Roter Mond (PDF-Version) - Arathas.de

IV
Puls des Lebens
Ist dies dein Werk? fragte Sanftkralle den Sündigen
Und der Sündige antwortete Ja
Und sind dies deine Laster? fragte Sanftkralle
Und der Sündige antwortete wiederum Ja
Dann bürde mir auf, was dich beschwert, sagte Sanftkralle da zu ihm
Und sie nahm die Last auf ihre Schultern
welche die Welt dem Volk aufdrängte
Und nun geh, sagte Sanftkralle
Und der Sündige war erlöst
Weißklaues Kinder
Aus „Religion der Jurakai“ von Asan An‘chassar
Talamà kämpfte sich einen Weg durch das dichte Wirrwarr aus bis zum Boden baumelnden Ästen und
Schlingpflanzen, sprang über knietiefe Wasserlöcher oder stapfte am Rande von kleinen, unscheinbaren Schilfseen
entlang. Die kleinen Seen allerdings stellten eine gut getarnte Falle dar: Überall auf dem seichten Wasser wuchsen die
Gräser und das Schilf, verliehen dem ganzen See das Aussehen einer ruhigen Wiese. Doch wenn man einen ersten
unvorsichtigen Schritt auf das vermeintlich feste Gras wagte, bekam man schon bald den Fehler in seinem Handeln zu
spüren. Die aufgeweichte, schlickige Erde umfaßte den Fuß mit ziehendem Griff, ließ ihn nicht mehr los, so sehr man
sich auch bemühte. Man sank nur noch tiefer in das moorige, stinkende Erdreich ein, und wenn nicht zufällig eine
helfende Hand zur Stelle war, steckte man in großen Schwierigkeiten. Außerdem krochen eine Menge giftiges Getier
und Schlangen in den brackigen Tümpeln und Schein-Seen, so daß äußerst vorsichtiges und überlegtes Handeln die
Voraussetzung für das Überleben darstellte. Nachtfalke hatte seine beiden Gefährten sorgfältigst gewarnt und sie über
die Lebensarten des Mangobu unterrichtet, soweit sie noch nicht mit den einheimischen Tieren vertraut waren. Selbst
Talamà, die schon mehr von Ruben gesehen hatte als Indigo, konnte nicht von sich behaupten, jemals durch den
Sumpf marschiert zu sein.
Je weiter sie vordrang, desto wärmer, oder besser gesagt, drückender wurde es, die feuchte Luft lastete auf ihrem
Kreislauf und durchdrang ihre Kleider. Sie geriet ins Schwitzen bei dem Versuch, einen merkwürdig verkrümmten
Baum zu umgehen, dessen Wurzeln sich weit über das normale Ausmaß hinaus durch und über die Erde erstreckten.
Erst, als sie die Auswüchse erklommen hatte, konnte sie eine Schneise erkennen, die durch das Gewirr von dicken,
elastischen Hindernissen führte. Irgendwo hinter ihr kämpfte Indigo um das Vorankommen, hatte aber den Vorteil,
daß die vorausgeeilte Talamà einen Weg von zerschnittenen Halmen und Gräsern hinterließ und so einen relativ
ungefährlichen Pfad durch die Sümpfe fertigte. Nachtfalke hatte ihr eingebleut, niemals allein zu versuchen, die
tückischen Wasser zu durchqueren oder durch das Astgewirr zu kriechen. Nur allzu leicht konnte man unversehens
von einem Tier angefallen und gebissen werden, oder man berührte die eine oder andere Pflanze, deren Nesseln eines
von hundert im Mangobu vorkommenden Giften absonderten. So oder so war es nicht ungefährlich, sich den Weg
durch den Sumpf ohne Gefährten zu erkämpfen, aber Talamà hatte das dringende Bedürfnis nach Einsamkeit, wollte
wenigstens für kurze Zeit nicht von Indigo oder Nachtfalke gestört werden. Herrlich frei flogen ihre Gedanken in alle
Himmelsrichtungen, ungelenkt und ohne Ziel. Es machte Spaß, sich an den Lianen eines großen, verzwirbelten
Baumes über ein Wasserloch zu schwingen, in dem es von froschartigen Dingen wimmelte, oder kriechend zwischen
den Riesenwurzeln zu robben. Es war ein Gefühl der Einsamkeit, allerdings nicht schlecht, sondern vielmehr
wunderschön und atemberaubend. In diesem dichten Dschungel von unbekannten Pflanzen, merkwürdigen Tieren, die
hoch oben in den Baumkronen saßen oder auf dem Boden herumsprangen, fühlte sie sich zum ersten Mal wirklich
frei. Sie war in keinster Weise eingeschränkt, konnte tun und lassen, was sie wollte, und all ihr Handeln konnte sie
entweder an einen noch schöneren, wundervolleren Ort bringen - oder sie das Leben kosten. Es lag nur in ihrer Hand,
und dieses einzigartige Gefühl wollte sie sich jetzt noch nicht wieder nehmen lassen. Indigo, dessen gedämpften Ruf
sie hin und wieder vernahm, rückte in den Hintergrund, einen Hintergrund, der schon bald wieder zu harter Realität
werden würde, in der sie nur aufgebrochen waren, um fließendes Wasser zu finden, und nicht, um die blühende
Vielfalt der Natur zu bewundern, die sich an diesem gefährlichen Ort bot.
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