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GEW-ZEitUNG Rheinland-Pfalz

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Hochschulen<br />

Evidenz oder Emergenz? -<br />

Zum erkenntnistheoretischen Rückfall einer evidenzbasierten Bildungsforschung<br />

- Rolf Arnold -<br />

Auch die Bildungsforschung ist nicht frei von erkenntnistheoretischen<br />

Wiederholungen und allzu menschlichen Grenzziehungen,<br />

Ausgrenzungen und Selbstüberhöhungen. So konnte man in der<br />

FAZ vom 27. Oktober 2011 ein Plädoyer für mehr Empirie und<br />

Kompetenz lesen, die mit einer solchen Wende der Bildungsforschung<br />

nicht nur alle erdenklichen Positivwirkungen für die Profilschärfung<br />

und Professionalität der Bildungswissenschaft in Verbindung<br />

brachten, sondern auch die Autoren selbst positiv vom dem<br />

inkriminierten Rest eines - wie sie sagen - „Forschungsbereich(es)<br />

von noch unscharfem Profil und fragilem Status“ - von den Autoren<br />

polemisch als „Konfession“ geschmäht - abzuheben trachten.<br />

Dieser Gestus nimmt dem Vorstoß viel von seiner Glaubwürdigkeit,<br />

zumal die Autoren gleichzeitig erkenntnistheoretisch weit zurückfallen<br />

in die Welt einer - impliziten - Korrespondenztheorie der<br />

Wahrheit: Keine erkenntnistheoretische Skepsis kann ihre Forderung<br />

an die Bildungsforschung, auch „steuerungsrelevantes Wissen“<br />

bereitzustellen, „um die gestiegenen Anforderungen im Übergang<br />

von Industrie- zu Wissensgesellschaften besser erfüllen zu können“<br />

(Schrader u.a. 2011, S.8) trüben. Kann Wissenschaft in dieser Weise<br />

Gesellschaften tatsächlich verändern? Handelt Bildungspolitik<br />

tatsächlich auf der Grundlage einer nüchternen Tatsachenprüfung,<br />

oder sind es nicht vielmehr eigene Traditionen, Sachzwänge und<br />

Interessenlagen, die ihr Tun bestimmen? Und: Erkennt Forschung<br />

tatsächlich das, was der Fall ist, oder rückt sie nur das in den Blick,<br />

was Forscherinnen und Forscher - vor dem Hintergrund ihrer<br />

biographischen Einspurungen, ihrer akademischen Sozialisation<br />

und ihres überlieferten Begriffsbestecks (als ehemalige Schüler) - zu<br />

fokussieren vermögen?<br />

Solche Fragen werden von den Protagonisten einer empirischen<br />

Wende zu Profession nicht einmal gestreift. Stattdessen folgen sie<br />

einer doch recht vordergründigen Auslegung einer „Evidenzbasierung“<br />

- einem Begriff, mit dem - wie sie sagen - „die Erwartungen<br />

von Politik und Praxis ... zum Ausdruck gebracht (werden)“ (ebd.).<br />

Diesen - so die Autoren - geht es um Wirksamkeit und den „Transfer<br />

evidenter Befunde“ (ebd.) - eine instrumentalistische Beschränkung<br />

des eigenen Erkenntnisinteressen, verquastet mit einer Wirkungsillusion,<br />

welche die systemische Veränderungsforschung schon lange<br />

hinter sich gelassen hat. Konzepte einer wirksamen Veränderung<br />

folgen keiner Transferlogik, sondern dem von Kurt Lewin überlieferten<br />

Satz: „You can not understand a system unless you change it“,<br />

wobei es zunächst und vorrangig die überlieferten Vorstellungen,<br />

Denkformen und Handlungsgewohnheiten von Führungskräften,<br />

Forschern und Politikern sind, die auf den Prüfstand der Reflexion<br />

rücken. Ihre Veränderung lässt bereits anderes in Erscheinung<br />

treten, und es sind die Potenziale von Individuen, Organisationen<br />

und Gesellschaften, die sich entwickeln können, wenn man sie<br />

denn lässt. Es ist diese Kraft der Autonomie, Selbstwirksamkeit und<br />

Selbstbildung, welche die wirklich substanziellen Prozesse jeglicher<br />

Schul- und Unterrichtsentwicklung gestalten, keine internationalen<br />

Vergleichsdaten oder eine vormundschaftliche Allianz von Bildungsforschern<br />

und Politikern.<br />

Prof. Dr. Rolf Arnold<br />

lehrt an der TU Kaiserslautern Pädagogik<br />

(insbesondere Berufs- und Erwachsenenpädagogik)<br />

und ist Wissenschaftlicher<br />

Direktor des „Distance and Independent<br />

Studies Center“ (DISC) dieser Universität<br />

sowie Sprecher des Virtuellen Campus<br />

<strong>Rheinland</strong>-<strong>Pfalz</strong>.<br />

Diese Perspektive einer fortgeschrittenen Veränderungsforschung<br />

lässt die überlieferte Trennung zwischen Subjekt und Objekt sowie<br />

zwischen Handeln und Erkennen hinter sich und öffnet den Blick<br />

für eine „selbsteinschließende Reflexion“ (Francisco Varela), der die<br />

eigenen Annahmen und Gewissheiten ebenso zur Frage werden, wie<br />

die der von den Autoren als interessenlose Entität in die Debatte<br />

eingeführte „Politik“. Ist es verwunderlich, dass dort, wo Schulen<br />

und Lehrer ihre Wirklichkeit nachhaltig verändert haben, sie dies<br />

von innen heraus und ohne Bezug auf die Häufigkeiten und Korrelationen<br />

internationaler Vergleichstudien bewerkstelligt haben?<br />

Zwar muss man den Trendwendeautoren zustimmen, dass es die<br />

Nützlichkeit der Forschung ist, die sie legitimiert, doch machen sich<br />

Zweifel breit, ob es wirklich die zitierten Pisa- und TIMMS-Studien<br />

sind, die eine die Schulwirklichkeit verändernde Nützlichkeit zu<br />

stiften vermögen. Es waren vielmehr auch Negativetikettierungen,<br />

neuverkleidete Schulaufsichtsbemühungen und Evaluationsadministration,<br />

welche Lehrerinnen und Lehrer bisweilen auch demotivierten<br />

und nicht selten auch von einer Innovation der schulischen<br />

Unterrichts- und Erziehungsformen abhielten.<br />

Vor diesem Hintergrund wirken die Anmerkungen von Heinz-<br />

Elmar Tenorth ernüchternd und klären, obgleich dieser nicht<br />

veränderungswissenschaftlich, sondern geisteswissenschaftlich<br />

argumentiert. Mit klaren Worten weist Tenorth der empirischen<br />

Bildungsforschung den Status zu, der ihr gebührt: als Bemühung,<br />

für Politik wie Praxis „eine nüchterne Außensicht auf das System zu<br />

gewinnen“. Doch damit erschöpft sich auch bereits der mögliche<br />

Wirkungsradius einer empirischen Bildungsforschung, so ist Tenorths<br />

Zwischenruf zu interpretieren. Und er lenkt auch den Blick<br />

auf deren erkenntnistheoretische Selbstbeschränkung, da nicht alles,<br />

was evident ist, auch wirksam und auch nicht alles, was wirksam ist,<br />

evident ist. Es bleibt ein Rest, durch den sich eigene Gewissheit in<br />

die Konstruktionen der Wirklichkeit einmischt. Auch für die Evidenz<br />

gilt deshalb, was Heinz von Foerster über die „Wahrheit“ zu sagen<br />

wusste: Sie ist „die Erfindung eines Lügners“ - Hinterfragungen,<br />

die den Propagandisten des vermeintlich neuen Konzeptes der<br />

Evidenzbasierung fremd zu sein scheinen: Ihr Evidenz-Konzept ist<br />

Ausdruck eines erkenntnistheoretisch naiven Realismus, gekoppelt<br />

mit instrumentalistischen Wirkungsillusionen. Die Klärungen der<br />

empirischen Bildungsforschung verbleiben deshalb auch meist im<br />

Kontext dessen, was ihr kategorialer Begriffsrahmen - aber auch die<br />

inneren Bilder der Akteure - zu (er)fassen oder auszuhalten vermögen.<br />

Sie haben deshalb auch kaum einen Zugang zu der Emergenz<br />

des Sozialen, kommen erstaunlicherweise ohne eine selbstreflexive<br />

<strong>GEW</strong>-Zeitung <strong>Rheinland</strong>-<strong>Pfalz</strong> 12 / 2011<br />

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