Roter Mond (PDF-Version) - Arathas.de
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Das dämmrige Licht erblühen<strong>de</strong>r Sterne sponn das Netz <strong>de</strong>r Nacht über Eldraja’aro, als Indigo und Nachtfalke sich<br />
<strong>de</strong>r Waldstadt näherten. Die fahlen Strahlen drangen durch die Baumwipfel und erhellten das schlummern<strong>de</strong> Dorf.<br />
Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Schlafes wur<strong>de</strong> es von <strong>de</strong>n Jurakai auch genannt, und tatsächlich mutete Eldraja’aro ruhig an, fast<br />
verträumt, als läge es in einem tiefen, zauberhaften Schlaf und wür<strong>de</strong> selbst dann nicht wie<strong>de</strong>r erwachen, wenn die<br />
Sonne am nächsten Morgen über die Stätte schlich. Von allen Seiten her kommend führten Pfa<strong>de</strong> in die Waldstadt,<br />
gesäumt von langen Pfählen, welche die Eingänge <strong>de</strong>r Siedlung markierten. Auch wenn sie im Sommer verlassen<br />
schien und die übrigen Jurakai nur wie umherirren<strong>de</strong> Geister wirkten, so war sie doch so lebendig wie <strong>de</strong>r Wald selbst,<br />
ja, sie war <strong>de</strong>r Wald.<br />
Hier wuchsen die Giganten <strong>de</strong>s Weilerwalds, die Könige unter <strong>de</strong>n Bäumen. Stämme, <strong>de</strong>ren Umfang keine zehn<br />
erwachsenen Männer mit ausgestreckten Armen zu umfassen vermochten, ragten aus <strong>de</strong>m bemoosten Bo<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n<br />
Himmel empor. Ihre Borke so alt, daß selbst die Schnitzer und Einkerbungen, die die ältesten <strong>de</strong>r Jurakai in ihrer<br />
Kindheit hineingeritzt hatten, längst verwachsen und vergessen waren, verharrten sie stoisch auf ihrem Platz,<br />
unbeirrbar und zeitlos wie die Berge.<br />
In ihren riesigen Leibern klafften Löcher, das Innere <strong>de</strong>r Bäume war ausgehöhlt auf Bo<strong>de</strong>nhöhe, die Waldriesen waren<br />
zu Behausungen umgeformt. Doch die geschickten Hän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Jurakai hatten gera<strong>de</strong> soviel Holz entfernt, wie <strong>de</strong>r<br />
Baum entbehren konnte, nicht einen Splitter mehr. Noch immer floß Leben durch die Stämme, pulsierten die A<strong>de</strong>rn<br />
<strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s im selben gleichmäßigen Takt.<br />
Dünne, verschlungene Pfa<strong>de</strong> zogen sich kreuz und quer durch die Siedlung, wan<strong>de</strong>n sich schlangengleich zwischen<br />
<strong>de</strong>n Bäumen und bil<strong>de</strong>ten ein phantastisches, blühen<strong>de</strong>s Labyrinth. Nebeneinan<strong>de</strong>r und gelegentlich sogar<br />
übereinan<strong>de</strong>r liefen sie, manchmal bil<strong>de</strong>ten hölzerne Brücken Verbindungen zwischen zwei höher gelegenen Stellen,<br />
jedoch schienen die Wege keiner inneren Ordnung zu folgen. Die Stimme <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s war hier allgegenwärtig, doch<br />
die Natur schien sich nur dort aufzuhalten, wo es ihr erlaubt war. Keine Büsche o<strong>de</strong>r Gräser hatten sich auf <strong>de</strong>n<br />
Pfa<strong>de</strong>n ausgebreitet, kein Pilz wuchs dort, wo er nicht erwünscht war. Es war, als wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Wald sich selbst in<br />
Zurückhaltung üben, als wolle er das Kunstwerk, das er an diesem Ort geschaffen hatte, nicht zerstören – wie ein<br />
Künstler, <strong>de</strong>r darauf bedacht ist, sein Bild nicht zu überfüllen, um damit <strong>de</strong>ssen Wirkung nicht zunichte zu machen.<br />
Nachtfalke, <strong>de</strong>r nun zum ersten Mal seit mehreren Monaten wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Schlafes war, füllte seine Lunge<br />
mit mehreren tiefen Atemzügen, spürte das Gleichgewicht und die Ausgewogenheit, die an diesem Orte herrschten. Er<br />
zwinkerte, als sie das Sa’e Indigos erreichten.<br />
„Meine Güte“ murmelte er beeindruckt und merkte nicht, wie seinem Gefährten ein Lächeln über die Züge huschte.<br />
Der Waldriese, in <strong>de</strong>ssen Bauch Indigo wohnte, war vollkommen bewehrt mit Bannern und bunten Schnüren, die sich<br />
um seine Rin<strong>de</strong> legten und bis hinauf in die höchsten Äste spannten, so daß er wie ein flatterhaftes Zelt wirkte, o<strong>de</strong>r<br />
wie eine übergroße Marionette. Trotz <strong>de</strong>r Farbenpracht fügte sich <strong>de</strong>r Gigant reibungslos ins übrige Bild Eldraja’aros,<br />
<strong>de</strong>nn die Farben schienen zu fließen, reichten von Grün über ein schattiges Rot bis hin zu laubfarbenem Braun. Indigo<br />
strahlte förmlich, als Nachtfalke sein Werk bewun<strong>de</strong>rte.<br />
„Ich habe mir viel Mühe gegeben“ bemerkte er, doch zu seinem Erstaunen verzog sich das Gesicht seines Freun<strong>de</strong>s,<br />
und Mißfallen glänzte in seinen Augen.<br />
„Wenn ich gewußt hätte, wofür du <strong>de</strong>ine freie Zeit nutzt, dann hätte ich <strong>de</strong>inem Vater beigestimmt, als er dir befahl,<br />
mit <strong>de</strong>m Volk in die Täler zu reisen“ sagte Nachtfalke düster. „Ich hätte mehr von dir erwartet als ein geschmücktes<br />
Sa’e, Junge.“<br />
Betrübt blickte Indigo zu Bo<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Zorn seines alten Freun<strong>de</strong>s schien ernst gemeint. Im übrigen hatte Falke<br />
Recht, gestand Indigo sich ein. Er war zurückgeblieben, um mit seinen Gedanken ins Reine zu kommen und zu Üben,<br />
was Falke ihn gelehrt hatte. Aber an<strong>de</strong>rerseits hatte ihn die Arbeit an seiner Wohnung von überdrüssigen Gedanken<br />
befreit und ihm Platz zum Denken gelassen. Er zuckte die Achseln, als er die Vorhänge beiseite schob, die das<br />
Eingangsloch im Baum be<strong>de</strong>ckten. Stärkere Türen waren nicht notwendig, da sich keine größeren Tiere ungela<strong>de</strong>n in<br />
<strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Schlafes aufhielten, und je<strong>de</strong>r Sturm, <strong>de</strong>r über die Wipfel <strong>de</strong>s Weilerwalds peitschte, unterhalb <strong>de</strong>r<br />
Kronen zu einem bloßen Lüftchen zerrann.<br />
„Kommst du mit hinein o<strong>de</strong>r nicht?“ verlangte er zu wissen, und Nachtfalke ließ sich nicht zweimal bitten. Immerhin<br />
lagerten viele Flaschen guten Weins sowie an<strong>de</strong>re Leckereien im Inneren <strong>de</strong>s Baumes. Nach<strong>de</strong>m Indigo ein kleines<br />
Lämpchen entzün<strong>de</strong>t hatte, erfüllte ein flackern<strong>de</strong>r Schein <strong>de</strong>n doch recht großen Raum. Die Luft roch nach Harz,<br />
doch auch viele an<strong>de</strong>re Gerüche mischten sich dazu; alles in allem konnte man kaum sagen, welche Düfte sich in <strong>de</strong>r<br />
Behausung zusammentaten, doch das Resultat war durchaus angenehm.<br />
„Ah...“ seufzte Nachtfalke und ließ sich auf <strong>de</strong>m harten Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Sa’e nie<strong>de</strong>r. „Es geht doch nichts über die gute alte<br />
Wei<strong>de</strong>.“ Er verschränkte die Arme hinter <strong>de</strong>m Kopf und starrte zur gemaserten Decke. Tausen<strong>de</strong> von Jahresringen<br />
breiteten sich dort in konzentrischen Kreisen aus, verliefen wellenförmig, manchmal im Zickzack. „So oft ich auch in<br />
<strong>de</strong>n Weiten Rubens unterwegs bin... nichts ersetzt <strong>de</strong>n Geruch im Innern eines Sa’e.“<br />
Indigo nickte. „Ich wäre froh, wenn ich wenigstens ein einziges Mal eine <strong>de</strong>iner Reisen unternehmen dürfte, Falke.<br />
Ich wür<strong>de</strong> je<strong>de</strong>n Duft dafür aufgeben.“<br />
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