />
gab es den Konflikt mit Slowenien,<br />
dann 1991 mit<br />
Kroatien und 1992 mit Bosnien.<br />
Am Schlimmsten war<br />
wohl der Krieg in Bosnien -<br />
der Name Srebrenica ist ja<br />
heute schon gefallen. Der<br />
Krieg, der <strong>zum</strong> Zerfall von Jugoslawien führte, war<br />
der erste Krieg nach dem 2. Weltkrieg, der sich innerhalb<br />
Europas ereignete. Herr Schwarz-Schilling<br />
sagte zu Recht: "Es war Krieg mitten in Europa und<br />
wir haben einfach zugesehen, was dort passiert."<br />
Über den 11. September wurde und wird im Gegensatz<br />
<strong>zum</strong> Bosnienkrieg ja viel gesprochen. Als<br />
Psychotherapeutin weiß ich aber, dass wir Menschen<br />
dazu neigen, Leid und Grausamkeiten zu ignorieren<br />
und von uns wegzuschieben, je näher diese<br />
an uns dran sind.<br />
Nun haben wir ja heute die Gelegenheit, darüber zu<br />
reden. Ich bin hier als Vertreterin meiner Zunft, als<br />
Psychotherapeutin, und ich stamme aus diesem gebeutelten<br />
Land. Ich könnte Ihnen tausend Geschichten<br />
erzählen, die mir durch den Kopf gehen.<br />
Während meiner beruflichen Tätigkeit bin ich ungefähr<br />
tausend traumatisierten Patienten aus dem ehemaligen<br />
Jugoslawien begegnet.<br />
Ich habe eine Zeit lang<br />
<strong>für</strong> die psychiatrische Klinik<br />
in Ochsenzoll in Hamburg<br />
gearbeitet und bin die einzige<br />
muttersprachliche Therapeutin<br />
in Hamburg mit Kassenzulassung.<br />
Sie können<br />
sich vorstellen, was bei mir<br />
los ist!<br />
Wir Psychotherapeuten kennen<br />
das Phänomen der sekundären<br />
Traumatisierung<br />
(Anmerkung: Übertragung<br />
typischer posttraumatischer<br />
Symptome auf Dritte, z.B.<br />
auf Therapeuten durch psychotherapeutische<br />
Gespräche).<br />
Manchmal <strong>für</strong>chte<br />
ich, dass das auf mich zutrifft,<br />
gerade in letzter Zeit,<br />
wenn Patienten kommen,<br />
ihre Geschichten erzählen<br />
und ich manchmal bei mir<br />
denke: "Bitte erzähl' mir<br />
nichts, ich kann das nicht<br />
mehr hören." Ich bin froh,<br />
dass es noch solche Menschen<br />
gibt wie Sie, die Wut<br />
und Ärger empfinden - weil<br />
das ganz viel Kraft beinhaltet.<br />
Ich selbst habe keine<br />
Kraft mehr. Ich wundere<br />
mich, dass ich heute überhaupt hier stehe. Wahrscheinlich<br />
nur deshalb, weil ich nicht gewusst habe,<br />
was auf mich zukommt. Ich wünschte, es gäbe noch<br />
viel mehr Leute, die richtig Wut und Ärger entwickeln<br />
und damit kämpfen können <strong>für</strong> die Betroffenen,<br />
egal aus welchem Land sie kommen, egal aus<br />
welcher Ecke auf dieser Erde!<br />
Zu den <strong>Pro</strong>blemen mit der Ausländerbehörde wurde<br />
heute schon viel gesagt, ich kann dem nicht viel<br />
hinzufügen. Einen Aspekt möchte ich aber noch<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
45
Sokol Tafa<br />
hervorheben. Manchmal wird der Vorwurf erhoben,<br />
dass Flüchtlinge sich gerade dann zu uns in<br />
psychotherapeutische Behandlung begeben, wenn<br />
Behördliches zu klären ist. Dabei wissen meine Kollegen<br />
und ich, dass die Symptome einer Traumatisierung<br />
zu jedem Zeitpunkt und immer wieder auftauchen<br />
können - unmittelbar nach den Ereignissen,<br />
einige Zeit später, aber auch noch nach zehn Jahren.<br />
Manchmal fragen mich meine Patienten: "Werde ich<br />
das nie wieder los?" Ich weiß es wirklich nicht. Ich<br />
weiß nur, dass die Methoden zur Behandlung von<br />
Traumata immer besser werden. Inzwischen arbeite<br />
ich auch mit der bekannten EMDR-Methode, und<br />
ich habe ganz große Hoffnung, dass ich damit vielen<br />
Patienten helfen kann. (Anmerkung: Eye Movement<br />
Desensitization and Reprocessing (EMDR) ist<br />
eine von Dr. Francine Shapiro entwickelte traumabearbeitende<br />
Psychotherapiemethode, die die Möglichkeiten<br />
der Behandlung traumatisierter PatientInnen<br />
erheblich verbessern kann.)<br />
Ich möchte abschließend noch auf einen Aspekt<br />
eingehen, der sich auch in meiner täglichen Arbeit<br />
als sehr störend erweist: die Unterbringung der<br />
Flüchtlinge. Die Unterkünfte, in denen die Flüchtlinge<br />
leben müssen, sind unbeschreiblich. Teilweise<br />
werden traumatisierte Menschen aus dem Kosovo<br />
mit Serben untergebracht, oder Bosnier mit Serben<br />
oder wie auch immer. Es ist gut, wenn man sich verständigen,<br />
wenn man verzeihen kann. Aber manchmal<br />
denke ich, das wird mit Absicht so gemacht, damit<br />
die Leute es nicht aushalten. Es gibt noch mehr<br />
<strong>Pro</strong>bleme in solchen Unterkünften. Viele traumatisierte<br />
Menschen aus anderen Teilen der Erde sind<br />
dort untergebracht, die selbst Symptome haben, die<br />
z.B. sehr laut oder sehr aggressiv sind, die auf einander<br />
losgehen, sich prügeln. Ich kann keinen behandeln<br />
unter diesen Bedingungen. Was ich kann ist<br />
zuhören und helfend und unterstützend da sein.<br />
Das Schlimmste in meiner beruflichen Tätigkeit war<br />
<strong>für</strong> mich die Weisung der Innenministerkonferenz,<br />
nach der ich nun "zwingend" als Begründung aufschreiben<br />
muss, welches Ereignis Trauma auslösend<br />
war. Da stand ich dann mit den Patienten und sagte:<br />
"Wir müssen da jetzt durch, ich muss etwas aufschreiben."<br />
Meine Berufsethik verbietet mir das,<br />
und trotzdem musste ich es machen. Meine Forderung:<br />
Gebt den Menschen Unterkunft, eine sinnvolle<br />
Beschäftigung und ein <strong>Bleiberecht</strong>.<br />
Danke schön. (Applaus)<br />
24. „Wir wollen leben,<br />
wie Menschen es verdient haben”<br />
Sokol Tafa<br />
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
zuerst möchte ich mich bei allen bedanken, die sich<br />
mit all ihrer Kraft und Zeit und ihrem Willen <strong>für</strong> die<br />
"Kampagne <strong>Bleiberecht</strong>" eingesetzt haben.<br />
Mein Name ist Sokol Tafa. Ich wurde im Kosovo<br />
geboren. Ich bin verheiratet, ich habe drei Kinder,<br />
eines davon ist in Deutschland geboren. Ich gehöre<br />
zur Minderheit der Ägypter, und meine Frau ist Roma.<br />
Wir sind aufgrund ethnischer Diskriminierung,<br />
Menschenrechtsverachtung und Verfolgung als "Zigeuner"<br />
mit der Hoffnung auf eine Anerkennung<br />
nach Deutschland geflohen. Unser <strong>Asyl</strong>antrag wurde<br />
zuerst abgelehnt. Weil unsere Ausreise aus Gründen,<br />
die wir selbst nicht zu vertreten haben, nicht<br />
erfolgen kann, sind wir seit mehr als 12 Jahren geduldet.<br />
Ich arbeite als gelernter Krankenpfleger seit Jahren<br />
in der Firma "Hauskrankenpflege Human" und beziehe<br />
keine Sozialhilfe <strong>für</strong> mich oder meine Familie.<br />
46
Sami Meri & Souheila Souleman Trugg<br />
Mein Arbeitgeber und meine Patienten sind mit mir<br />
zufrieden und haben sich im Rahmen einer Petition<br />
<strong>für</strong> mich eingesetzt. Der "Hilfsverein <strong>für</strong> Kinder aus<br />
Bosnien und Ex-Jugoslawien" half mir gegenüber<br />
der Ausländerbehörde, meine Identität zu belegen.<br />
Meine Chefin setzte sich mit der zuständigen CDU-<br />
Landtagsabgeordneten Frau Jahn in Verbindung,<br />
und hat um Unterstützung gebeten, da sie <strong>für</strong> mich<br />
als männliche Pflegekraft keinen Ersatz finden<br />
konnte. Frau Jahn sagte ihre Unterstützung allgemein<br />
zu. Trotz der aufgezeigten Hintergründe und<br />
Hilfen will der Landkreis Helmstedt unsere Ausreise<br />
weiterhin fördern.<br />
In den letzten 12 Jahren Aufenthalt hier in der<br />
Bundesrepublik Deutschland haben unsere Kinder<br />
dieses Land als ihre Heimat betrachtet. In unserer<br />
Heimat, die wir schon längst verloren haben, haben<br />
wir längst kein Zuhause, keine Freiheit, kein Recht<br />
auf Leben und somit keine Wurzeln mehr. Wir<br />
haben alles längst verloren. Was wir besitzen sind<br />
Angst, Heimatlosigkeit, das Gefühl der Verfolgung<br />
und das Gefühl, dass wir nicht erwünscht sind.<br />
Meine Frau leidet als Kriegsflüchtling unter einer<br />
schweren posttraumatischen Belastungsstörung, sie<br />
ist mittelschwer depressiv mit deutlicher Antriebsstörung<br />
und Schlafstörungen. Sie befand sich bis<br />
gestern zur stationären Behandlung im Krankenhaus.<br />
Wir leben in ständiger Angst, in unser Herkunftsland<br />
abgeschoben zu werden. Wir schämen<br />
uns, unseren Kindern sagen zu müssen, dass es <strong>für</strong><br />
uns kein Land und keine Heimat gibt. Sie haben<br />
keine Bindung an die Heimat ihrer Eltern. Unsere<br />
Kinder gehen hier zur Schule, zwei Töchter besuchen<br />
die Realschule, ihre zukünftige berufliche<br />
Weiterbildung wird nicht finanziert. Ebenso dürfen<br />
sie auch nicht arbeiten. Damit werden unsere<br />
Kinder sich selbst überlassen, mit den möglichen<br />
sozialen, moralischen und kriminellen Folgen.<br />
Wegen der unregelmäßigen Verlängerung unserer<br />
Duldung haben wir keinen vernünftigen Plan <strong>für</strong><br />
unser Leben. Unsere Bewegungsmöglichkeiten sind<br />
beschränkt. Unmenschliche Behandlung durch<br />
Angestellte der Ausländerbehörde macht uns ängstlich<br />
und krank. Deshalb möchte ich Sie im Namen<br />
meiner Familie bitten, uns zu helfen und zu unterstützen,<br />
damit unsere Kinder und auch wir so leben<br />
können, wie Menschen es verdient haben.<br />
Vielen Dank. (Applaus)<br />
25. Vortrag zur<br />
Northeimer <strong>Bleiberecht</strong>sinitiative Libasoli<br />
Samir Meri und Souheila Souleiman Trugq<br />
Samir Meri:<br />
Wir sind über 120 von der Abschiebung bedrohte<br />
Personen in Northeim. Die Ausländerbehörde sagt,<br />
alle unsere Familien müssen in die Türkei abgeschoben<br />
werden.<br />
Nach dem Ersten Weltkrieg, von 1918 bis 1927,<br />
sind unsere Großeltern und Urgroßeltern aus dem<br />
Osmanischen Reich in den Libanon geflüchtet. Seit<br />
76 Jahren lebten wir im Libanon. Als der Bürgerkrieg<br />
im Libanon begann, gingen wir in die Türkei.<br />
Seit 1985 sind wir hier in Deutschland.<br />
Vorgestern kamen die Polizisten und haben alle Familien<br />
angegriffen, weil zwei Personen in Haft genommen<br />
und abgeschoben werden sollten. Unsere<br />
Kinder haben sich furchtbar über die Polizisten erschreckt.<br />
Wir versuchen, gemeinsam mit allen Unterstützern<br />
ein <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> die Flüchtlinge in Deutschland<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
47
Sami Meri & Souheila Souleman Trugg<br />
und insbesondere in Niedersachsen zu erwirken.<br />
Vielen Kindern sowie vielen Schülern und auch<br />
Personen, die viel arbeiten, wurde die Aufenthaltserlaubnis<br />
entzogen. Deshalb dürfen die Betroffenen<br />
jetzt nicht mehr arbeiten. Wir erwarten von<br />
Euch allen eine Unterstützung <strong>für</strong> ein <strong>Bleiberecht</strong>.<br />
Wenn wir dies nicht verhindern können, werden<br />
zahlreiche Familien in die Türkei abgeschoben, weil<br />
diese Familien hier in Deutschland nicht mehr<br />
akzeptiert werden. Wir erwarten von Euch allen<br />
Unterstützung, bis wir ein <strong>Bleiberecht</strong> in Niedersachsen<br />
haben. Denn wir können nicht zulassen,<br />
dass diese Familien abgeschoben werden.<br />
Viele Kinder haben hier gelernt und sich integriert,<br />
manche studieren. Ich selber bin seit 13 Jahren<br />
selbstständig, ich bezahle Steuern. Mein Gewerbe<br />
ist abhängig von der Duldung, die immer nur um 3<br />
Monate verlängert wird. Seit 13 Jahren bezahle ich<br />
Steuern an den Staat, und seit 13 Jahren habe ich<br />
kein Geld vom Staat bekommen, weder vom Sozialamt<br />
noch vom Arbeitsamt.<br />
Ich habe selber Angestellte, die ich bezahle. Mit<br />
meinen Steuern bezahle ich auch die Beamten, die<br />
uns abschieben wollen. Wo ist die Gerechtigkeit?<br />
Die Beamten in der Ausländerbehörde versuchen,<br />
uns zu hinzuhalten. Ich gehe zu ihnen und frage,<br />
"Was ist mit meinem Papier?" Es wird gesagt: "Du<br />
musst warten." Man hatte uns während eines<br />
gemeinsamen Treffens mit Mitarbeitern der Ausländerbehörde<br />
und Vereinen versprochen, jeden Einzelfall<br />
zu prüfen und zu bearbeiten. Nach diesem<br />
Treffen gingen wir einzeln zu ihnen und fragten,<br />
"Was ist mit unserer Sache?" "Abwarten", so die<br />
Antwort. Die spielen mit den Menschen, wie es<br />
ihnen passt. Wir sind hier, um Euch alle um Unterstützung<br />
zu bitten, denn wir können nicht zulassen,<br />
das die Familien abgeschoben werden. Deswegen<br />
erwarten wir von Euch weitere Veranstaltungen wie<br />
diese hier, bis wir das <strong>Bleiberecht</strong> bekommen<br />
haben. Ich danke Euch allen. (Applaus)<br />
Souheila Souleiman Trugq:<br />
Gestern waren wir beim Landkreis Northeim, weil<br />
eine Frau abgeschoben werden sollte. Wir haben<br />
eine Demo organisiert und sind zu der Ausländerbehörde<br />
gegangen. Dort wollte man uns zunächst<br />
nicht hereinlassen. Es hat jedoch jeder das Recht,<br />
dort hineinzugehen, der ein Gespräch möchte.<br />
Obwohl wir nur ein Gespräch haben wollten, sollten<br />
wir hinausgeworfen werden. Und warum (?):<br />
Zuvor sollte mitternachts eine alte Frau und ein Jugendlicher<br />
abgeholt und abgeschoben werden. Wir<br />
alle, die wir in Northeim wohnen, fühlen uns davon<br />
betroffen.<br />
Ich habe zwei kleine Kinder, mein Mann hat neun<br />
Jahre in Deutschland gearbeitet. Jetzt haben sie ihm<br />
die Arbeitserlaubnis weggenommen, so dass wir<br />
vom Arbeitslosengeld leben müssen. Mein Cousin<br />
und meine Cousinen hatten alle eine<br />
Arbeitserlaubnis, wir alle haben im<br />
Altersheim gearbeitet. Einer führt seit<br />
zwei Jahren eine Ausbildung durch,<br />
auch ihm wurde nun die Arbeitserlaubnis<br />
weggenommen. Deshalb kann er<br />
seine Ausbildung nicht beenden. Man<br />
hat uns alles weggenommen. Wir wissen<br />
nicht, warum. Unsere Kinder gehen<br />
zur Schule, wir arbeiten, wir leben nicht<br />
von Sozialhilfe und trotzdem wird uns<br />
die Arbeitserlaubnis genommen. Jetzt<br />
können wir nirgendwo mehr arbeiten.<br />
Als wir gestern <strong>zum</strong> Landkreis kamen<br />
und ein Gespräch wollten, wurde uns<br />
gesagt: "Wozu kommt ihr hierher? Es<br />
ist keiner da!" Das sagten uns auch die<br />
Polizisten.<br />
48
Frank Ahrens - Deutscher Gewerkschaftsbund<br />
Wir standen vor der Tür, und ein Mitarbeiter vom<br />
Landkreis hat uns weggeschubst, auch mich hat er<br />
von der Treppe geschubst. Zusammen mit anderen<br />
Frauen wollte ich nur hineingehen, um ein Gespräch<br />
zu führen. Von der Polizei wurde uns gesagt: "Keiner<br />
der Angestellten ist da, Sie dürfen reingehen und<br />
gucken." Daraufhin sind wir hineingegangen. Alle<br />
Türen waren verschlossen. Auf mein Klopfen hin<br />
wurde nicht geöffnet. Es hieß es nur: "Sehen Sie, ich<br />
habe Ihnen gesagt, dass niemand da ist."<br />
Auf einmal sah ich, wie die Mitarbeiterin, die immer<br />
meine Duldung verlängert, in eines der Zimmer<br />
ging. Die Polizisten und die Leute vom Landkreis<br />
hatten uns angelogen, denn es waren doch Angestellte<br />
da.<br />
Ich habe zwei kleine Kinder, als ich mit meiner<br />
Tochter schwanger war, habe ich versucht, die Duldung<br />
zu kriegen, weil ich ohne Duldung nichts<br />
machen konnte. Der Herr X, der hat mir während<br />
meiner Schwangerschaft soviel angetan, so etwas<br />
hab ich noch nicht erlebt.<br />
Vorhin sagte einer: "Ich bin im Gefängnis". Ich<br />
wohne in einer Wohnung, die drei Zimmer hat, es<br />
ist eine sehr schöne Wohnung in der Innenstadt. Ich<br />
habe aber das Gefühl, ich bin im Gefängnis, nicht in<br />
einer Wohnung. Denn ich kann überhaupt nicht<br />
schlafen, seit fünf Jahren geht das so, ich kann das<br />
nicht mehr aushalten. Ich verstehe nicht, warum die<br />
das mit uns anstellen. Ich bitte Sie, Sie müssen uns<br />
helfen. Wir wollen hier nicht weg, ich will gar nicht<br />
hier weg. Ich kenne die Türkei gar nicht, ich kann<br />
die Sprache nicht sprechen. Bei den betroffenen<br />
Familien aus Einbeck und Nortteim gibt es ungefähr<br />
sechs Kinder, die behindert sind und die hier<br />
geboren und aufgewachsen sind und in eine Schule<br />
gehen, die sie lieben. Das finden sie in einem anderen<br />
Land nicht. Das müssen Sie verstehen, und Sie<br />
müssen uns auch verstehen. Ich verlange, dass alle<br />
Leute uns helfen, dass wir es schaffen, das <strong>Bleiberecht</strong><br />
zu bekommen. Ich meine, 15 Jahre, das ist ein<br />
Leben, verstehen Sie, versteht Ihr mich alle?<br />
(Applaus)<br />
26. Die Position des DGB, Bezirk Niedersachsen/<br />
Bremen/ Sachsen-Anhalt <strong>zum</strong><br />
<strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong> Flüchtlinge<br />
Frank Ahrens<br />
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,<br />
ich kann mich da wirklich sehr kurz halten, weil wir<br />
schon eine ganze Menge gehört haben. Und ich<br />
glaube, dass niemand die <strong>Pro</strong>blematik so gut wiedergeben<br />
kann, wie die Betroffenen es hier selber<br />
getan haben. Von daher halte ich mich hier auch<br />
sehr kurz.<br />
Die Tatsache, dass in Niedersachsen derzeit 26.000<br />
Personen nur mit einer Duldung mit uns zusammenleben,<br />
davon 15.000 schon länger als fünf Jahre<br />
und viele bereits seit über zehn Jahren, ist nicht<br />
mehr hinnehmbar. Wir benötigen dringend einen<br />
gesicherten Aufenthaltsstatus in Form einer <strong>Bleiberecht</strong>sregelung,<br />
die es den Flüchtlingen erlaubt, sich<br />
eine gesicherte Perspektive in unserem Land aufzubauen.<br />
Der jetzt gefundene Kompromiss beim Zuwanderungsrecht<br />
hat die Situation der Iangjährig hier<br />
lebenden <strong>Asyl</strong>suchenden und Flüchtlinge nicht<br />
entscheidend verbessert. Die in den acht Eckpunkten<br />
formulierten wesentlichen Kriterien eines<br />
Zuwanderungsgesetzes sehen zwar schärfere Regelungen<br />
bei Abschiebung und Einbürgerung vor,<br />
jedoch die Abschaffung von so genannten Kettenduldungen<br />
konnte in diesem Kompromiss nicht<br />
durchgesetzt werden. Das hat ja bereits Frau Marieluise<br />
Beck gesagt. Es bleibt also dabei, dass diese<br />
<strong>Bleiberecht</strong>sregelung <strong>für</strong> die <strong>Asyl</strong>suchenden und<br />
FlüchtIinge unabhängig vom Zuwanderungsrecht<br />
gefunden und erstritten werden muss.<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
49
Serhat & Kezban Aldemir<br />
Es steht unserer Gesellschaft wahrhaftig gut zu Gesicht,<br />
wenn wir <strong>für</strong> ein gleichberechtigtes und friedliches<br />
Miteinander von Menschen unterschiedlicher<br />
Nationalitäten oder kultureller Hintergründe eintreten.<br />
Dazu gehört ein modernes Zuwanderungsrecht<br />
genauso wie die Herstellung gesicherter Rahmenbedingungen.<br />
Wir können es uns nicht leisten, Ausländer<br />
bzw. Flüchtlinge erster oder zweiter Klasse<br />
unter uns zu haben, die mit unterschiedlichen Kriterien<br />
gemessen werden und dann mit unterschiedlichen<br />
rechtlichen Restriktionen oder Sanktionen<br />
behandelt oder bedroht werden. Deshalb müssen<br />
wir uns auch weiterhin <strong>für</strong> die uneingeschränkte<br />
rechtliche Absicherung der hier <strong>langjährig</strong> lebenden<br />
<strong>Asyl</strong>suchenden und Flüchtlinge einsetzen.<br />
Der DGB setzt sich <strong>für</strong> eine nachhaltige und<br />
zukunftsorientierte lntegrationspolitik ein. Es geht<br />
um die Schaffung von Möglichkeiten zur gleichberechtigten<br />
Teilhabe in der Gesellschaft und der<br />
Arbeitswelt. Der DGB unterstützt nachdrücklich<br />
die Petition <strong>für</strong> ein <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> in<br />
Niedersachsen lebende Flüchtlinge und <strong>Asyl</strong>suchende.<br />
Danke! (Applaus)<br />
27. „Es ist, als wenn man einen Deutschen<br />
in ein fremdes Land schickt“<br />
Serhat und Kezban Aldemir<br />
Serhat Aldemir:<br />
Hallo erstmal!<br />
Ich heiße Serhat Aldemir, bin 17 Jahre alt, und ich<br />
bin hier mit meiner 16-jährigen Schwester Kezban.<br />
Ich bin ein Kurde aus der Türkei und 1989 mit meinen<br />
Geschwistern und Eltern nach Deutschland<br />
eingereist. Ich war damals drei Jahre alt, mein Bruder<br />
war fünf und meine Schwester ein Jahr alt. Unsere<br />
Heimat ist ganz klar Emden. Denn hier bin ich<br />
aufgewachsen, und hier habe ich meine Freunde.<br />
1992 ist meine Schwester Emgehan in Emden geboren<br />
worden, im Jahr 2000 kam dann noch meine<br />
kleine Schwester Axin. Jetzt sind wir eine siebenköpfige<br />
Familie. Seit 2001 leben wir im Kirchenasyl<br />
und warten immer noch auf eine Entscheidung<br />
in unserer Sache. 1996 wurde meine Mutter<br />
Gülhan schwer krank, was <strong>für</strong> unsere Familie<br />
sehr belastend war. Sie lag erst im Emdener Krankenhaus,<br />
dann musste sie in eine Spezialklinik nach<br />
Berlin. Sie hat heute noch an den Folgen ihrer Erkrankung<br />
zu leiden.<br />
Ich bin, wie meine Geschwister auch, in Emden<br />
<strong>zum</strong> Kindergarten gegangen, dann zur Grundschule,<br />
zur Orientierungsstufe und zur Hauptschule.<br />
Zurzeit besuche ich die Berufsschule, das BGJ Kfz-<br />
Elektrik. Mein Bruder Huseyin und ich sind sehr aktiv<br />
im Sport. In unserem Wohnzimmer stehen<br />
zwanzig Pokale. Die haben wir im Fußball, Basketball<br />
und Tischtennis gewonnen. Huseyin spielt jetzt<br />
50
Serhat & Kezban Aldemir<br />
als Fußballer in der Bezirksliga, zusammen mit vielen<br />
deutschen Mannschaftskameraden. Im Sport<br />
zählt <strong>zum</strong> Glück nicht, wo einer herkommt, da<br />
muss man einfach Leistung bringen.<br />
Ich weiß nicht, wie es weitergehen wird. Mit einem<br />
gesicherten Aufenthalt hätten meine Geschwister<br />
Huseyin und Kezban und auch ich eine Ausbildung<br />
machen können, aber wir bekommen keine Arbeitserlaubnis.<br />
Nach deutschem Recht müssten wir eigentlich<br />
in die Türkei zurück, aber wir Kinder können<br />
uns an die Türkei überhaupt nicht erinnern.<br />
Meine beiden kleinen Schwestern sind hier geboren.<br />
Wenn wir zurückkehren, haben wir dort keine<br />
Chance. Wie soll ich in der Türkei einen Beruf erlernen?<br />
Ich kann die Sprache nicht, und ich will<br />
auch nicht zurück. So geht es meiner ganzen Familie.<br />
Für mich kommt noch hinzu, dass ich in der Türkei<br />
bald <strong>zum</strong> Militär müsste, aber da möchte ich auf<br />
keinen Fall hin. Nicht nur, weil Kurden in der türkischen<br />
Armee nichts zu lachen haben - ich möchte<br />
überhaupt nicht <strong>zum</strong> Militär. In Deutschland könnte<br />
ich Ersatzdienst machen, in der Türkei geht das<br />
leider nicht. Wir hoffen und wünschen uns, dass wir<br />
hier bleiben können.<br />
Kezban Aldemir:<br />
Ich heiße Kezban Aldemir und komme aus Emden.<br />
Meine Familie und ich sind vor ungefähr 15 Jahren<br />
nach Deutschland eingereist, als ich ein Jahr alt war.<br />
Wir sind Kurden aus der Türkei. Ich bin hier <strong>zum</strong><br />
Kindergarten gegangen und gehe zurzeit zur Schule.<br />
Da ich gut in der Schule bin, möchte ich den Realschulabschluss<br />
machen. Ich engagiere mich ehrenamtlich<br />
beim Kinderschutzbund, und ich habe beim<br />
Arzt mein freiwilliges Praktikum absolviert.<br />
1996, als ich acht Jahre alt war, wurde meine Mutter<br />
schwer krank. Sie lag sechs Monate lang in Berlin im<br />
Koma, und mein Vater musste sich um uns kümmern.<br />
2001 wurde unser <strong>Asyl</strong>antrag erneut abgelehnt,<br />
und wir wurden aufgefordert, in die Türkei<br />
zurückzukehren. Ich möchte aber nicht zurück! Ich<br />
kann die Sprache nicht und hätte keine Chancen<br />
dort. Zudem haben wir Angst, weil uns in der<br />
Türkei viele <strong>Pro</strong>bleme erwarten. Für mich ist das so,<br />
als würde man einen Deutschen in ein fremdes<br />
Land schicken. Die ganzen Jahre, seit wir hier sind,<br />
hatten wir immer große Sorgen wegen unseres<br />
Aufenthalts.<br />
Am 18.2.2001, kurz bevor wir abgeschoben werden<br />
sollten, sind wir ins Kirchenasyl gekommen. Eine<br />
Woche durften wir nicht raus, dann konnten wir<br />
Kinder wieder zur Schule. Ich habe noch vier<br />
Geschwister: Meine älteren Brüder sind 19 und 17,<br />
meine Schwestern sind zwölf und vier Jahre alt.<br />
Meine Eltern dürfen während des Kirchenasyls das<br />
Haus nicht verlassen. Meine Mutter ist immer noch<br />
krank und muss zur Therapie gebracht werden. Das<br />
organisiert der <strong>Asyl</strong>kreis.<br />
Bis jetzt warten wir auf eine Antwort, ob wir bleiben<br />
können. Meine Mutter braucht therapeutische<br />
Hilfe, die sie in der Türkei nicht bekommen würde.<br />
Mein älterer Bruder ist zwei Jahre zur Berufsschule<br />
gegangen, und als er fertig war, wollte er eine<br />
Ausbildung machen. Durfte er aber nicht, weil wir<br />
keine Arbeitserlaubnis bekommen. Ich würde gerne<br />
Arzthelferin werden und hätte mit meinen Noten<br />
gute Chancen auf einen Aufbildungsplatz. Aber ich<br />
darf ebenfalls keine Ausbildung machen. Ich hoffe<br />
noch - aber wir haben Angst.<br />
(Applaus)<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
51
Mergin Tahiri<br />
28. „Am schlimmsten ist,<br />
dass unsere Familie getrennt werden soll“<br />
Mergim Tahiri<br />
Meine Familie und ich kamen 1994 nach Deutschland.<br />
Meine Eltern heißen Enver und Nexhrmije<br />
Tahiri. Meine Schwester Besarta kam mit 8 Jahren<br />
nach Deutschland, meine andere Schwester Fitore<br />
kam mit 3 ½ Jahren hier her und ich war 18 Monate<br />
alt, als ich hierher kam Meine Mutter ist in Macedonien<br />
geboren. Mein Vater und wir 3 Kindern<br />
sind in Kosovo, in Nord-Mitrovica, geboren worden.<br />
Vom Monat September 1994 bis heute leben<br />
wir mit Duldung. Das erste <strong>Pro</strong>blem kam, weil meine<br />
Mutter in Macedonien geboren ist. Meine Eltern<br />
heirateten 1985 und haben in Nord-Mitrovica<br />
gewohnt, bis wir nach Deutschland kamen. Für<br />
meine Familie und mich war es das Schlimmste, das<br />
sie uns trennen-, meine Mutter nach Macedonien<br />
und meinen Vater und uns Kinder nach Kosovo<br />
schicken wollten.<br />
Mehr als drei Jahre macht der Landkreis Druck,<br />
dass wir Deutschland verlassen oder dass sie uns<br />
getrennt nach Kosovo oder Macedonien schicken.<br />
Wegen dieses ständigen Drucks hat meine Mutter<br />
psychische Depressionen gekriegt, und sie ist immer<br />
noch in Behandlung. Meine Eltern kämpfen seit fast<br />
zehn Jahren, um eine Arbeitserlaubnis zu kriegen.<br />
Im Jahre 2000 fand meine Mutter einen Teilzeit-Job.<br />
Sie arbeitete 16 Monate aber danach verlängerte der<br />
Landkreis Peine unserer Duldung nur <strong>für</strong> 18 Tage,<br />
deswegen verlängerten sie die Arbeitserlaubnis<br />
nicht und sie verlor ihre Arbeit. Mein Vater fand<br />
sehr viele Arbeitsplätze, er hat auch viele Anträge<br />
gestellt <strong>für</strong> die Arbeitserlaubnis, aber das Arbeitsamt<br />
gab ihm keine Arbeitserlaubnis, weil sie ihn<br />
mit einem anderen Tahiri verwechselten, der schon<br />
Straftaten begangen hat.<br />
Mit Hilfe von einem deutschen Freund klärte er<br />
diese Verwechslung und mein Vater kriegte eine<br />
Arbeitserlaubnis.<br />
52
Klaus-Peter Bachmann - SPD<br />
Im. August 2001 fand Papa eine Arbeitsstelle, wo er<br />
28 Monate gearbeitet hat. Er hatte einen unbefristeten<br />
Arbeitsplatz. Meinem Vater wurde die Arbeitserlaubnis<br />
immer <strong>für</strong> die Dauer der Duldung<br />
verlängert, meistens waren das 3 Monate.<br />
Nach 28 Monaten harter Arbeit redete der Landkreis<br />
Peine mit dem Arbeitsamt, uns wurde daraufhin<br />
die Arbeitserlaubnis nicht weiter verlängerte.<br />
Von dem Tag an sind meine Eltern arbeitslos, aber<br />
sie wollen unbedingt arbeiten. Wir waren schon<br />
fünfmal wegen dem <strong>Bleiberecht</strong> vor Gericht. Das<br />
Gericht sagt immer, wir haben Recht, aber sie tun<br />
dann gar nichts. Wir leben immer noch mit der Duldung<br />
und dürften keine Ausbildung machen. Wir<br />
dürfen auch nicht auf Klassenfahrten in ein anderes<br />
Land mitfahren. Meine Eltern und wir Kinder<br />
fühlen uns sehr sehr wohl hier in Deutschland !!!<br />
29. „Wer hier mit Skepsis hergekommen ist,<br />
muss ohne Skepsis diese Veranstaltung<br />
verlassen“<br />
Klaus-Peter Bachmann; Migrationspolitischer Sprecher der SPD-<br />
Fraktion im Niedersächsischen Landtag<br />
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe<br />
Freundinnen und Freunde,<br />
zu meiner Person ist zu sagen, dass ich seit 30<br />
Jahren innerhalb des Verbandes einer der Mitveranstalter,<br />
nämlich der "Arbeiterwohlfahrt", <strong>für</strong> migrationspolitische<br />
Fragen und Integrationsfragen<br />
kämpfe und arbeite, und insofern vieles von dem,<br />
was ich heute gehört habe, natürlich <strong>für</strong> mich nicht<br />
neu ist. Aber eines verspreche ich: Ich werde in die<br />
parlamentarischen Beratungen das, was heute hier<br />
sehr eindrucksvoll auch an Einzelfällen geschildert<br />
wurde, einbringen, und mich insofern <strong>zum</strong> Sprachrohr<br />
dieser Veranstaltung machen.<br />
gesagt hat: Ich werde versuchen, im Rahmen der<br />
parlamentarischen Beratung auch eine <strong>Anhörung</strong><br />
im Innenausschuss des niedersächsischen Landtages<br />
durchzusetzen und nicht nur hier, sondern vor<br />
den Politikern, meinen Kolleginnen und Kollegen,<br />
die zu entscheiden haben. Und ich habe heute überlegt,<br />
da brauchen innerhalb der Regierungskoalition<br />
wohl einige die deutlichen Worte ihres Parteifreun-<br />
Ich bin hier hergekommen mit der ganz klaren<br />
Überzeugung, dass wir eine humanitäre Altfallregelung,<br />
also ein <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong><br />
Flüchtlinge und die Beendigung der Kettenduldung<br />
brauchen. Wer hier mit Skepsis hergekommen ist,<br />
muss ohne Skepsis diese Veranstaltung verlassen.<br />
Das war eine hervorragende Veranstaltung, sie war<br />
gut vorbereitet und sie war sehr eindrucksvoll. Ich<br />
darf Ihnen sehr konkret ankündigen, insofern an<br />
das anknüpfend, was meine Kollegin Marieluise<br />
Beck aus dem Bundestag gesagt hat und was der<br />
ehemalige Kollege Christian Schwarz-Schilling<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
53
Hans-Jürgen Marcus, LAG Freie Wohlfahrtspflege - Fazit<br />
des Christian Schwarz-Schilling. Er hat mir zugesagt,<br />
dass er bereit ist, als Sachverständiger auf Vorschlag<br />
der SPD-Fraktion auch im Landtag zu sprechen.<br />
Was wollen wir konkret erreichen? Wir werden im<br />
nächsten Plenum des Landtags den Niedersächsischen<br />
Innenminister - der ganz offensichtlich zu<br />
den Hardlinern in dieser Frage gehört, so die Erfahrung<br />
aus einjähriger Zusammenarbeit - durch<br />
das Parlament auffordern, sich in der berühmten<br />
Innenministerkonferenz <strong>für</strong> eine bundeseinheitliche<br />
humanitäre Altfallregelung einzusetzen, bzw. im<br />
Rahmen des "faulen Kompromisses" <strong>zum</strong> Zuwanderungsgesetz<br />
eine entsprechende Landesregelung<br />
herbeizuführen. Dazu gehören einige Kriterien: Es<br />
muss Schluss damit gemacht werden - insofern ist<br />
ein Paradigmenwechsel gefordert - den Menschen<br />
immer den nicht selbst verschuldeten Sozialhilfebezug<br />
vorzuwerfen. Wenn man Menschen nicht arbeiten<br />
lässt, dann kann man sie nicht daran messen,<br />
dass sie ihren Lebensunterhalt nicht aus eigener Erwerbstätigkeit<br />
bestreiten.<br />
Zum Zweiten muss damit Schluss gemacht werden,<br />
Menschen den Sozialhilfebezug vorzuwerfen, die<br />
neben dem Erwerbseinkommen nur deswegen<br />
Sozialhilfe beziehen, weil in der Familie Kinder sind<br />
und deshalb Anspruch auf ergänzende Sozialhilfe<br />
besteht. Dies darf nicht <strong>zum</strong> Vorwurf und zur<br />
Begründung der Abschiebung gemacht werden.<br />
Das Kindeswohl muss im Vordergrund stehen. Familien<br />
dürfen nicht getrennt werden, das Kindeswohl<br />
steht auch hier voran. Und deswegen werden<br />
wir sagen, neben dem <strong>langjährig</strong>en Aufenthalt sind<br />
hier geborene und hier mittlerweile schulpflichtig<br />
gewordene Kinder ein zwingender Grund, ein <strong>Bleiberecht</strong><br />
einzuräumen.<br />
In der letzten Plenarsitzung des Landtages wurde<br />
eine Petition beraten, daher habe ich Hoffnung: Es<br />
handelt sich um eine Familie aus Sri Lanka, die<br />
unter die alte <strong>Bleiberecht</strong>sregelung gefallen wäre<br />
und die nur deswegen von Abschiebung bedroht ist,<br />
weil sie wegen der Kinder trotz Erwerbstätigkeit<br />
ergänzende Sozialhilfe braucht. Das ist fast maßgeschneidert,<br />
so wie ja viele Fälle hier vergleichbar<br />
sind. Aufgrund der parlamentarischen Beratungen,<br />
die wir beantragen werden - neben Ihrer der Petition,<br />
die natürlich auch beraten wird - hoffe ich, dass<br />
bis dahin das Innenministerium einen Abschiebestopp<br />
<strong>für</strong> solche ausreisepflichtigen ausländischen<br />
Familien und Einzelpersonen erwirkt, die durch<br />
diese Altfallregelung möglicherweise ein <strong>Bleiberecht</strong><br />
erhalten können.<br />
Das ist meine Botschaft, ich danke <strong>für</strong> diese Veranstaltung<br />
und in meiner Rede im Niedersächsischen<br />
Landtag zu diesem Thema werden sich viele Teile<br />
dessen, was ich hier heute gehört habe, wiederfinden.<br />
(Applaus)<br />
Der Antrag “Für eine humanitäre Altfallregelung”<br />
wurde von der SPD Abgeordneten Jutta Rübke in<br />
Vertretung ihres Kollegen Klaus Peter Bachmann<br />
im Niedersächsischen Landtag eingebracht und<br />
liegt <strong>zum</strong> Zeitpunkt des Erscheinens dieser Dokumentation<br />
dem Innenausschuss des Niedersächsischen<br />
Landtags zur Beratung vor. Die Redaktion<br />
30. Fazit des Vorsitzenden der LAG<br />
der Freien Wohlfahrtspfege<br />
Dr. Hans-Jürgen Marcus<br />
Die Kürze der Politik soll mir Verpflichtung sein.<br />
Ich will eigentlich nur drei Bemerkungen machen.<br />
Die erste Bemerkung: Ich glaube, mit der Veranstaltung<br />
ist es uns gelungen, dem Thema <strong>Bleiberecht</strong><br />
ein Gesicht zu geben. Es ist, glaube ich, deutlich<br />
geworden, dass es nicht nur um ein Thema geht,<br />
sondern um 230.000 Gesichter in Deutschland,<br />
davon 26.000 in Niedersachsen. Einige von diesen<br />
Gesichtern haben wir hier kennen gelernt. Ich<br />
möchte das <strong>zum</strong> Anlass nehmen, insbesondere<br />
denen noch einmal zu danken, die hier über ihre<br />
Situation berichtet haben. Wir haben ja auch mitgekriegt,<br />
dass das nicht immer ganz angstfrei und einfach<br />
war. Ich glaube, das ist ihr Beitrag. Zeigen Sie<br />
54
Memorandum<br />
Ihr Gesicht auch weiterhin, das ist der Teil, den Sie<br />
tun können.<br />
Wir werden mit dem, wie ich finde, doch relativ<br />
eindrucksvollen Bündnis der Veranstalter und<br />
denen, die die Petition gestellt haben, natürlich kritisch<br />
prüfen, was mit dieser Petition im Landtag<br />
passiert. Ich glaube, dass wir gegebenenfalls auch<br />
noch mal deutlich machen müssen, wie breit dieses<br />
Bündnis wirklich ist. Darüber kann ein Landtag in<br />
Niedersachsen in der Beratung nicht einfach<br />
hinweggehen. Herr Bachmann hat dankenswerter<br />
Weise die Initiative zur weiteren parlamentarischen<br />
Beratung angekündigt.<br />
Ich fasse kurz zusammen, liebe Freundinnen, liebe<br />
Freunde, wir haben es mit dem Thema ins Hannoversche<br />
Rathaus geschafft, es gibt keinen Grund<br />
da<strong>für</strong>, dass wir es mit dem Thema nicht vernünftigerweise<br />
auch in den Niedersächsischen Landtag<br />
schaffen.<br />
Schönen Dank <strong>für</strong> Ihre Aufmerksamkeit, und<br />
danke allen, die sich beteiligt haben. (Applaus)<br />
31. Memorandum<br />
zur <strong>Asyl</strong>- und Flüchtlingspolitik<br />
der Niedersächsischen Landesregierung<br />
Mit Besorgnis nehmen die Unterzeichner die<br />
restriktiven Tendenzen in der <strong>Asyl</strong>- und Flüchtlingspo-litik<br />
der Niedersächsischen Landesregierung<br />
wahr. Wir be<strong>für</strong>chten, dass diese Politik eine<br />
Isolation und Ausgrenzung von <strong>Asyl</strong>suchenden und<br />
Flüchtlingen zur Folge hat.<br />
Die Unterzeichner setzen sich da<strong>für</strong> ein, dass die<br />
rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen der<br />
<strong>Asyl</strong>- und Flüchtlingspolitik den Maßstäben von<br />
Humanität, der Achtung der Menschenwürde, der<br />
Respektierung der Menschenrechte und dem wirksamen<br />
Schutz vor Verfolgung entsprechen. Zum<br />
Ausdruck kommen muss dieses vor allem in einer<br />
menschenwürdigen Aufnahme und Unterbringung<br />
sowie einer fairen Durchführung des <strong>Asyl</strong>verfahrens.<br />
Dazu gehört auch die Ermöglichung einer<br />
Inanspruchnahme von Rechtsmitteln gegen ablehnende<br />
Entscheidungen des Bundesamts.<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
55
Memorandum<br />
Darüber hinaus ist es die Aufgabe der<br />
Landesregierung, eine frühzeitige Integration<br />
der Flüchtlinge zu organisieren.<br />
Einen Anspruch auf Integration müssen<br />
auch diejenigen Flüchtlinge haben,<br />
die nicht oder nicht mehr verfolgt sind,<br />
aber schon jahrelang in Deutschland<br />
leben und hier ihren Lebensmittelpunkt<br />
gefunden haben. Schließlich ist denjenigen<br />
Flüchtlingen, die zurückkehren<br />
können und wollen, eine Rückkehr in<br />
Würde zu ermöglichen.<br />
<strong>Asyl</strong>suche ist heute Teil internationaler<br />
Migrationsprozesse mit vielen Facetten<br />
(Flucht und Vertreibung, Not und<br />
Elend, Befreiung aus Unterdrückung,<br />
Verfolgung und Tod, Suche nach<br />
besseren Lebensbedingungen), die alle<br />
Ausdruck der Globalisierung unserer<br />
Welt sind. Die überwiegende Mehrheit<br />
der Flüchtlinge sucht und findet dabei<br />
Aufnahme in den Ländern der Dritten<br />
Welt. Nur ein kleiner Teil von Menschen<br />
in Not erreicht Europa und Deutschland.<br />
Eine verantwortliche Politik muss<br />
eine differenzierte <strong>Asyl</strong>- und Flüchtlingspolitik<br />
gestalten. Prüfstein dabei ist,<br />
ob die erlassenen Maßnahmen und<br />
Regelungen der schwierigen Lebenssituation<br />
der Flüchtlinge gerecht werden.<br />
Politik trägt auch Verantwortung da<strong>für</strong>,<br />
dass in unserer Gesellschaft die Akzeptanz<br />
von <strong>Asyl</strong>su-chenden und Flüchtlingen<br />
erhalten bleibt und gefördert wird.<br />
Sie hat im Rahmen der politischen<br />
Diskussion darauf zu achten, dass unsere<br />
Bevölkerung das vielgestaltige Migrationsgeschehen<br />
versteht. Eine politische<br />
Diskussion, die vorrangig auf einzelne<br />
Missbrauchsfälle und davon abgeleiteter<br />
Abschreckung ausgerichtet ist, wird<br />
dieser Notwendigkeit nicht gerecht.<br />
Einseitige Äuße-rungen und überzeichnete<br />
Bewertungen diskriminieren die<br />
Vielzahl der Menschen, die aus begründeter<br />
Furcht Schutz in unserem Land<br />
suchen.<br />
1. Handlungsprogramm Integration<br />
der Niedersächsischen<br />
Landesregierung<br />
Die Erstellung des Handlungsprogramms<br />
Integration durch die Niedersächsische<br />
Landesregierung als Gestaltungskonzept<br />
<strong>für</strong> Migration und Integration wird<br />
56
Memorandum<br />
begrüßt. Die Unterzeichner bedauern aber, dass das<br />
Handlungsprogramm als Zielgruppen der Integrationsbemühungen<br />
ausschließlich Zuwanderinnen<br />
und Zuwanderer deutscher wie nichtdeutscher<br />
Staatsangehörigkeit mit einem dauerhaften Aufenthaltsrecht<br />
versteht. Hierdurch werden <strong>Asyl</strong>suchende,<br />
Flüchtlinge und <strong>geduldete</strong> Ausländer von allen<br />
Integrationsangeboten ausgeschlossen.<br />
<strong>Asyl</strong>suchende Flüchtlinge sind stets potenzielle<br />
<strong>Asyl</strong>berechtigte, die nach der rechtlichen Anerkennung<br />
ein Daueraufenthaltsrecht besitzen. Eine sachund<br />
zukunftsorientierte <strong>Asyl</strong>- und Flüchtlingspolitik<br />
sollte Integrationsansätze auch vorurteilsfrei einbeziehen<br />
mit Blick auf den Zuwanderungsbedarf und<br />
der demographischen Entwicklung in unserem<br />
Land.<br />
Der besonderen Situation von Flüchtlingen angemessen<br />
ist daher eine ergebnisoffene Beratung der<br />
Betroffenen darüber, welche Möglichkeiten und<br />
Perspektiven sich ihnen in Deutschland, im<br />
Herkunftsland oder in einem Drittland eröffnen.<br />
Eine bloße "Rückkehrberatung" <strong>für</strong> Flüchtlinge, die<br />
sich noch im Verfahren befinden und Hoffnung auf<br />
eine Schutzgewährung in Deutschland machen, ist<br />
unglaubwürdig und wird von uns abgelehnt. Flüchtlinge<br />
benötigen zunächst einmal eine faire und<br />
unabhängige Verfahrens- und Rechtsberatung. Sie<br />
sind oft unter großen Entbehrungen und nicht<br />
ohne Grund nach Deutschland geflüchtet, und<br />
verlangen zu Recht erst einmal Informationen<br />
darüber, welche Chancen und Möglichkeiten sie<br />
hier haben.<br />
Eine strukturelle Ausgrenzung von Menschen<br />
durch Arbeitsverbote, Unterbringung in Sammelunterkünften<br />
und Leistungseinschränkung zermürbt<br />
auf Dauer die Betroffenen und produziert soziale<br />
Folgekosten: Menschen, die über lange Zeit zur<br />
Untätigkeit gezwungen und vom Arbeitsmarkt<br />
ausgeschlossen wurden, werden schneller krank und<br />
haben oft große Schwierigkeiten, wieder einen<br />
Einstieg in das Arbeitsleben zu bekommen, wenn<br />
sie später ein Aufenthaltsrecht erhalten.<br />
Auch zur Erhaltung und Bewahrung des sozialen<br />
Friedens ist es geboten, den Flüchtlingen eine sozialverträgliche<br />
Teilnahme am Alltagsleben zu ermöglichen.<br />
Eine Isolation und Ausgrenzung von Flüchtlingen<br />
führt zu Missverständnissen und Konflikten<br />
und begünstigt Rassismus.<br />
Im Interesse unserer Gesellschaft und der auf<br />
Dauer in Deutschland bleibenden <strong>Asyl</strong>suchenden<br />
ist es deshalb unverzichtbar, dass eine Integrationsförderung<br />
ab dem ersten Tag der Einreise vor allem<br />
durch Sprachlernangebote erfolgt. Dieses gilt insbesondere<br />
<strong>für</strong> Kinder und Jugendliche, damit eine<br />
erfolgreiche schulische Integration gelingen kann.<br />
Von elementarer Bedeutung ist eine Integrationsförderung<br />
aber auch <strong>für</strong> die berufliche Integration<br />
der <strong>Asyl</strong>suchenden und Flüchtlinge, die nicht<br />
wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren können,<br />
egal aus welchen Gründen.<br />
Forderungen:<br />
- Beginn der Sprachlernangebote bereits in<br />
den ZASten<br />
- Frühzeitige Integration in den Arbeitsmarkt<br />
erforderlich, vor allem dann, wenn eine<br />
Rückkehr ins Heimatland in Kürze nicht absehbar<br />
ist.<br />
2. Erstaufnahme und faire<br />
Verfahrensdurchführung<br />
Die beiden in Braunschweig und Oldenburg vorhandenen<br />
Zentralen Anlaufstellen (ZASten) sollten<br />
ausschließlich <strong>für</strong> die Erstaufnahme von <strong>Asyl</strong>suchenden<br />
und Flüchtlingen genutzt werden. Der<br />
Aufenthalt muss auf die gesetzlich vorgesehenen<br />
drei Monate befristet bleiben, damit der Integrationsprozess<br />
- möglicherweise auch nur vorübergehend<br />
- in einem lebensnahen gesellschaftlichen<br />
Umfeld erfolgt. Eine längerfristige Unterbringung<br />
in den ZASten ist nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt.<br />
Die aufgrund rückläufiger Zugangszahlen<br />
entstehenden räumlichen Überkapazitäten müssen<br />
abgebaut werden, statt sie <strong>für</strong> eine dauerhafte Unterbringung<br />
zu nutzen.<br />
Die Unterzeichner halten an ihrer Forderung fest,<br />
dass zu einer umfassenden Verfahrensdurchführung<br />
eine unabhängige Verfahrensberatung gehört.<br />
Diese behördenunabhängige Beratung ist ein<br />
grundlegender Beitrag zur effektiveren Durchführung<br />
von <strong>Asyl</strong>verfahren. Wir treten deshalb<br />
weiterhin <strong>für</strong> eine Wiedereinführung dieses Beratungsangebotes<br />
ein.<br />
Aufgrund der <strong>für</strong> Kinder und Jugendliche besonders<br />
belastenden Unterbringungsform in den<br />
ZASten halten wir ein ausreichend pädagogisches<br />
Betreuungsangebot <strong>für</strong> unerläßlich.<br />
Forderungen:<br />
- Erstaufnahmeunterbringung nur <strong>für</strong> die<br />
ersten 3 Monate<br />
- Behördenunabhängige Beratung <strong>zum</strong><br />
<strong>Asyl</strong>verfahren<br />
- Abbau von Überkapazitäten in den ZASten<br />
- Pädagogisches Betreuungsangebot <strong>für</strong><br />
Kinder und Jugendliche in den ZASTen<br />
- Umfassende und freiwillige<br />
Erstgesundheitsberatung nach Aufnahme<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
57
Memorandum<br />
3. Unterbringungskonzept<br />
Mit Sorge verfolgen wir die Politik der Landesregierung,<br />
Flüchtlinge immer stärker in zentralen<br />
Aufnahme stellen zu isolieren. Statt den Aufforderungen<br />
des Landesrechnungshofs Folge zu leisten<br />
und angesichts drastisch zurückgegangener Flüchtlingszahlen<br />
die zentralen Unterbringungskapazitäten<br />
abzubauen, hat die Landesregierung vielmehr eine<br />
verstärkte Unterbringung von Flüchtlingen in der<br />
Landesaufnahmestelle (LASt) Bramsche (ehemaliges<br />
Grenzdurchgangslager) beschlossen und umgesetzt.<br />
Diese Entscheidung hat zur Folge, dass immer<br />
mehr Flüchtlinge in "Lagern" bleiben müssen, statt<br />
sie wie bisher dezentral auf die Kommunen umzuverteilen.<br />
Allein die ZASt Braunschweig hat 700<br />
Plätze, die Außenstelle Goslar zusätzlich 300 Plätze.<br />
Die ZASt Oldenburg verfügt ebenfalls über 700<br />
Plätze, die LASt Bramsche demnächst über 550<br />
Plätze <strong>für</strong> Flüchtlinge. Das macht eine Gesamt-<br />
Unterbringungskapazität von 2.250 Plätzen aus.<br />
Nach den Berechnungen des Niedersächsischen<br />
Landesrechnungshofes sind die Kosten <strong>für</strong> die<br />
Unterbringung von Flüchtlingen in zentralen Anlauf-<br />
und Aufnahmestellen etwa dreimal höher als<br />
bei einer dezentralen Unterbringung. Fiskalische<br />
Argumente als Rechtfertigung dieser Unterbringung<br />
über die gesetzlich vorgesehene 3-Monatsfrist<br />
hinaus greifen demnach nicht. Auch die Verantwortung<br />
<strong>für</strong> das Personal des Landes in den vorgenannten<br />
Einrichtungen kann dieses Unterbringungskonzept<br />
nicht rechtfertigen.<br />
Offenbar ist es das Ziel dieser neuen Unterbringungspolitik,<br />
Flüchtlinge während der gesamten<br />
Dauer ihres Aufenthaltes in Niedersachsen zu isolieren<br />
und die oben genannten Einrichtungen als<br />
"verdeckte Ausreisezentren" zu etablieren. Bei der<br />
Bewertung dieser Entscheidung ist zu beachten,<br />
dass ein großer Teil der <strong>Asyl</strong>verfahren bis <strong>zum</strong><br />
rechtskräftigen Abschluss durchaus mehrere Jahre<br />
dauern. Die Unterzeichner lehnen eine solche Unterbringung<br />
aus humanitären Gründen ab: Jeder<br />
Flüchtling hat seine Heimat, seine sozialen Bezüge,<br />
die Familie und seine Freunde zurück-lassen müssen.<br />
Viele haben jahrelange Unterdrückung, Verfolgung,<br />
traumatische Erfahrungen durch Bürgerkriege,<br />
Kriege, Inhaftierungen, Folter hinter sich. Sie müssen<br />
zur Ruhe kommen, brauchen Beratung und Unterstützung,<br />
und sie wünschen sich in der Regel nichts mehr<br />
als ein ganz normales Leben in einer eigenen Wohnung.<br />
In zentralen Unterbringungsstätten werden die<br />
Menschen dagegen über längere Zeit isoliert und<br />
ausgegrenzt; ihr alltägliches Leben wird fremdbestimmt,<br />
normale Nachbarschaftskontakte fehlen.<br />
Auch eine eventuelle Arbeitsaufnahme zur Sicherstellung<br />
einer eigenverantwortlichen Lebensführung ist<br />
ihnen nur unter erschwerten Bedingungen möglich.<br />
Die vorstehende Beschreibung gilt insbesondere <strong>für</strong><br />
Minderjährige. Wir können die Absicht der Landesregierung<br />
nicht akzeptieren, auch Familien mit<br />
Kindern langfristig zentral unterzubringen und<br />
Flüchtlingskinder abseits der Regelschulen direkt im<br />
Lager zu unterrichten. <strong>Pro</strong>bleme vor Ort bei der<br />
Beschulung großer Gruppen von Flüchtlingskindern<br />
sind eine unmittelbare Folge dieser Unterbringungspolitik.<br />
Statt mit pseudopädagogischer<br />
Begründung die Sonderbehandlung von Flüchtlingen<br />
auch auf Kinder auszuweiten, fordern wir die Fortsetzung<br />
der dezentralen Unterbringung, um u.a.<br />
eine gezielte Förderung von Flüchtlingskindern in<br />
den Regelschulen zu ermöglichen.<br />
Forderungen:<br />
- Dezentrale Unterbringung nach 3 Monaten<br />
ZASt-Aufenthalt<br />
- Vorbereitung der Kinder und Jugendlichen<br />
während des ZASt-Aufenthaltes auf den<br />
Regelschulbesuch<br />
- Nach 3-monatigem Aufenthalt Beschulung<br />
in den Regelschulen<br />
4. Zur Aufhebung des Erlasses des Nds.<br />
Innenministers vom 21.11.1995 "Hinweise<br />
zur Förderung der freiwilligen Ausreise zur<br />
Vermeidung und Beantragung von<br />
Abschiebungshaft"<br />
Der Erlass des Niedersächsischen Innenministers<br />
zur Förderung der freiwilligen Ausreise sowiezur<br />
Vermeidung und Beantragung von Abschiebungshaft<br />
aus dem Jahr 1995 erfolgte seinerzeit vor dem<br />
Hintergrund heftiger innenpolitischer Auseinandersetzungen:<br />
Viele Menschenrechtsorganisationen,<br />
Kirchen und Verbände hatten sich darüber<br />
empört, dass Flüchtlinge nach jahrelangem Aufenthalt<br />
in Nacht- und Nebel-Aktionen ohne Vorankündigung<br />
in Abschiebungshaft genommen und<br />
abgeschoben wurden. Der Erlass vom 28.11.1995<br />
war eine Reaktion auf diese Kritik. Er stellte klar,<br />
dass bei der Einleitung von Abschiebungen und der<br />
Verhängung von Abschiebungshaft "der verfassungsmäßige<br />
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit<br />
besonders zu beachten" ist. Daher sollte grundsätzlich<br />
eine freiwillige Ausreise ermöglicht werden.<br />
Abschiebungen sollten im Regelfall aus der Freiheit<br />
heraus erfolgen und Abschiebungstermine so rechtzeitig<br />
angekündigt werden, "dass die Betroffenen<br />
Gelegenheit haben, ihre Ausreise vorzubereiten und<br />
ihre persönlichen Angelegen-heiten zu regeln".<br />
Mit der Aufhebung dieses Erlasses setzt die Nds.<br />
Landesregierung ein erschreckendes Signal: Nicht<br />
die Menschenwürde der Flüchtlinge, sondern die<br />
Zahl der vollzogenen Abschiebungen setzt den<br />
Maßstab <strong>für</strong> das Handeln der Ausländerbehörden.<br />
58
Memorandum<br />
Zu be<strong>für</strong>chten ist, dass wieder vermehrt Fälle von<br />
"überfallartigen Abschiebungen im Morgengrauen"<br />
durchgeführt werden und dass noch mehr Flüchtlinge<br />
noch länger in Abschiebungshaft bleiben<br />
müssen, ohne dass eine Abschiebung kurzfristig<br />
möglich ist.<br />
Es ist falsch, wenn der Innenminister behauptet, eine<br />
Abschiebung käme <strong>für</strong> die Betroffenen nicht<br />
überraschend, denn sie wüssten von der Notwendigkeit,<br />
Deutschland wieder verlassen zu müssen.<br />
Tatsache ist aber, dass lt. Bundesverwaltungsamt<br />
26.161 Menschen nach Abschluss ihrer <strong>Asyl</strong>verfahren<br />
mit einer sog. "Duldung" in Niedersachsen leben,<br />
davon allein rd.15.000 seit mehr als fünf Jahren.<br />
(Ergänzender Hinweis: Im Bundesgebiet leben lt.<br />
Bundesverwaltungsamt 226.569 Geduldete, davon<br />
150.000 länger als 5 Jahre. Das sind 66%, Stand:<br />
31.12.2003.) Diese Menschen können nicht jahrelang<br />
täglich mit einer Abschiebung rechnen. Sie<br />
machen sich verständliche Hoffnungen, <strong>für</strong> sich<br />
und ihre Kinder eine Zukunftsperspektive in<br />
Deutschland zu erhalten.<br />
Innenminister Schünemann verweist in der Begründung<br />
zur Erlassaufhebung auf die Tatsache, dass<br />
ein Teil der Flüchtlinge eine Abschiebung durch<br />
Vorlage ärztlicher Atteste verhindert. Er verschweigt<br />
hingegen, dass viele der Betroffenen in<br />
Folge von Folter und traumatischen Kriegserfahrungen<br />
nicht abgeschoben werden dürfen und<br />
Abschiebungsschutz erhalten haben. Dass derartige<br />
Krankheiten oft erst kurz vor einer drohenden<br />
Abschiebung erkannt und behandelt werden, macht<br />
auf bestehende Missstände im Bereich der gesundheitlichen<br />
Versorgung von Flüchtlingen aufmerksam.<br />
Wir begrüßen, dass sich inzwischen auch über<br />
die fachinterne Öffentlichkeit hinaus ein Bewusstsein<br />
<strong>für</strong> das Ausmaß von Traumatisierungen bei Flüchtlingen<br />
und deren <strong>Pro</strong>bleme mit dieser Krankheit<br />
entwickelt hat. Statt darüber nachzudenken, wie<br />
man die Opfer von Folter und Krieg schneller<br />
abschieben kann, fordern wir von der Landesregierung,<br />
bessere medizinische Hilfen und Therapiemöglichkeiten<br />
<strong>für</strong> diesen Personenkreis zu schaffen.<br />
Die Erfahrungen mit einer unabhängigen Verfahrensberatung<br />
in Niedersachsen haben auch gezeigt,<br />
dass dieses Beratungs-angebot wesentlich dazu<br />
beitragen kann, dass Traumatisierte und Folteropfer<br />
sich eher öffnen und so diese individuellen Fluchtaspekte<br />
bereits zu einem früheren Zeitpunkt in den<br />
<strong>Asyl</strong>verfahren berücksichtigt werden können.<br />
Forderungen:<br />
- Rücknahme der Aufhebung des Erlasses<br />
vom 28.11.1995<br />
- Vorherige schriftliche Ankündigung des<br />
Abschiebungstermins<br />
- Bessere medizinische Angebote <strong>für</strong><br />
Traumatisierte<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
59
Memorandum<br />
5. <strong>Asyl</strong>bewerberleistungsgesetz / Aufhebung<br />
des Gutscheinzwangs <strong>für</strong> Flüchtlinge<br />
Die vom Innenausschuss zu Beginn des Jahres vorgenommene<br />
<strong>Anhörung</strong> zu der Frage, ob Niedersachsen<br />
die Kommunen weiterhin zwingen sollte,<br />
Gutscheine an Flüchtlinge auszugeben, hatte uns<br />
zunächst hoffen lassen, dass die Landesregierung<br />
dem Beispiel von Nachbarländern folgen und den<br />
Kommunen <strong>zum</strong>indest die Form der Leistungsgewährung<br />
<strong>für</strong> Flüchtlinge freistellen würde, <strong>zum</strong>al die<br />
angehörten Institutionen und Fachverbände sich<br />
<strong>für</strong> eine Aufhebung des Sachleistungszwangs ausgesprochen<br />
hatten. Mit Enttäuschung stellen wir jetzt<br />
fest, dass die Landesregierung trotz dieses eindeutigen<br />
Votums am Gutscheinzwang festhalten will.<br />
Die Begründung, Flüchtlinge würden mit Bargeld<br />
nur ihre Fluchthelfer bezahlen, halten wir <strong>für</strong> nicht<br />
zutreffend. Aus <strong>langjährig</strong>er Erfahrung wissen wir,<br />
dass Fluchthilfe- und Schlepperdienste in der Regel<br />
vor der Flucht bezahlt werden müssen und keinesfalls<br />
aus den spärlichen staatlichen Transferleistungen<br />
beglichen werden können, die <strong>für</strong> Flüchtlinge ohnehin<br />
nur rund 70% des Sozialhilfesatzes ausmachen. Der<br />
Einkauf mit Gutscheinen wird von den Betroffenen<br />
als demütigend und diskriminierend empfunden. Die<br />
Gutscheinausgabe dient - ebenso wie die Unterbringung<br />
in den Sammelunterkünften - vorrangig<br />
dem Zweck der "Abschreckung". Wir halten es <strong>für</strong><br />
menschenun-würdig und lehnen schon seit Beginn<br />
der Regelung ab, ausländerrechtliche Ziele durch<br />
leistungsrechtliche Restriktionen erreichen zu wollen,<br />
<strong>zum</strong>al diese nachweislich <strong>für</strong> die Kommunen Mehrkosten<br />
zur Folge haben. Deshalb fordern wir das<br />
Land Niedersachsen, auf sich <strong>für</strong> die Abschaffung<br />
des <strong>Asyl</strong>bewerberleistungsgesetzes einzusetzen.<br />
Forderung:<br />
- Aufhebung des Gutscheinzwangs <strong>für</strong><br />
Flüchtlinge<br />
- Aufforderung an die Niedersächsische<br />
Landesregierung , sich auf Bundesebene <strong>für</strong><br />
die Abschaffung des <strong>Asyl</strong>bewerberleistungsgesetzes<br />
einzusetzen.<br />
6. Duldungspraxis -<br />
<strong>Bleiberecht</strong>sregelung <strong>für</strong> Geduldete<br />
Seit Jahren bemängeln die Verbände der Freien<br />
Wohlfahrtspflege, Kirchen und Menschenrechtsorganisationen<br />
die Praxis der nicht hinnehmbaren<br />
Kettenduldungen. Allein in Niedersachsen hielten<br />
sich <strong>zum</strong> 31.12.03 insgesamt 26.161 Personen mit<br />
einer Duldung auf, rd. 15.000 schon länger als fünf<br />
Jahre, etliche auch seit über zehn Jahren.<br />
1999 einigten sich die Innenminister der Bundesländer<br />
auf eine generelle Altfallregelung <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong><br />
<strong>geduldete</strong> Flüchtlinge. Durch diese Regelung gelang<br />
es zwar einer großen Zahl (ca. 4.000) in Niedersachsen.<br />
lebenden Flüchtlingen einen gesicherten<br />
Aufenthalt zu erlangen und durch den gleichzeitigen<br />
Anspruch auf eine Arbeitsberechtigung sich in<br />
Nds. zu integrieren. Allerdings war die große Gruppe<br />
der <strong>geduldete</strong>n Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien<br />
von dieser Regelung ausgenommen. Sie<br />
und eine Vielzahl von nach Niedersachen geflohenen<br />
Menschen aus Ländern wie Afghanistan, Liberia,<br />
Togo, Angola und Kongo, aber auch aus Irak<br />
und Syrien, deren <strong>Asyl</strong>anträge aus unterschiedlichen<br />
Gründen abgelehnt wurden, leben daher über Jahre<br />
hinweg mit immer wieder neu erteilten Duldungen<br />
in Niedersachsen.<br />
60
Memorandum<br />
Die meisten von ihnen sind Familien mit Kindern,<br />
die hier aufgewachsen sind und <strong>zum</strong> Teil hier geboren<br />
wurden. Deutschland ist ihnen zur Heimat geworden.<br />
Sie haben hier die Schule besucht und sprechen besser<br />
deutsch als die Sprache ihrer Eltern. Zu den Herkunftsländern<br />
ihrer Eltern haben sie kaum noch<br />
Bezug.<br />
Trotz der fortgesetzten Unsicherheit ihres Aufenthaltes<br />
versuchen viele, sich zu integrieren. Aber<br />
selbst wenn ihnen kein Arbeitsverbot auferlegt ist,<br />
haben sie wegen der oft nur kurzfristig erteilten<br />
Duldung kaum eine Möglichkeit zu arbeiten.<br />
Ohne eine baldige <strong>Bleiberecht</strong>sregelung müssen<br />
sie weiterhin in einer aufenthaltsrechtlichen Unsicherheit<br />
leben oder gar ihre Abschiebung be<strong>für</strong>chten.<br />
Die vorhandenen Qualifi-kationen und Potenziale<br />
von Flüchtlingen gehen verloren. Eine langfristige<br />
Perspektivlosigkeit, Unsicherheit und Angst<br />
führen in vielen Fällen zu sozialen, psychischen<br />
und gesundheitlichen Krisen und ziehen soziale<br />
Folgekosten nach sich.<br />
Forderung:<br />
- Aufforderung an die Niedersächsische<br />
Landesregierung, sich auf Bundesebene<br />
<strong>für</strong> eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung einzusetzen<br />
7. Härtefallregelung<br />
Ergänzend zu einer <strong>Bleiberecht</strong>sregelung, die eine<br />
Aufnahmeregelung <strong>für</strong> die Gruppe der <strong>langjährig</strong><br />
Geduldeten beinhaltet, ist eine Härtefallregelung<br />
zur Lösung auftretender Härtefälle notwendig. Aus<br />
der Beratungspraxis sind uns Fälle von Menschen<br />
bekannt, die z.T. seit Jahren in Deutschland leben.<br />
Sie können weder abgeschoben werden, noch kann<br />
aufgrund der bestehenden Regelungen der geltenden<br />
Gesetze eine befriedigende und rechtsstaatlich<br />
einwandfreie Lösung gefunden werden. Ist erst<br />
einmal eine Ablehnung rechtskräftig entschieden<br />
worden, verbleiben keine Spielräume mehr, um zu<br />
einer humanitären Lösung zu kommen.<br />
Forderungen:<br />
- Einrichtung einer Härtefallkommission<br />
durch die Niedersächsische<br />
Landesregierung<br />
8. Beratungsstruktur<br />
Die bisherigen Anstrengungen einer zunehmenden<br />
Vernetzung von trägerübergreifenden Angeboten<br />
in der niedersächsischen Migrationsarbeit werden<br />
von uns überwiegend als Fortschritt gewertet.<br />
Dabei muss allerdings darauf hingewiesen werden,<br />
dass die Umsetzung in erste Linie weniger aufgrund<br />
qualitativer Überlegungen, sondern eher als Folge<br />
massiv wegfallender landesfinanzierter Stellen bei<br />
freien Trägern und Initiativen war.<br />
Derzeit ist festzustellen, dass aus dem politischen<br />
Raum immer dann verstärkt Ehrenamt-lichkeit<br />
gefordert wird, wenn hauptamtliche Strukturen<br />
nicht mehr aufrechterhalten werden können oder<br />
sollen. Im Bereich der Arbeit mit Migrantinnen und<br />
Migranten hat es in der Vergangenheit bereits<br />
immer schon ein hohes Maß ehrenamtlicher Mitarbeit<br />
gegeben. Selbst wenn der Anteil ehrenamtlichen<br />
Engagements noch verstärkt werden könnte,<br />
besteht die Notwendigkeit einer ausreichend ausgestatteten<br />
Struktur hauptamtlich besetzter Stellen.<br />
Vernetzungsbemühungen aller Beteiligten können<br />
letztlich nur dann wirklich erfolgreich sein, wenn als<br />
Grundlage eine flächendeckende Mindeststruktur<br />
vorhanden ist.<br />
Neben der Schaffung einer klaren und ausreichenden<br />
strukturellen Arbeitsebene ist es den politisch<br />
Verantwortlichen in den letzten Jahrzehnten nicht<br />
gelungen, ein Integrationsklima zu schaffen, das<br />
einen gesellschaftlichen Konsens über ein Miteinander<br />
von Deutschen und Migranten erkennbar voranbringt.<br />
Nur wenn die Mehrheitsgesellschaft überhaupt<br />
weiß, wohin sie und ihre politische Führung<br />
will, besteht die Chance, die noch bestehenden<br />
<strong>Pro</strong>bleme des Zusammenlebens vernünftig zu<br />
lösen.<br />
Forderungen:<br />
- Sicherstellung einer verlässlichen<br />
Finanzierung und einer ausreichenden<br />
flächen deckenden Beratungsstruktur<br />
- Motivationsunterstützung Ehrenamtlicher<br />
durch Schaffung verlässlicher politischer<br />
und auf Perspektive ausgerichteter<br />
Rahmenbedingungen auf Landes- und<br />
Bundesebene<br />
Unterzeichner:<br />
Landesarbeitsgemeinschaft der Freien<br />
Wohlfahrtspflege (LAG Niedersachsen)<br />
Niedersächsischer Flüchtlingsrat<br />
Das Memorandum wird (bisher) weiterhin unterstützt<br />
von:<br />
Arbeitsgemeinschaft MigrantInnen und Flüchtlinge<br />
in Niedersachsen (AMFN)<br />
Janusc-Korzak-Verein Humanitäre Flüchtlingshilfe<br />
e.V.<br />
Integrationsrat Göttingen<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
61
Landtagesdebatte<br />
32. Landtagsdebatte <strong>zum</strong> Thema<br />
“Für eine humantitäre Altfallregelung”<br />
vom 25. Juni 2004<br />
Nachfolgend dokumentieren wir die Landtagsdebatte vom 25. Juni 2004 zu den Anträgen "Für eine humanitäre<br />
Altfallregelung 2004" - Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 15/1132 und "<strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> ethnische<br />
Minderheiten aus dem Kosovo" - Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 15/1148.<br />
Beide Anträge wurden zur weiteren Behandlung in die Ausschüsse verwiesen. Folgende Aspekte sind bemerkenswert:<br />
- Den Ausführungen des CDU-Abgeordneten Hans-Christian Biallas läßt sich entnehmen,<br />
dass die CDU der Einrichtung einer Härtefallkommission kritisch bis ablehnend gegenüber steht: Biallas<br />
tendiert dazu , Härtefallentscheidungen im Rahmen des Petitionsverfahrens zu treffen und dabei ggfs. ein<br />
positives Votum von privaten Bürgschaftserklärungen Dritter abhängig zu machen. (Der niedersächsische<br />
Innenminister Schünemann hat im Interview mit Radio Flora bereits erklärt, dass er von der Einrichtung<br />
einer Härtefallkommission nichts hält.) Der Abgeordnete Gansäuer (CDU) betrachtet die Rückkehr ethnischer<br />
Minderheiten als eine Art pädagogisches <strong>Pro</strong>gramm zur Erziehung der Kosovaren/innen, die lernen<br />
sollen, sich multiethnisch zu organisieren. Dabei ignoriert er, dass die Menschen, um die es bei der<br />
<strong>Bleiberecht</strong>skampagne geht, oft längst ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben und nicht einfach<br />
<strong>zum</strong> Instrument zur Durchsetzung außenpolitischer Ziele gemacht werden können. Eine Unterstützung<br />
<strong>für</strong> eine Sonderregelung zugunsten von ethnischen Minderheiten aus dem Kosovo oder gar <strong>für</strong> eine allgemeine<br />
<strong>Bleiberecht</strong>sregelung ist von der CDU Niedersachsen wohl kaum zu erwarten. - Die Abgeordnete<br />
Jutta Rübke (SPD), die <strong>für</strong> den krankheitsbedingt abwesenden Abgeordneten Klaus-Peter Bachmann<br />
in die Bresche gesprungen ist, vertritt die Notwendigkeit einer <strong>Bleiberecht</strong>sregelung in einer klaren Sprache<br />
und überzeugenden Form. Zu Recht verweist aber der Abgeordnete Riese (FDP) darauf, dass es <strong>zum</strong>indest<br />
auch ihr Parteikollege Otto Schily war und ist, der eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung bislang verhindert<br />
(hat). Womöglich eignet sich der Antrag der SPD wie auch seine Begründung, um die SPD in anderen<br />
Bundesländern wie auch auf Bundesebene <strong>für</strong> eine entsprechendePolitik zu gewinnen. - Der Abgeordneten<br />
Georgia Langhans (Grüne) gebührt das Verdienst, die <strong>Bleiberecht</strong>sforderung immer wieder engagiert<br />
im Landtag <strong>zum</strong> Thema zu machen und dabei ausdrücklich insbesondere auch ein Aufenthaltsrecht <strong>für</strong><br />
ethnische Minderheiten aus dem Kosovo einzufordern. Auch ihr wird man allerdings sagen müssen, dass<br />
ihre Partei auf Bundesebene nicht das einlöst, was sie auf Landesebene fordert. - Der Abgeordnete Roland<br />
Riese (FDP) verweist zwar am Rande auf die abgeschwächte <strong>Bleiberecht</strong>sregelung in dem Gesetzesentwurf<br />
der FDP <strong>für</strong> ein Zuwanderungsgesetz aus dem letzten Jahr, sieht sich gleichzeitig jedoch<br />
genötigt, unter Bezugnahme auf Brecht eine "Widerstandspflicht" gegen das "Unrecht" eines generellen<br />
<strong>Bleiberecht</strong>s <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong> Flüchtlinge zu proklamieren. Es ist geplant, <strong>zum</strong> diesjährigen "Tag<br />
des Flüchtlings" in allen Bundesländern noch einmal Pressekonferenzen <strong>zum</strong> Thema "<strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> Geduldete"<br />
durchzuführen. Die vorliegende Dokumentation unserer gemeinsamen <strong>Anhörung</strong> am 4. Juni<br />
2004, die auch in der Plenardebatte mehrfach angesprochen wurde, wird hoffentlich die weitere öffentliche<br />
Debatte <strong>zum</strong> Thema beflügeln.<br />
Kai Weber<br />
Auszug aus der 39. Plenarsitzung des niedsächsischen<br />
Landtags am 25.6.2004:<br />
Ich rufe jetzt vereinbarungsgemäß die beiden folgenden<br />
Tagesordnungspunkteszusammen auf, also<br />
Tagesordnungspunkt 48 Erste Beratung: Für eine<br />
humanitäre Altfallregelung 2004 - Antrag der Fraktion<br />
der SPD -Drs. 15/1132undTagesordnungspunkt<br />
49: Erste Beratung: <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> ethnische<br />
Minderheiten aus dem Kosovo - Antrag der FraktionBündnis<br />
90/Die Grünen - Drs. 15/1148 (Unruhe)<br />
Zu diesen Anträgen findet gleich, nachdem Ruhe<br />
eingekehrt ist, antragsgemäß die erste Beratung<br />
statt. - Herzlichen Dank. Ich erteile nunmehr von<br />
der SPD-Fraktion Frau Rübke das Wort. Bitte<br />
schön, Frau Rübke!<br />
Jutta Rübke (SPD):<br />
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren, sehr geehrte<br />
Damen! Ich kann weder plattdeutsch denken noch<br />
plattdeutsch sprechen. Daher kommt es jetzt leider<br />
nur auf Hochdeutsch. Ich bitte da<strong>für</strong> schon um<br />
Entschuldigung. Aber vielleicht nehme ich Nachhilfeunterricht,<br />
am liebsten natürlich dann bei Meta.<br />
(Heiterkeit und Beifall - Karl-Heinz Klare [CDU]:<br />
Das finde ich irgendwie unfair! Das können Sie<br />
62
Landtagesdebatte<br />
auch beim Kultusminister haben!)<br />
- Ja gut, ich wechsele vielleicht einmal. Im Hinblick<br />
auf Gender Mainstreaming wäre das vielleicht eine<br />
Möglichkeit.<br />
(Zuruf von der SPD: Meta war aber besser!)<br />
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, die Hoffnung,<br />
dass es im zu erwartenden Zuwanderungsgesetz<br />
eine bundeseinheitliche generelle Altfallregelung<br />
geben wird, schwindet dahin. Denn die derzeit<br />
vorgesehene Härtefallregelung im Zuwanderungsgesetz<br />
ersetzt keine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung. Falls Sie,<br />
Herr Innenminister, noch Chancen <strong>für</strong> eine Regelung<br />
im Zuwanderungsgesetz sehen, fordern wir Sie<br />
herzlich auf, sich da<strong>für</strong> bis zuletzt einzusetzen und<br />
sich<br />
nicht der Mehrheit der unionsgeführten Länder<br />
anzuschließen, die gegen eine bunde-seinheitliche<br />
Lösung sind.<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
Andernfalls fordern wir die Niedersächsische Landesregierung<br />
auf, eine niedersächsische Altfallregelung<br />
zu erlassen. Denn <strong>für</strong> die große Anzahl<br />
<strong>langjährig</strong> hier lebender Flüchtlinge ist eine klare<br />
Lösung erforderlich. Die letzte <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />
wurde in Niedersachsen 1999 beschlossen.<br />
Seitdem ist die Zahl der Krisenherde in der Welt<br />
nicht kleiner geworden. Ökologische und ökonomische<br />
Katastrophen, Bürgerkriege und die dramatische<br />
Situation im Nahen Osten treiben Menschen<br />
aus ihren Heimatländern in die Flucht. Wer will es<br />
ihnen verdenken! Die Länder der Völkergemeinschaft,<br />
in denen es zurzeit keine lebensbedrohenden<br />
Katastrophen gibt, sind verpflichtet, Flüchtlingen<br />
zu helfen. Darum auch wir hier in der Bundesrepublik<br />
Deutschland und wir hier in Niedersachsen.<br />
Ein breites Bündnis aus Wohlfahrtsverbänden,<br />
Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen,<br />
Kirchen und Gewerkschaften setzt sich zurzeit mit<br />
einer Petition beim Niedersächsischen Landtag <strong>für</strong><br />
ein <strong>Bleiberecht</strong> <strong>für</strong> <strong>langjährig</strong> in Niedersachsen<br />
<strong>geduldete</strong> Flüchtlinge ein. Viele der hier lebenden<br />
Flüchtlinge sind zehn Jahre und länger in Niedersachsen,<br />
sind integriert, beherrschen die deutsche<br />
Sprache oft besser als die Heimatsprache ihrer Eltern<br />
und kennen deren Heimat oft nur aus Erzählungen.<br />
Diese so genannten <strong>geduldete</strong>n Menschen<br />
unterliegen in Niedersachsen einem faktischen Arbeitsverbot.<br />
Aber Arbeit gehört <strong>zum</strong> Menschen wie<br />
beim Vogel das Fliegen. Nimmt man ihm die Flügel,<br />
dann ist er kein Vogel mehr. Wegen des so genannten<br />
Nachrangigkeitsprinzips erhalten sie auch bei<br />
Nachweis eines Arbeitsplatzes keine Arbeitserlaubnis.<br />
Jugendliche, die ein Ausbildungsangebot haben,<br />
können es nicht annehmen, da ihnen die Arbeitserlaubnis<br />
verweigert wird. Sie alle werden damit<br />
bewusst in den Bezug von Sozialhilfe gedrängt, und<br />
das wiederum wirkt sich nachteilig auf ihre Aufenthaltsverfestigung<br />
aus. Die jahrelange Verweigerung<br />
von Arbeit, die belastenden Lebensbedingungen,<br />
unter denen <strong>geduldete</strong> Flüchtlinge und <strong>Asyl</strong><br />
Suchende und deren Kinder leben müssen, führt bei<br />
vielen zu Depressionen, Antriebslosigkeit, Resignation<br />
und Verlust des Selbstwertgefühls. Meine<br />
Herren und Damen von CDU und FDP, wenn im<br />
Moment auch nicht so viele im Saal sind<br />
(Zuruf von der FDP: Bei Ihnen sind es aber auch<br />
nicht viele!)<br />
- Die kennen aber vielleicht schon meine Rede.<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
63
Landtagesdebatte<br />
(Jörg Bode [FDP]: Deshalb sind die weggelaufen?)<br />
Herr Bode, vor Ihnen würden meine Kollegen weglaufen,<br />
nicht vor mir! -<br />
Meine Damen und Herren von CDU und FDP, ich<br />
glaube, dass Sie sich unserem Antrag anschließen<br />
werden. Denn auch Sie haben das Bild der Familie<br />
aus Sri Lanka vor Augen, deren Petition wir am 28.<br />
Mai hier im Hause diskutiert haben und die letztendlich<br />
negativ beschieden wurde. Hätte es da<br />
schon eine Altfallregelung gegeben, könnte diese<br />
Familie hier bleiben; denn sie hätte alle Kriterien<br />
einer Regelung erfüllt: <strong>langjährig</strong>er Aufenthalt in der<br />
Bundesrepublik Deutschland, hier geborene und<br />
schon schulpflichtige Kinder, keine Straffälligkeit,<br />
Lebensunterhalt gesichert durch eigene Erwerbstätigkeit<br />
bzw. Sozialhilfebezug, der nicht selbst zu<br />
verantworten ist, da keine Vermittlung von Erwerbstätigkeit<br />
möglich ist. Ausnahmen müssen nur dann<br />
gemacht werden, wenn das Erwerbseinkommen nur<br />
deshalb nicht ausreicht und ergänzende Sozialhilfe<br />
gezahlt werden muss, weil Kinder zu versorgen<br />
sind. Dies ist keine Besserstellung von Familien mit<br />
Kindern, sondern eine Gleichstellung mit kinderlosen<br />
Familien bzw. Einzelpersonen. Denn es ist<br />
unser aller moralische Pflicht, Kindern, egal aus<br />
welchem Land sie kommen, Lebenschancen zu<br />
geben<br />
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)<br />
Für eine Altfallregelung spricht auch, dass die Kommunen<br />
finanziell erheblich entlastet würden; denn<br />
mit dem Erhalt der Aufenthaltsbefugnis ist der<br />
Anspruch auf Erteilung einer Arbeitsberechtigung<br />
verbunden. Nachweislich können die meisten<br />
Flüchtlinge ihren Lebensunterhalt ab diesem Zeitpunkt<br />
ohne Sozialhilfe bestreiten. Der derzeitige<br />
Iststand hingegen bedeutet eine jahrelange Alimentierung<br />
dieser Menschen. Herr Innenminister Schünemann,<br />
ich fordere Sie auf, uns die derzeitigen<br />
Kosten <strong>für</strong> diesen Personenkreis zu nennen. Denen<br />
gegenüberzustellen wären die erwerbsfähigen<br />
Personen. Das würde den einen Zweifler oder die<br />
andere Zweiflerin bestimmt von einer Altfallregelung<br />
überzeugen.<br />
Ich hoffe auf eine konstruktive Zusammenarbeit im<br />
Innenausschuss, Herr Biallas. Als weiteren mitberatenden<br />
Ausschuss bitte ich den Ausschuss <strong>für</strong><br />
Rechts- und Verfassungsfragen und die Ausländerkommission<br />
zu benennen. - Vielen Dank, dass Sie<br />
auch einer Rede in Hochdeutsch zugehört haben.<br />
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)<br />
Vizepräsidentin Astrid Vockert: Für die Fraktion<br />
Bündnis 90/Die Grünen erteile ich der Frau Kollegin<br />
Langhans das Wort. Bitte schön!<br />
Georgia Langhans (GRÜNE):<br />
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr<br />
verehrte Kolleginnen und Kollegen! Jetzt ist Frau<br />
Merk leider nicht da. Ich wollte eine ganz kleine<br />
Vorabbemerkung zu der Arbeit im Petitionsausschuss<br />
machen. Im Prinzip hat sie Recht. Es muss<br />
aber jeder Fraktion gestattet sein, dass sich nach<br />
anderen Überlegungen, die sich in der Fraktion<br />
64
Landtagesdebatte<br />
ergeben, bei nachrangigen Beratungen eine andere<br />
Position ergibt. Das muss möglich sein.<br />
(Beifall bei den GRÜNEN)<br />
Meine Damen und Herren, in den vergangenen<br />
Jahren schien sich die Situation der ethnischen<br />
Minderheiten im Kosovo zu verbessern. Es gab<br />
weniger Sicherheitszwischenfälle, es gab etwas<br />
mehr Bewegungsfreiheit. Mit anderen Worten: Es<br />
gab etwas mehr Normalität. Wie instabil die Lage<br />
trotz Verbesserung dennoch war, haben Mitglieder<br />
des Landtagspräsidiums bereits vor einem Jahr bei<br />
ihrem Besuch im Kosovo hautnah miterleben<br />
können. Nach<br />
der Ermordung von drei Serben war die Stimmung<br />
im Kosovo derart aufgeheizt, dass der damalige<br />
UN-Beauftragte Michael Steiner be<strong>für</strong>chtete, dieser<br />
Anschlag könnte der Auftakt <strong>für</strong> weitere Gewaltakte<br />
sein. Leider hat sich diese Be<strong>für</strong>chtung Anfang<br />
dieses Jahres auf dramatische Weise bewahrheitet.<br />
Mit den gewaltsamen Auseinandersetzungen im<br />
März hat sich die Lage <strong>für</strong> die ethnischen Minderheiten<br />
im Kosovo weiter erheblich verschlechtert.<br />
Internationale Beobachter sprechen von pogromartigen<br />
Unruhen und Auseinandersetzungen. Mehr<br />
als 4 000 Kosovo-Serben, Ashkali und Roma sind<br />
aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben<br />
worden, 19 Personen starben, Häuser wurden<br />
niedergebrannt, Kirchen und Klöster zerstört oder<br />
beschädigt. Mehr als 1 000 Personen, darunter zahlreiche<br />
KFOR-Soldaten und UN-Polizisten, wurden<br />
verletzt. Es gelang weder den internationalen noch<br />
den kosovarischen Sicherheitskräften, die gezielten<br />
Übergriffe auf Rückkehrersiedlungen zu verhindern.<br />
Ebenso wenig ist es gelungen, die Vertreibung<br />
von ethnischen Minderheiten zu verhindern. Von<br />
den Vertreibungen waren im Übrigen auch Gorani<br />
und Bosniaken betroffen. Viele von ihnen haben<br />
vorsichtshalber ihre Wohnungen verlassen und sich<br />
an andere Orte begeben. Die Situation hat sich <strong>für</strong><br />
alle serbischsprechenden Minderheiten verschlechtert;<br />
unter ihnen wächst die Angst Meine Damen<br />
und Herren, die UN-Verwaltung hat entschieden,<br />
ab 17. März Abschiebungen von ethnischen Minderheiten<br />
in den Kosovo zu stoppen. UNMIK,<br />
UNHCR und OSZE haben übereinstimmend<br />
erklärt, dass Leben und Grundrechte von Minderheitenangehörigen<br />
im Kosovo massiv gefährdet<br />
sind. Meine Damen und Herren, daraus ergibt sich<br />
die logische Konsequenz, dass Rückführungen auf<br />
absehbare Zeit unterbleiben müssen.<br />
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)<br />
Denn eine erzwungene Rückkehr setzt das äußerst<br />
fragile ethnische Gleichgewicht aufs Spiel und<br />
erhöht die Gefahr erneuter innerethnischer Zusammenstöße.<br />
Die Bundesregierung unternimmt zurzeit<br />
größte Anstrengungen, die Lage im Kosovo zu<br />
stabilisieren und zu verbessern. In dieser Situation<br />
Abschiebungen in den Kosovo auch nur in Erwägung<br />
zu ziehen, wäre nicht nur menschlich, sondern<br />
auch sicherheitspolitisch unverantwortlich.<br />
(Beifall bei den GRÜNEN)<br />
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein<br />
Wort dazu sagen: Wenn Familienväter straffällig<br />
werden, dann darf meines Erachtens darunter nicht<br />
die Familie leiden. Dann sollte man die Familienväter<br />
ausweisen, aber bitte <strong>zum</strong>indest die Familien hier<br />
lassen. Es kann in unseren Augen keine Sippenhaft<br />
geben Meine Damen und Herren, stattdessen ist es<br />
jetzt an der Zeit, <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong>n Minderheitenangehörigen<br />
aus dem Kosovo einen rechtmäßigen<br />
und dauerhaften Aufenthalt zu gewähren. Sie<br />
haben ihre <strong>langjährig</strong>e Duldung in den meisten Fällen<br />
nicht selbst verschuldet. Mit dem Memorandum<br />
of understanding verbietet sich bisher ihre Abschiebung,<br />
und das wird sich auch in absehbarer Zeit<br />
nicht ändern. Da CDU und CSU im Bund eine Altfallregelung<br />
im jetzt beschlossenen Zuwande-rungsbegrenzungsgesetz<br />
verhindert haben, ist es nunmehr<br />
Sache der Länder, hier Regelungen zu treffen.<br />
Wir fordern Innenminister Schünemann auf, sich<br />
auf der Innenministerkonferenz mit Nachdruck <strong>für</strong><br />
eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung von <strong>langjährig</strong> <strong>geduldete</strong>n<br />
Minderheiten aus dem Kosovo einzusetzen. Um es<br />
ganz deutlich zu sagen: Eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />
kann sich nicht ausschließlich am Sozialhilfebezug<br />
orientieren. Hier dürfen Realitäten nicht weiterhin<br />
ausgeblendet werden, auch nicht die - das ist auch<br />
eben von der SPD angesprochen worden -, dass die<br />
nachgeordnete Arbeitserlaubnis einem faktischen<br />
Arbeitsverbot gleichkommt. Gängige Praxis ist es<br />
auch, dass Arbeitsverbote ausgesprochen und Ausbildungsverbote<br />
<strong>für</strong> Jugendliche erteilt werden, weil<br />
Duldungen <strong>zum</strong>eist u. a. nur noch wochenweise<br />
ausgesprochen werden. Wenn es <strong>Asyl</strong>bewerbern<br />
trotz aller schier unüberwindbaren Hindernissen<br />
gelingt, dennoch eine Arbeitsstelle zu bekommen,<br />
wird diese in der Regel so schlecht bezahlt, dass sich<br />
ergänzende Sozialhilfe oftmals nicht vermeiden<br />
lässt. <strong>Asyl</strong>bewerbern jede Möglichkeit einer<br />
Erwerbstätigkeit zu entziehen und ihnen das auch<br />
noch anzulasten, das kann man getrost als Zynismus<br />
bezeichnen.<br />
(Beifall bei den GRÜNEN)<br />
Meine Damen und Herren, heute zeigt sich, dass<br />
wir mit unserem Antrag im Mai 2003 <strong>für</strong> eine <strong>Bleiberecht</strong>sregelung<br />
sehr richtig lagen. Wieder einmal<br />
hat sich erwiesen, dass die CDU nicht in der Lage<br />
ist, sich, was die ausländerrechtlichen Fragen anbelangt,<br />
dringenden <strong>Pro</strong>blemen zu stellen und nach<br />
Möglichkeiten zu suchen. Sie sind immer nur dann<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
65
Landtagesdebatte<br />
in vorderster Front zu finden, wenn es darum geht,<br />
restriktiv gegen Ausländer zu handeln. Die Frage<br />
einer <strong>Bleiberecht</strong>sregelung ist nicht weiter auf die<br />
lange Bank zu schieben. Nicht nur die <strong>Anhörung</strong><br />
<strong>zum</strong> <strong>Bleiberecht</strong> am 4. Juni im Rathaus in Hannover<br />
hat das nachhaltige Engagement von Kirchen,<br />
Wohlfahrtsverbänden, PRO ASYL aufgrund eines<br />
anhaltenden Handlungsdruckes wieder einmal eindrucksvoll<br />
bestätigt - übrigens auch viele <strong>Pro</strong>minente:<br />
Herr Schwarz-Schilling hat dort geredet, Norbert<br />
Blüm, Heiner Geißler, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger<br />
und nicht zuletzt unsere Ausländerbeauftragten<br />
des Landes und des Bundes, sie alle unterstützen<br />
inzwischen die Kampagne "Hiergeblieben!".<br />
(Beifall bei den GRÜNEN)<br />
Nach Jahren ist immerhin jetzt auch die SPD da<strong>für</strong>.<br />
Es verbietet sich hier, von Populismus zu sprechen.<br />
Ich nehme es Ihnen ab, dass auch Sie von der dringenden<br />
Notwendigkeit eines <strong>Bleiberecht</strong>s unter<br />
bestimmten Bedingungen überzeugt sind. Den<br />
wesentlichen Punkt haben Sie schon angesprochen.<br />
Meine Damen und Herren, seien Sie dabei trotz<br />
alledem ehrlich, auch wenn es unpopulär ist. Solange<br />
das faktische Arbeitsverbot <strong>für</strong> <strong>Asyl</strong>bewerber<br />
aufrechterhalten bleibt, werden immer Sozialhilfekosten<br />
anfallen. Es wäre also sinnvoll, meine<br />
Damen und Herren von der CDU, Bundesinnenminister<br />
Schily davon zu überzeugen, den Zugang <strong>zum</strong><br />
Arbeitsmarkt <strong>für</strong> die betroffenen Personen zu<br />
ermöglichen. Da die Zusammenarbeit - <strong>zum</strong>indest<br />
in der Vergangenheit - von Herrn Schily mit Herrn<br />
Beckstein und Herrn Müller so gut geklappt hat, ist<br />
das sicherlich auch auf Dauer Erfolg versprechend.<br />
Ansonsten begrüßen wir den Antrag der SPD-Fraktion.<br />
Ermöglicht er doch, uns noch ein weiteres Mal<br />
mit der Altfallregelung zu befassen. Nachdem das<br />
Zuwanderungsgesetz keine diesbezüglichen Regelungen<br />
vorsieht, sind in erster Linie die Länder in<br />
die Verantwortung zu nehmen. Meine Damen und<br />
Herren von CDU und FDP, verweigern Sie sich diesem<br />
Anliegen nicht. Es geht hier nicht mehr um die<br />
Aufrechterhaltung von Paragrafen und Gesetzesvorgaben.<br />
Es geht um Einzelschicksale, es geht um<br />
Menschen. Wir haben es hier oft genug deutlich<br />
rlebt. Ermöglichen Sie, meine Damen und Herren,<br />
aus humanitären Gründen heraus zunächst eine<br />
<strong>Bleiberecht</strong>sregelung <strong>für</strong> die Minderheiten aus dem<br />
Kosovo, und lassen Sie uns im weiteren Verlauf<br />
über eine generelle Altfall-regelung verhandeln.<br />
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)<br />
Vizepräsidentin Astrid Vockert: Für die CDU-Fraktion<br />
spricht nunmehr Herr Kollege Biallas. Bitte<br />
schön!<br />
Hans-Christian Biallas (CDU):<br />
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und<br />
Herren! Es geht hier in derTat um ein sehr ernstes<br />
Thema, weil es um Menschen geht. Ich möchte zu<br />
dem Antrag der SPD-Fraktion reden. Der Kollege<br />
Gansäuer wird gleich noch etwas zu dem Antrag der<br />
Fraktion der Grünen sagen. Sie, meine Damen und<br />
Herren von der SPD, fordern eine Altfallregelung.<br />
Das neue Zuwanderungsgesetz sieht diese ausdrücklich<br />
nicht vor,<br />
(Dieter Möhrmann [SPD]: Warum nicht?)<br />
auch nicht, wie Sie sie fordern, mit Einschränkungen.<br />
Ich weiß nicht, warum Herr Schily, der Verhand-<br />
66
Landtagesdebatte<br />
lungsführer der SPD gewesen ist, so entschieden<br />
hat. Deswegen haben Sie auch vorsorglich in Ihren<br />
Antrag geschrieben, dass es dann eine niedersächsische<br />
Sonderregelung geben soll. Ich kann Ihnen<br />
sehr deutlich sagen: Es wird keine Sonderregelung<br />
geben. Gleichwohl ist das <strong>Pro</strong>blem, das Sie angesprochen<br />
haben, sehr ernst. Wir müssen sehen, wie<br />
wir mit den Regelungen des Zuwanderungsgesetzes<br />
- so wie es hier vorliegt und noch nicht verabschiedet<br />
worden ist - eine verantwortbare Lösung finden.<br />
Bisher haben wir in der Vergangenheit verschiedene<br />
Altfallregelungen gehabt. Ich persönlich war immer<br />
gegen die bisher üblichen Stichtagsregelungen. Ich<br />
will auch sagen, warum. Ich finde Stichtagsregelungen<br />
nicht gut, weil sie von einem bestimmten Termin<br />
ausgehen. Wer vorher eingereist ist, kam in den<br />
Genuss der Regelung, egal wer er war und in welcher<br />
Situation er und seine Familie sich befanden,<br />
während Menschen in anderen Fällen, bei denen wir<br />
alle wahrscheinlich gesagt hätten, die müssten hier<br />
bleiben, nicht in diesen Genuss kamen, weil sie - das<br />
hat es gegeben - zwei, drei Tage später eingereist<br />
waren. Meiner Meinung nach ist dies nicht das richtige<br />
Instrument. Auch hatten wir Fälle, bei denen<br />
wir Altfallregelungen, auf bestimmte Länder bezogen,<br />
beschlossen haben. Das ist jetzt auch durchaus<br />
üblich, insbesondere im Zusammenhang mit der<br />
Duldung, die ausgesprochen wird und dann jeweils<br />
nach der Befristung verlängert werden muss. Diese<br />
Duldung bezieht sich auf die konkrete Situation in<br />
dem Land, in das nicht erfolgreiche <strong>Asyl</strong>bewerber<br />
abgeschoben werden müssten, was aber nicht vollzogen<br />
wird, weil dort Bürgerkrieg oder andere Umstände<br />
herrschen, die das unmöglich machen. Wenn<br />
man dem folgen würde, was die SPD hier möchte,<br />
würde man sozusagen das Instrument der Duldung<br />
abschaffen, indem man sagt: Alle diejenigen, die die<br />
Kriterien erfüllen, die hier genannt sind, sollen bleiben.<br />
Nun müssen wir sehen, was wir mit den Regelungen<br />
des neuen Gesetzes tun werden. Es gibt ja<br />
auch die Möglichkeit der Härtefallkommission. Wir,<br />
die beiden großen Fraktionen, waren uns bisher,<br />
nachdem wir uns vor einigen Jahren in Berlin einen<br />
Einblick verschafft hatten, darüber einig, dass wir<br />
das in Niedersachsen nicht wollen. Gleichwohl - das<br />
will ich sehr deutlich sagen - ist uns allen bewusst,<br />
dass es Härtefälle gibt. Ein solcher ist im letzten<br />
Plenarsitzungsabschnitt verhandelt worden. Ich will<br />
nur sagen: Ich war immer da<strong>für</strong>, dass es Möglichkeiten<br />
<strong>für</strong> den Fall gibt, dass der Petitionsausschuss<br />
- damals der Innenausschuss - mit einer qualifizierten<br />
Mehrheit - wir hatten auch schon einmal den<br />
Fall, dass einstimmig beschieden wurde - in einem<br />
bestimmten Fall sagt: Die müssen aber hier bleiben.<br />
- Bei dem letzten Mal war es ein bisschen anders, da<br />
der Petitionsausschuss einstimmig genau das Gegenteil<br />
von dem beschlossen hat, was hier die Fraktionsführung<br />
aufgeführt hat. Wir sollten uns schon<br />
darauf einigen, dass mit einer qualifizierten Mehrheit<br />
gearbeitet wird. Ich sage nur noch eines dazu -<br />
damit der Kollege Gansäuer genügend Redezeit hat<br />
-: Ich meine, es ist richtig, wenn wir den Petitionsausschuss<br />
mit besonderen Kompetenzen ausstatten,<br />
damit er mit einer besonders qualifizierten Mehrheit<br />
- vielleicht Dreiviertelmehrheit - in einzelnen, ganz<br />
begründeten Fällen empfehlen kann, einer Petition<br />
zuzustimmen. Außerdem meine ich - ohne dass ich<br />
mich festlegen will -, dass wir es an bestimmte Leistungen<br />
derer, die die Petenten unterstützen, binden<br />
sollten, sodass man, wenn z. B. eine Kirchengemeinde<br />
sagt, dass jemand hier bleiben soll, weil es in<br />
dem Fall nachvollziehbar ist, festlegt: Ihr müsst so<br />
etwas wie eine Bürgschaft <strong>für</strong> ein, zwei, drei Jahre<br />
übernehmen. Und wenn sie selbst arbeiten, dann<br />
wird sie ja nicht fällig, aber als eine Art Ansporn ist<br />
das vielleicht nicht schlecht. Dann begrenzt man<br />
eine solche Regelung auf absolut einzelne Härtefälle,<br />
ohne dass man wieder neue Regelungen schafft,<br />
die von der Bundesregelung abweichen, und man<br />
bindet das an die Entscheidung des Parlamentes,<br />
was uns sehr wichtig ist. Wir müssen im Ausschuss<br />
darüber reden. Ich finde es gut, dass Sie das Thema<br />
angesprochen haben. Aber dieses Thema verdient<br />
eine sehr sachgerechte Auseinandersetzung. Insofern<br />
ist es wichtig, dass wir darüber in der Ausländerkommission<br />
reden. Aber, wie gesagt, wir müssen<br />
nicht <strong>für</strong> alle, sondern <strong>für</strong> absolut begründete Ausnahme-<br />
und Einzelfälle ein Instrument da<strong>für</strong> finden,<br />
wie wir verantwortungsvoll damit umgehen. -<br />
Vielen Dank <strong>für</strong> das Zuhören.<br />
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)<br />
Vizepräsidentin Astrid Vockert Das Wort hat nun<br />
der Kollege Gansäuer. Bitte schön!<br />
Jürgen Gansäuer (CDU):<br />
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich<br />
schätze das persönliche Engagement der Kollegin<br />
Langhans sehr - das will ich ausdrücklich betonen -<br />
, aber ich muss Ihnen auch sagen, dass die Darstellung<br />
doch ein bisschen sehr einfach war. Denn<br />
wenn es alles so einfach wäre, wie Sie es dargestellt<br />
haben, wäre es eigentlich kein <strong>Pro</strong>blem Ich will es<br />
auf den Punkt bringen, weil ich nur wenig Zeit habe:<br />
Wir haben 5 Millionen Arbeitslose. Jeden Tag<br />
verlieren wir in Deutschland 1 000 Arbeitsplätze.<br />
Ich könnte ganz polemisch ausholen und fragen,<br />
wer da<strong>für</strong> <strong>zum</strong>indest mitverantwortlich ist. Das lasse<br />
ich jetzt aber alles hintangestellt. Vor diesem Hintergrund<br />
jedoch sozusagen flächendeckend Arbeitserlaubnisse<br />
zu erteilen, darüber werden sich die<br />
Gewerkschaften und Arbeitnehmer sehr freuen. Als<br />
ich in Stadthagen bei der Firma OTIS vor den<br />
Arbeitnehmern gesprochen und hinterher mit ihnen<br />
diskutiert habe, kam dieses Thema auch hoch. Die<br />
sehen das völlig anders. Gehen Sie doch bitte mal<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
67
Landtagesdebatte<br />
dort hin und sprechen Sie mit den Leuten einmal<br />
über deren Nöte und über deren <strong>Pro</strong>bleme. Dann<br />
werden Sie plötzlich erleben, dass sie eine völlig<br />
andere Sicht haben. Im Übrigen weiß ich das auch<br />
aus den Diskussionen beim DGB.<br />
Also vergewissern Sie sich mal schnell. Wenn die<br />
Konkurrenz um Arbeitsplätze, die wir jetzt auch mit<br />
Polen und Tschechien austragen müssen, nun auch<br />
noch auf alle <strong>Asyl</strong>bewerber ausgeweitet wird, dann<br />
kann ich Ihnen sagen: Gute Nacht in Deutschland!<br />
Dann wird es problematisch.<br />
(Stefan Wenzel [GRÜNE]: Das steht doch gar nicht<br />
drin, Herr Gansäuer! -Zuruf von der SPD)<br />
Sie müssen nun einmal damit leben, dass dies auch<br />
ein Teil der Wahrheit ist, mit der wir umgehen müssen.<br />
Zum Zweiten: Kosovo. Meine Damen und Herren,<br />
ich glaube, es gibt kaum jemanden in diesem Raum,<br />
der sich auch innerlich mehr <strong>für</strong> dieses Land engagiert,<br />
als ich es in den vergangenen eineinhalb Jahren<br />
gemacht habe. Ich wage zu behaupten, dass es<br />
auch nicht so viele gibt, die dieses Land besser kennen<br />
als ich, denn wir haben jede Woche miteinander<br />
Kontakt: mit dem Parlamentspräsidenten, mit dem<br />
Kultusminister und mit dem Präsidenten der Universität<br />
in Pristina. Ich habe viele Verbindungen<br />
zustande gebracht, die es vorher nicht gegeben hat.<br />
Deshalb - so glaube ich - kann ich darüber auch<br />
etwas sagen In diesem Land spielt sich eine Tragödie<br />
ab. Frau Langhans weiß das. Nach einem versuchten<br />
Völkermord durch Milosevic - wir wissen,<br />
dass das alles strategisch angelegt war; die Unterlagen<br />
liegen heute ja vor - haben wir Deutschen das<br />
erste Mal nach dem zweiten Weltkrieg <strong>für</strong> die<br />
Kosovaren wieder Krieg geführt. Das ist unsere<br />
Verantwortung. Man kann nicht Bomben werfen<br />
und sich anschließend aus der Verantwortung stehlen<br />
wollen. Das will hier auch niemand. Deutschland<br />
hat <strong>für</strong> das Kosovo mehr Verantwortung als<br />
<strong>für</strong> jedes andere Land in Europa, denn wir haben<br />
dort Bomben geschmissen, wir haben geschossen<br />
und wir haben unsere Soldaten geschickt, die auch<br />
heute noch dort stehen. Deshalb bitte ich bei meinen<br />
Kritikern auch um Verständnis da<strong>für</strong>, dass ich<br />
mich so engagiere, weil dies weit über die Tagesaktualität<br />
hinaus große Bedeutung hat Allerdings ist<br />
das, liebe Frau Langhans, was Sie jetzt beantragen -<br />
ich habe vorhin gerade noch einmal mit zwei<br />
Freunden aus dem Kosovo telefoniert -, genau das,<br />
was das Kosovo nicht braucht. Wir dürfen das<br />
Kosovo und die Kosovaren insgesamt nicht aus der<br />
Verpflichtung entlassen - was wir täten, wenn wir<br />
Ihrem Antrag zustimmen würden -, dass sie sich<br />
multiethnisch organisieren und zusammenleben<br />
müssen. Wenn Sie nämlich verindern, dass es Rückkehrer<br />
auch aus ethnischen Minderheiten gibt, und<br />
wenn Sie ihnen dauerhaft eine Aufenthaltsgenehmigung<br />
gewähren, dann verhindern Sie das multiethnische<br />
Zusammenleben. Das Kosovo kann nur<br />
existieren, wenn sich die Bevölkerung innerlich<br />
bereitfindet, multiethnisch zusammenzuleben. Deshalb<br />
bin ich aus grundsätzlichen Erwägungen in<br />
diesem Fall dagegen. Wir können gerne noch einmal<br />
darüber reden. Meine letzte Bemerkung, meine<br />
Damen und Herren: Über das, was die Bundesregierung<br />
macht, würde ich mit Ihnen gerne einmal<br />
streiten. Dieses Land hängt seit fünf Jahren in einer<br />
Weise auf der Rolle, wie es international keinen Vergleich<br />
gibt. Das Folgende sage ich jetzt einmal, weil<br />
ich innerlich angefasst bin. Von Joschka Fischer, der<br />
sich sonst so gut zu verkaufen weiß, was ja sein gutes<br />
Recht ist, hätte ich mehr Engagement erwartet,<br />
damit dieser unheilvolle Zustand, in dem sich das<br />
Kosovo befindet, endlich einmal beendet wird.<br />
Deutschland sollte eine bessere Rolle spielen als die,<br />
die es bisher in den vergangenen Jahren gespielt hat.<br />
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)<br />
Vizepräsidentin Astrid Vockert: Für die FDP-Fraktion<br />
spricht Herr Kollege Riese. Bitte schön!<br />
Roland Riese (FDP):<br />
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und<br />
Herren! Verehrter Herr Parlamentspräsident<br />
Gansäuer, Sie haben in bewegenden Worten<br />
geschildert, wie die Lage im Kosovo ist. Ich bin sehr<br />
zuversichtlich, dass sich doch wohl die meisten in<br />
diesem Hause Ihrer Einschätzung, was dort zu tun<br />
ist, um zu einer Zukunft <strong>für</strong> die Menschen in diesem<br />
bedrängten Land zu kommen, anschließen werden.<br />
In der Tat sind derzeit 19 500 Soldaten im Auftrag<br />
der Vereinten Nationen damit beschäftigt, die<br />
UN-Resolution Nr. 1244 im Kosovo durchzusetzen,<br />
darunter 3 700 Deutsche. Zu den Zielen der<br />
genannten Resolution gehört bekanntlich die Herstellung<br />
von Schutzzonen und die Aufbauhilfe <strong>für</strong><br />
rückkehrende Flüchtlinge, die ihre Häuser dort<br />
wieder aufbauen müssen. 6 Milliarden Euro hat die<br />
internationale Staatengemeinschaft mittlerweile<br />
<strong>zum</strong> Balkan-Stabilitätspakt beigetragen. Soeben<br />
erst, nämlich am 27. Mai, hat der Deutsche Bundestag<br />
fast einstimmig das Mandat der Bundeswehr <strong>für</strong><br />
den Kosovo-Einsatz verlängert. Da<strong>für</strong> gab es eine<br />
große, übergreifende Mehrheit und nur ganz wenige<br />
Gegenstimmen. Aber es hat bei dieser Gelegenheit<br />
den Bundesaußenminister Joschka Fischer einige<br />
Verrenkungen und einen ganz erheblichen Vorrat<br />
seiner bekannt verquasten Formulierungen gekostet,<br />
um begreiflich zu machen, dass und warum<br />
ein Ende dieses 1999 begonnenen Einsatzes nicht<br />
absehbar ist. Es sind überhaupt keine Fristen<br />
erkennbar. An humanitärer Hilfe aus Deutschland<br />
und aus der Staatenge-meinschaft <strong>für</strong> den Kosovo<br />
fehlt es mithin nicht Wenn man nun vor diesem<br />
68
Landtagesdebatte<br />
Hintergrund und auch vor dem Hintergrund der<br />
Ausführungen von Herrn Gansäuer den Grünen-<br />
Antrag betrachtet, dann kann man nur mit Brecht<br />
antworten: Wo Recht <strong>zum</strong> Unrecht wird, wird Widerstand<br />
zur Pflicht. - Denn es geht Ihnen nicht um<br />
das <strong>Bleiberecht</strong> in besonderen Fällen, sondern es<br />
geht Ihnen, wie wir auch aus den vorangegangenen<br />
Diskussionen über Petitionen wissen, um eine<br />
Generalregelung, die in der Tat das Ziel der<br />
Bemühungen der KFOR im Kosovo ad absurdum<br />
führen würde. An diesem Ziel sollten wir in diesem<br />
Hause miteinander festhalten, obwohl das natürlich<br />
im Bundestag zu entscheiden ist.<br />
(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Jürgen<br />
Gansäuer [CDU]: Richtig! Völlig richtig!)<br />
Nun ein Aspekt, der auch <strong>zum</strong> Thema der individuellen<br />
Schicksale gehört: Wer illegal nach Deutschland<br />
eingereist und hier straffällig geworden ist, den<br />
müssen wir doch etwas anders behandeln als diejenigen,<br />
die hier im Rahmen des Rechtes um Schutz<br />
nachgesucht haben. Der SPD-Antrag enthält gute<br />
Gesichtspunkte. Allerdings muss ich Ihnen, verehrte<br />
Damen und Herren, sagen, dass er mit glühend<br />
heißer Nadel gestrickt ist. Als Frau Rübke gerade<br />
ausführte, dass die Hoffnung auf eine Altfallregelung<br />
auf Bundesebene schwindet, habe ich mich<br />
auch noch einmal daran erinnert, dass es nicht die<br />
SPD war, die eine Altfallregelung auf Bundesebene<br />
gefordert hat. Ich möchte Ihnen, verehrte Genossinnen<br />
und Genossen, an dieser Stelle einmal vortragen,<br />
was man auf Ihrer Homepage <strong>zum</strong> Zuwanderungskompromiss<br />
finden kann und womit Sie bei<br />
Ihren Wählern um Verständnis da<strong>für</strong> werden. Dort<br />
ist u. a. zu lesen: "Der Zuzug von Ausländern wird<br />
begrenzt durch konsequente Durchsetzung der<br />
Ausreisepflicht abgelehnter <strong>Asyl</strong>bewerber." Wollen<br />
Sie das, oder wollen Sie das nicht? Insbesondere zur<br />
Altfallregelung sagt Ihr Bundesminister, Otto Schily,<br />
der heute schon einmal erwähnt worden ist. "Nein,<br />
es hat zweimal eine Altfallregelung gegeben. Das<br />
reicht." Es war die FDP, die als erste einen Gesetzentwurf<br />
zur Zuwanderung in den Bundestag eingebracht<br />
hat. Unser Gesetzentwurf enthielt eine Altfallregelung<br />
mit sehr genau aufgeführten Kriterien,<br />
die u. a. Straffreiheit und außerdem eine konkrete<br />
Frist umfassen, nämlich sechs Jahre Aufenthaltsdauer<br />
in Deutschland.<br />
Ich stelle noch einmal fest: Der grün-rote Gesetzentwurf<br />
enthielt dagegen keine Altfallregelung. Daher<br />
kann ich Ihre Krokodilstränen anlässlich der<br />
Veranstaltung im Hannoveraner Rathaus am 4. Juni,<br />
in der es durchaus nicht nur um das Kosovo ging,<br />
sondern an der Flüchtlinge und <strong>Asyl</strong>bewerber aus<br />
allen Teilen der Welt teilgenommen haben, nur als<br />
gleisnerisch bezeichnen. Räumen Sie doch erst einmal<br />
die Rechtslage auf Bundesebene auf, bevor Sie<br />
hier zu einem so ernsten Thema so schlampige Anträge<br />
einreichen.<br />
(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Zurufe von<br />
der SPD: He! - Zuruf von der SPD: War das passend<br />
<strong>zum</strong> Thema?)<br />
Vizepräsidentin Astrid Vockert Herr Kollege Riese,<br />
ich denke, Sie sind damit einverstanden, wenn ich<br />
Ihnen <strong>für</strong> den Begriff "schlampig" einen<br />
Ordnungsruf erteile.<br />
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)<br />
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift <strong>für</strong> Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 102, Oktober 2004<br />
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Landtagesdebatte<br />
(Jürgen Gansäuer [CDU]: Also waren Sie bitter enttäuscht<br />
über die deutsche Außenpolitik!)<br />
Zum anderen möchte ich noch einmal ganz klar<br />
und deutlich sagen: Nicht nur wird die Zurückführung<br />
von Angehörigen von Minderheiten in den<br />
Kosovo von UNHCR, OSZE und UNMIK <strong>zum</strong>indest<br />
verhindert, sondern auch der Schweizer Flüchtlingsrat<br />
warnt klar und eindeutig davor, weil die<br />
Situation nicht stabil ist. Eine Rückführung führt<br />
nicht zu einer Befriedung, sondern zu einer weiteren<br />
Eskalation.<br />
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD -<br />
Jürgen Gansäuer [CDU]: Nicht mit dauerhaften<br />
Aufenthaltsgenehmigungen verbunden! Genau das<br />
Gegenteil!)<br />
Frau Kollegin Langhans, ich erteile Ihnen noch einmal<br />
das Wort. Sie habennoch genau 27 Sekunden.<br />
Georgia Langhans (GRÜNE):<br />
Herr Kollege Gansäuer, in diesen 27 Sekunden<br />
kann ich leider nicht auf Ihre Anwürfe gegen Joschka<br />
Fischer eingehen. Das ist das eine.<br />
Vizepräsidentin Astrid Vockert: Meine Damen und<br />
Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht<br />
vor. Ich schließe damit die Beratung. Wir kommen<br />
zur Ausschussüberweisung. Es wird empfohlen,<br />
federführend den Ausschuss <strong>für</strong> Inneres und Sport<br />
und mitberatend den Ausschuss <strong>für</strong> Haushalt und<br />
Finanzen mit beiden Anträgen zu befassen. Die<br />
SPD-Fraktion hat vorgeschlagen, zusätzlich den<br />
Ausschuss <strong>für</strong> Rechts- und Verfassungsfragen sowie<br />
die Ausländerkommission mit der Mitberatung zu<br />
befassen. Wer so beschließen möchte, den bitte ich<br />
um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen?<br />
- Dann ist so beschlossen.<br />
Mitglieder<br />
70
Materialliste Nieders<br />
71
"Toleranz sollte eigentlich<br />
nur eine vorübergehende<br />
Gesinnung sein; sie muss<br />
zur Anerkennung führen.<br />
Dulden heißt beleidigen".<br />
Johann Wolfgang v. Goethe