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Transkript S. Lauter (PDF-Download) - Haus der Demokratie und ...

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Interview mit Stefan <strong>Lauter</strong>,<br />

ehemaliger Insasse des Geschlossenen Jugendwerkhofs Torgau.<br />

Beim vorliegenden Text handelt es sich um eine leicht gekürzte Version des<br />

Interviews, das im Mai 2012 im <strong>Haus</strong> <strong>der</strong> <strong>Demokratie</strong> <strong>und</strong> Menschenrechte, Berlin<br />

durchgeführt wurde.<br />

1. Schulzeit in Ostberlin: „Stefan, du bist ein Staatsfeind“ 2<br />

2. Jugendwohnheim <strong>und</strong> Strafvollzug Halle: „(…) auf dem Alex<br />

rumgetrieben`“, “drei Mopeds geklaut“ 5<br />

3. Jugendwerkhof Freital: „Ich habe mich dort total verweigert“ 9<br />

4. Der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau: „Schlimmer als Knast“ 13<br />

4.1. Ankunft: In <strong>der</strong> Regel benötigen wir drei Tage, um die Jugendlichen 14<br />

auf unsere For<strong>der</strong>ungen einzustimmen. (Direktor H. Kretschmar)“<br />

4.2. Einzelarrest: „Man hatte in Richtung Türspion zu schauen“ 17<br />

4.3. Der „normale“ Tagesablauf: „Keine Minute (…) individueller<br />

persönlicher Freiheit“ 19<br />

4.4. Körperliche <strong>und</strong> seelische Ges<strong>und</strong>heit: „… ohne Bef<strong>und</strong>“ 24<br />

4.5. Entlassung: „Am liebsten würde ich dich noch länger hier behalten.<br />

Bei Dir ist das Erziehungsziel nicht erreicht“ 30<br />

5. Spätfolgen, Verantwortung <strong>und</strong> Rehabilitierung: „Nie wie<strong>der</strong> richtig<br />

Fuß gefasst.“ 34<br />

6. Durchgangsheim Alt-Stralau: „Wir haben Händchen gehalten“ 39<br />

7. Gewaltfreie Erziehung: „Für mich ist das ein gr<strong>und</strong>legen<strong>der</strong> Punkt,<br />

die Menschenrechte verwirklicht zu sehen“ 41<br />

www.haus<strong>der</strong>demokratie.de/unverzichtbar 1


1.Schulzeit in Ostberlin: „Stefan, du bist ein Staatsfeind“<br />

Stefan <strong>Lauter</strong>: Ja, ich bin 1973 hier in Berlin-Mitte also im Zentrum <strong>der</strong><br />

Sozialistischen Hauptstadt <strong>der</strong> DDR, also Ostberlin, eingeschult worden <strong>und</strong> bin ganz<br />

normal Jungpionier geworden in <strong>der</strong> ersten Klasse. Wie man das so generell so<br />

wurde. Und ja am Anfang lief das alles ganz, ganz normal. Ich war ein sechsjähriger<br />

aufgeweckter Junge <strong>und</strong> habe mich relativ normal in <strong>der</strong> Schule entwickelt. Ich wurde<br />

dann auch noch in <strong>der</strong> vierten Klasse Thälmann-Pionier, wie das die Regel war. Ja<br />

<strong>und</strong>, bis ich ungefähr zehn, elf Jahre alt wurde verlief halt mein Leben ganz normal,<br />

wie für hun<strong>der</strong>ttausend an<strong>der</strong>e Schulkin<strong>der</strong> o<strong>der</strong> überhaupt Kin<strong>der</strong> in <strong>der</strong> gesamten<br />

DDR. Und als ich elf war, war ein grober Einschnitt. Ich habe einen vier Jahre älteren<br />

Bru<strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> ist damals 15 Jahre alt gewesen. Und ist mit ein paar Kumpels spät<br />

abends angetrunken durch Ostberlin gelaufen. Und sie hatten halt was getrunken,<br />

sie hatten einen Kassettenrecor<strong>der</strong> dabei, wie das damals üblich war. Heute würde<br />

man Ghettoblaster sagen, o<strong>der</strong> so. Und dann haben sie ihre Lieblingsmusik<br />

angehört, die damals halt aktuell war. Hier, weiß ich nicht, Stones, Led Zeppelin <strong>und</strong><br />

Pink Floyd o<strong>der</strong> sonst wen. Und sie waren Fußballfans. Und sie waren Fans von<br />

einem Traditionsclub aus Ostberlin, 1. FC Union Berlin. Und als Unionfans war man<br />

immer so ein bisschen verbrü<strong>der</strong>t mit den Herthafans. Und seit dem Mauerbau 1961<br />

kam er dann nicht mehr nach Westberlin, um sich irgendwelche Devotionalien zu<br />

holen. Also ein Schal o<strong>der</strong> eine Fahne o<strong>der</strong> irgendwas. Und dann haben die Jungs in<br />

ihrem angetrunkenen Zustand vor meiner Schule die DDR-Fahne runter geholt, vom<br />

Fahnenmast. Haben das Emblem, also diesen Hammer-Zirkel-Ehrenkranz<br />

abgetrennt. Dann hatten sie eine B<strong>und</strong>esdeutsche Fahne, <strong>und</strong> in ihrem Suff haben<br />

sie gedacht, damit können sie eben ihre Verb<strong>und</strong>enheit zu dem Westberliner<br />

Fußballclub demonstrieren. Und dann sind sie von <strong>der</strong> Jannowitzbrücke von meiner<br />

Schule bis zum Alex, die an<strong>der</strong>thalb Kilometer gelaufen <strong>und</strong> haben da Hertha-Fan<br />

Sprüche gegrölt. Und die konnten gar nicht so schnell gucken wie sie verhaftet<br />

waren. Sie sind allesamt ins Gefängnis gekommen <strong>und</strong> sind jeweils zu 18 Monaten in<br />

einem Schnellverfahren wegen Zeigen staatsfeindlicher Symbole verurteilt worden.<br />

Und dann bin ich elf Jahre alt, <strong>und</strong> kriege das zwar nicht unmittelbar mit, also ich darf<br />

nicht ins Gericht <strong>und</strong> offiziell durfte ich auch überhaupt gar keine Gerichtspost lesen<br />

o<strong>der</strong> die Korrespondenz zwischen meiner Mutter <strong>und</strong> dem Anwalt. Hab ich heimlich<br />

gemacht. Da habe ich das erste Mal mitgekriegt, wie die DDR, o<strong>der</strong> besser gesagt<br />

die SED, mit unliebsamen <strong>und</strong> unbequemen Bürgern <strong>der</strong> Republik umgegangen ist.<br />

Und das war für mich ein ziemlicher Schock in dem Alter. (00:03:12-5)<br />

Ja, an <strong>der</strong> Schule gab es dann Probleme. Ich hab auch eine an<strong>der</strong>thalb Jahre ältere<br />

Schwester, die mit mir die ganzen Schuljahre zusammen in einer Klasse war. Die ist<br />

später eingeschult worden. Und plötzlich war meine Schwester die Knastschwester<br />

<strong>und</strong> ich war <strong>der</strong> Knastbru<strong>der</strong>. Für meine Mitschüler, aber auch für die Lehrer. Und wir<br />

wurden teilweise auch wirklich richtig so betitelt. Und das war äußerst unangenehm.<br />

Im Wohnumfeld, also sprich in dem Hochhaus, wo wir gewohnt hatten, bekamen<br />

meine Familie, beson<strong>der</strong>s meine Mutter <strong>und</strong> meine Schwester <strong>und</strong> ich, heftige<br />

Probleme mit den Nachbarn. Und so sind dann meine Mutter, mein damaliger<br />

Stiefvater <strong>und</strong> meine Schwester <strong>und</strong> ich an den Stadtrand von Ostberlin umgezogen.<br />

Wir haben uns da ein Gr<strong>und</strong>stück <strong>und</strong> <strong>Haus</strong> gekauft. Und ich wurde umgeschult. Da<br />

war ich siebte Klasse. Und dann verlief das Leben für mich zumindest an <strong>der</strong> Schule<br />

relativ wie<strong>der</strong> in normalen Bahnen. Erst einmal.<br />

www.haus<strong>der</strong>demokratie.de/unverzichtbar 2


Ja, aber Anfang <strong>der</strong> achten Klasse, bin ich 13, hab ich ein Mädchen kennen gelernt<br />

in meiner Freizeit, <strong>und</strong> wir haben uns recht häufig getroffen. Ich war das erste Mal<br />

hochgradig verliebt. Und wir haben eine ganze Menge miteinan<strong>der</strong> gemacht in <strong>der</strong><br />

Freizeit, also manchmal auch <strong>Haus</strong>aufgaben. Und wenn ich mittwochs mit ihr ins<br />

Kino wollte, dann ging das einfach nicht. Da hatte sie nie Zeit. Und das habe ich nicht<br />

verstanden <strong>und</strong> war natürlich auch ein bisschen eifersüchtig. Habe ich gedacht,<br />

vielleicht trifft sie sich da mit jemand an<strong>der</strong>s. Und dann hat sie mir das eines Tages<br />

erklärt. Sie kann deshalb am Mittwochnachmittag nicht, weil sie in die evangelische<br />

junge Gemeinde in Ostberlin geht. Das war in einem an<strong>der</strong>en Stadtteil, in Ostkreuz.<br />

Ja, <strong>und</strong> da hat sie an den Jugendst<strong>und</strong>en teilgenommen bei diesem (Jugendpfarrer)<br />

<strong>und</strong> hat sich auf ihre Konfirmation vorbereitet. Das war für mich eine vollkommen<br />

neue Welt. Kannte ich alles gar nicht. Ich wusste zwar, dass es Kirchen gibt. Also<br />

nicht nur die Gebäude, son<strong>der</strong>n auch als Institution. Aber ich konnte damit nichts<br />

anfangen, weil ich so nicht aufgewachsen bin. Naja <strong>und</strong> weil ich halt so verliebt war,<br />

bin ich dann jeden Mittwoch mitgefahren. Und hab mir das eben angeschaut <strong>und</strong><br />

immer, wenn sie da ihre Gebetskreise gemacht haben, habe ich mich in die Küche<br />

verkrümelt <strong>und</strong> mir einen Tee <strong>und</strong> eine Schmalzstulle gemacht, weil so richtig an Gott<br />

glauben konnte o<strong>der</strong> wollte ich nicht. Aber an die Gesprächsr<strong>und</strong>en hab ich gerne mit<br />

teilgenommen, weil dort auch über tagespolitische Sachen zum Beispiel gesprochen<br />

wurde. Und da muss man sich die Zeit anschauen, wo das statt gef<strong>und</strong>en hat bei mir.<br />

Das war 1980/81/82, also die Zeit kurz nach dem NATO-Doppelbeschluss. Und da<br />

muss man ja kein Prophet sein, über was haben wir denn im Rahmen dieser<br />

evangelischen jungen Gemeinde am meisten gesprochen? Und das war die<br />

Bedrohung, die reale Bedrohung in Mitteleuropa durch atomare<br />

Mittelstreckenraketen. Und wir konnten in dieser evangelischen jungen Gemeinde mit<br />

dem Pfarrer recht offen über dieses Thema reden. Was an den Schulen in <strong>der</strong> DDR<br />

nicht möglich war. (00:06:12-5)<br />

In <strong>der</strong> Schule, gerade im Staatsbürgerk<strong>und</strong>eunterricht, dieses ganz ominöse<br />

politische Fach. Da hat man uns zwar davon erzählt, dass die USA im Rahmen <strong>der</strong><br />

NATO auf dem Gebiet <strong>der</strong> ehemaligen B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland eben diese<br />

Pershing-2-Raketen stationiert hat <strong>und</strong> uns im Osten alle bedroht. Das hat man uns<br />

alles erzählt, aber was man uns in <strong>der</strong> Schule verschwiegen hatte, das war <strong>der</strong><br />

Umstand, dass die rote Armee also sprich <strong>der</strong> Warschauer Pakt einseitig vorgerüstet<br />

hat mit baugleichen Atomraketen. Das waren diese berüchtigten SS-20, später SS-<br />

22. Und da hat <strong>der</strong> Ostblock, also sprich die Sowjetunion die NATO bedroht.<br />

Genauso wie eben umgekehrt. Und darüber konnten wir in <strong>der</strong> evangelisch-jungen<br />

Gemeinde reden, aber nicht in <strong>der</strong> Schule. So <strong>und</strong> mir hat, <strong>und</strong> mir hat sich damals<br />

eigentlich nur noch eine Hauptfrage gestellt. Ich konnte den Unterschied zwischen<br />

den guten <strong>und</strong> den bösen Atomraketen überhaupt gar nicht begreifen. Weil wenn so<br />

ein Ding abgeschossen wird <strong>und</strong> runter kommt, ist es doch vollkommen schnurz, wer<br />

die abgeschossen hat. Wir hier in Mitteleuropa würden einfach danach nicht mehr<br />

leben. Dann habe ich angefangen, in <strong>der</strong> Schule, gerade im<br />

Staatsbürgerk<strong>und</strong>eunterricht, unbequeme Fragen zu stellen. Und dann ging das<br />

richtig los. Und mein Lehrer hat mich vor versammelter Mannschaft<br />

an...angesprochen. Na was heißt angesprochen. Hat mich regelrecht angebrüllt.<br />

Stefan, du bist ein Staatsfeind. Und da bin ich noch nicht mal 14 Jahre alt <strong>und</strong> mein<br />

Lehrer erklärt mich zum Staatsfeind. Und da sind bei mir dann wirklich regelrecht die<br />

Sicherungen durchgeknallt. Ich habe immer mehr Fragen gestellt. Und wir haben die<br />

DDR-Wirklichkeit <strong>und</strong> im Gegenzug zu den Parolen <strong>der</strong> SED, das habe ich<br />

www.haus<strong>der</strong>demokratie.de/unverzichtbar 3


abgeglichen, als junger Mensch. Und daraus haben sich ganz, ganz viele Fragen<br />

ergeben. Also ich kannte ja die Berliner Mauer. Ich wusste, dass ich zu meiner<br />

Verwandtschaft, meiner Großfamilie nach Hannover niemals werde reisen können,<br />

bevor ich nicht Rentner bin. Und ich habe die verfallenden Häuser hier in Prenzlauer<br />

Berg als junger Mensch gesehen – obwohl ich erst am Alexan<strong>der</strong>platz im<br />

Vorzeigeplattenbau wohnte. Und dann später in so einem schicken Einfamilienhaus.<br />

Ich habe die,.. die .. ja, die Diskrepanzen in <strong>der</strong> Wirklichkeit <strong>der</strong> DDR<br />

wahrgenommen. Endlich wahrgenommen, <strong>und</strong> das schon im Alter von 13, 14, 15<br />

Jahren. Ja, <strong>und</strong> im Endeffekt führte das dazu, dass ich mich Anfang <strong>der</strong> zehnten<br />

Klasse entschlossen hatte, aus <strong>der</strong> FDJ auszutreten, wo ich ja nun schon mittlerweile<br />

Mitglied war. Ist dieser Jugendverband <strong>der</strong> SED gewesen, um das mal zu<br />

verdeutlichen. Und das habe ich nicht still <strong>und</strong> leise gemacht an meiner Schule,<br />

son<strong>der</strong>n ich habe die Abschlussveranstaltung in <strong>der</strong> Schulaula benutzt, wo alle<br />

Schüler da waren, alle Lehrer <strong>der</strong> Schule, die Direktion <strong>und</strong> dann Vertreter <strong>der</strong> FDJ<br />

<strong>und</strong> SED-Kreisleitung. Jemand vom Jugendamt war dabei <strong>und</strong> von <strong>der</strong><br />

Staatssicherheit sogar. Und, da bin ich während ihrer dunkelroten Reden einfach<br />

aufgestanden, bin nach vorne gegangen, hab mein FDJ-Ausweis auf den Tisch<br />

geschmissen <strong>und</strong> habe gesagt: „Die Veranstaltung ist für mich vorbei.“ Und da waren<br />

nicht nur diese Schulveranstaltungen gemeint, son<strong>der</strong>n das wussten die auch, also<br />

meine Lehrer, dass ich jetzt ab sofort nicht mehr Mitglied <strong>der</strong> FDJ bin, dieses<br />

Blauhemd nicht mehr tragen werde, an den Veranstaltungen nicht mehr teilnehme.<br />

Und da gab es richtig Rambazamba in meiner Schule. Ich hätte beinahe nicht<br />

meinen Schulabschluss machen dürfen. Es hat wirklich eine Lehrerkonferenz mit<br />

Vertretern vom Jugendamt stattgef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> meine Mutter musste erscheinen, ich<br />

sollte erscheinen. Und da wurde darüber diskutiert, ob ich überhaupt zu den<br />

Abschlussprüfungen zugelassen werde. Wegen meiner feindlich .. also negativ<br />

dekadenten Einstellung zum, zum Staat <strong>und</strong> zur Partei-Politik <strong>der</strong> SED. (00:10:03-2)<br />

Ich durfte dann doch. Und das einzige, was meine Lehrer dann noch erreicht haben,<br />

o<strong>der</strong> eben was, weiß ich nicht, ob das Ziel <strong>der</strong> Schulleitung war, o<strong>der</strong> von sonst wem,<br />

das kann ich heute alles gar nicht sagen. Sie haben meinen Leistungsdurchschnitt<br />

erheblich gedrückt. Ich hatte in <strong>der</strong> neunten Klasse noch einen<br />

Leistungsdurchschnitt, also die Kopfnoten nehmen wir jetzt mal aus, aber einen<br />

Leistungsdurchschnitt von 1,8. Und die zehnte Klasse hab ich dann mit 3,6<br />

abgeschlossen. Meine ganzen Lieblingsfächer, Mathe, Geschichte <strong>und</strong> sonst was,<br />

wo ich vorher auf Eins o<strong>der</strong> Zwei stand, hatte ich plötzlich eine Drei o<strong>der</strong> eine Vier<br />

auf dem Abschlusszeugnis. Und das war, das war die absolute Katastrophe. Ich<br />

habe zwar den Abschluss <strong>der</strong> zehnten Klasse. Aber war natürlich hochgradig<br />

verärgert. Ja, das ist so im Groben mein Werdegang in <strong>der</strong> DDR-Schule.<br />

(00:10:56-1)<br />

…<br />

Die sind total ausgeflippt, als ich zu <strong>der</strong> ersten schriftlichen Prüfung, das war<br />

traditionell in <strong>der</strong> DDR immer die Russisch-Abschlussprüfung, die auch schon<br />

mehrere Wochen vor den an<strong>der</strong>en Abschlussprüfungen statt gef<strong>und</strong>en hat. Also<br />

immer kurz vor dem Halbjahreszeugnis im Februar. Da bin ich als einziger Schüler<br />

<strong>der</strong> gesamten zehnten Klassen ohne Blauhemd erschienen. Und da haben die mich<br />

nicht rein gelassen in die Prüfung. Da haben die angefangen um halb neun früh zu<br />

schreiben, <strong>und</strong> ich sitze die ganze Zeit draußen <strong>und</strong> warte, dass ich rein gelassen<br />

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werde, nur weil ich kein Blauhemd trage. Da bin ich aber schon sechs o<strong>der</strong> acht<br />

Wochen aus <strong>der</strong> FDJ ausgetreten gewesen. Da haben die richtig Theater gemacht.<br />

(00:11:36-9)<br />

2. Jugendwohnheim <strong>und</strong> Strafvollzug Halle: „(…) auf dem Alex rumgetrieben“…<br />

“drei Mopeds geklaut“<br />

SL: Na, ich lebte ja, wie gesagt, im <strong>Haus</strong>halt meiner Mutter, die mit ihrem<br />

Lebensgefährten, also meinem Stiefvater zusammen lebte. Und zusammen noch mit<br />

meiner Schwester. Und mein Stiefvater war ein ziemlich gewalttätiger Mensch. Sehr<br />

jähzornig <strong>und</strong> ... er hat uns oft gemaßregelt, um das mal ganz vorsichtig<br />

auszudrücken. Also wenn irgendwas nicht so lief, wie das sein sollte, wir hatten also<br />

nicht nur im <strong>Haus</strong>halt mitzuhelfen, son<strong>der</strong>n das <strong>Haus</strong> musste saniert werden, das<br />

Gr<strong>und</strong>stück musste auf Vor<strong>der</strong>mann gebracht werden, nachdem wir das da gekauft<br />

haben. Und ich habe da ziemlich massiv arbeiten müssen, schon als 13-, 14-jähriger<br />

Junge. Und wenn du, wenn die Aufträge nicht erfüllt wurden o<strong>der</strong> so, dann kam es<br />

auch schon mal vor, dass er mich mit <strong>der</strong> H<strong>und</strong>epeitsche verprügelt hat <strong>und</strong> ähnliche<br />

Sachen. Ich muss dazu sagen, wir hatten einen Rottweiler <strong>und</strong> da hat man halt auch<br />

ein bisschen härteres H<strong>und</strong>egeschirr sozusagen, <strong>und</strong> das hat <strong>der</strong> benutzt, um mich<br />

zu verprügeln. Und das nicht nur einmal die Woche. Und dann habe ich angefangen,<br />

mich auch rumzutreiben zu dem Zeitpunkt, also mein Zuhause zu meiden. Und das<br />

führte dann zu immer größeren Spannungen zwischen meiner Mutter <strong>und</strong> mir, o<strong>der</strong><br />

vor allem zwischen meinem Stiefvater <strong>und</strong> mir. Und .. , ja .., dann bin ich glaube noch<br />

14 gewesen o<strong>der</strong> schon Anfang 15, da gab es sogar Zeiträume, wo ich zwei, drei<br />

Tage gar nicht zu <strong>Haus</strong>e war. Wo ich bei Klassenkameraden übernachtet habe o<strong>der</strong><br />

sonst irgendwas. Nur um meinem gewalttätigen Stiefvater aus dem Weg zu gehen.<br />

So, <strong>und</strong> .. in dieser Zeit des Rumtreibens <strong>und</strong> so, da war ich dann nicht nur politisch<br />

wi<strong>der</strong>ständig sozusagen, da habe ich natürlich auch Dummheiten gemacht. Und in<br />

diesem Stadtteil von Ostberlin in Blankenburg, wo wir lebten, da gab es eine große<br />

Jugendclique, die massiv Autos geklaut haben, unbefugt benutzt haben <strong>und</strong> damit<br />

durch Ostberlin gefahren sind. O<strong>der</strong> Mopeds o<strong>der</strong> Motorrä<strong>der</strong> <strong>und</strong> so. Und ich war<br />

latent auch mit diesen Jungs <strong>und</strong> Mädels natürlich bekannt. Das waren Gleichaltrige,<br />

die gingen dann in die Schule o<strong>der</strong> in eine Parallelschule. Man kannte sich ja auch.<br />

Stefan hatte in diesem Alter von 14, 15 insgesamt drei Mopeds entwendet, unbefugte<br />

Kfz-Benutzung begangen <strong>und</strong> ist damit durch Ostberlin gefahren <strong>und</strong> kam sich cool<br />

vor. Und ja <strong>und</strong> dass es kein Kfz-Diebstahl unterm Strich geworden ist, hat damit zu<br />

tun, dass ich die Dinger immer dahin gebracht hatte, wo ich sie eine halbe St<strong>und</strong>e<br />

o<strong>der</strong> zwei St<strong>und</strong>en vorher entwendet hatte <strong>und</strong> wie<strong>der</strong> abstellen wollte. Bin natürlich<br />

immer erwischt worden. Also alle drei Mal. … Ja <strong>und</strong> die Summe <strong>der</strong> Spannungen,<br />

die wir im Elternhaus hatten, also zwischen meiner Mutter, meinem Stiefvater <strong>und</strong> mir<br />

<strong>und</strong> dann noch diese Mopeddiebstähle <strong>und</strong> natürlich die .. strafrechtliche<br />

Verurteilung dafür, die dazu führte, dass meine Mutter zum Jugendamt gegangen ist.<br />

Die musste sowieso hin, um sich zu rechtfertigen. Da hat sie den Antrag auf<br />

Heimeinweisung gestellt, also Erziehungshilfe hat man das damals genannt. Und das<br />

hat nichts an<strong>der</strong>es bedeutet, als dass ich ins Heim gekommen bin. … Dann bin ich<br />

15 ½ Jahre, den Tag werde ich nie vergessen, ist <strong>der</strong> 6. Dezember 1982 gewesen.<br />

Da stehe ich vor dem Stadtbezirksgericht Berlin Pankow wegen dieser Moped-<br />

Geschichten vor Gericht <strong>und</strong> werde zur Bewährungsstrafe verurteilt mit einer<br />

angedrohten Freiheitsstrafe von sechs Monaten. Und in dieser Gerichtsverhandlung<br />

www.haus<strong>der</strong>demokratie.de/unverzichtbar 5


steht meine Mutter auf, <strong>und</strong> ruft in den Saal, sie hat keinen Sohn Stefan mehr. Also<br />

da war nicht nur die Stimmung plötzlich im Arsch, da vor Gericht, also die<br />

Verhandlung ist sofort unterbrochen worden. Ich war in Tränen aufgelöst. Und ich<br />

weiß nicht, ob das Gericht, also ich kenne die Richterin seit Jahren, also auch<br />

danach. Wir waren auch sozusagen befre<strong>und</strong>et. Und sie hat mir das nie wirklich<br />

bestätigt, aber ich glaube man wollte mich eigentlich schon zur Haftstrafe, also ohne<br />

Bewährung, direkt an diesem Tage eigentlich verurteilen. Und aufgr<strong>und</strong> des<br />

Auftretens meiner Mutter <strong>und</strong> auch meines Stiefvaters, <strong>der</strong> sich da unmöglich<br />

aufgeführt hat an diesem Tag, hat man mich dann doch zur Bewährung verurteilt.<br />

Und dann bin ich in das Jugendwohnheim gekommen, noch am selben Tag. Und da<br />

haben sich mein Verteidiger <strong>und</strong> die Staatsanwältin <strong>und</strong> die Richterin mit den Chefs<br />

zusammengesetzt <strong>und</strong> das noch mal diskutiert <strong>und</strong> dann ist die Verhandlung schnell<br />

beendet worden. Und da war ich am selben Abend noch in Prenzlauer Berg in einem<br />

sogenannten sozialistischen Jugendwohnheim. (00:17:01-4)<br />

…<br />

Und ab dem Zeitpunkt, da bin ich 15 ½ Jahre alt, da bin ich Heimkind. Nichts ist mehr<br />

mit sich in <strong>der</strong> Freizeit zu erholen von den kommunistischen Parolen, die man in <strong>der</strong><br />

Schule hat o<strong>der</strong> sonst irgendwann seine .. Lieblingsmusik zu hören. Ich konnte<br />

plötzlich nicht mehr West-Radio hören, was eigentlich vollkommen normal war, für<br />

uns Ostberliner Jugendliche. Ich konnte nicht einfach in, in den Gruppenraum gehen,<br />

den Fernseher anmachen <strong>und</strong> ARD o<strong>der</strong> ZDF gucken. Das hätte ein riesen Theater<br />

in diesem Wohnheim gegeben. (00:17:36-9) …<br />

Also neben meinen politischen Aktivitäten, die ich gemacht habe o<strong>der</strong> meinem<br />

jugendlichen Rebellentum, das ist ja so eine Mischung eigentlich. Mit 15 Jahren ist<br />

man noch nicht ausgereift als Persönlichkeit, dass man das jetzt als bewussten<br />

Wi<strong>der</strong>stand einordnen könnte, wie es eben auch bekannte Bürgerrechtler wie Bärbel<br />

Bohley o<strong>der</strong> Rainer Eppelmann o<strong>der</strong> wie sie alle heißen, da gemacht haben. Das ist<br />

mit 15 Jahren natürlich eine ganz an<strong>der</strong>e Qualität, ne? Das ist alles zusammen<br />

gekommen <strong>und</strong> meine Mutter hat sich distanziert von mir <strong>und</strong> plötzlich bin ich im<br />

Heim. (00:18:15-8)<br />

…<br />

Ich habe mich komplett verweigert. Also erst mal war es sowieso ziemlich schwierig,<br />

dieses Bewusstsein, dass ich jetzt nicht mehr mein eigenes Zimmer habe zu <strong>Haus</strong>e.<br />

Und meine ganzen Poster, die ich in meinem Zimmer hatte zu <strong>Haus</strong>e, die durfte ich<br />

nicht mit ins Wohnheim nehmen. Die hätte ich da nicht aufhängen können. Also ich<br />

hatte Poster von Bands aus Westeuropa <strong>und</strong> Amerika, Kiss, Pink Floyd, Stones,<br />

AC/DC <strong>und</strong> sonst irgendwas hing bei mir zu <strong>Haus</strong>e. Und wer das Logo von <strong>der</strong> Band<br />

Kiss kennt, <strong>der</strong> weiß, dass da die SS-Runen benutzt werden, um eben irgendwie<br />

Aufregung o<strong>der</strong> sonst was zu erreichen. Das hätte ich im Wohnheim niemals<br />

aufhängen dürfen. Das wäre eine Straftat für die gewesen. Und .., ja das habe ich<br />

alles vermisst. Und wenn ich aus <strong>der</strong> Schule gekommen bin, ich konnte da meine<br />

Schule doch noch zu Ende machen. Da war ich dann ja schon im Heim. Da habe ich<br />

mich möglichst in meiner Freizeit nicht im Heim aufgehalten. Ich habe angefangen<br />

mich rumzutreiben auf dem Berliner Alexan<strong>der</strong>platz zum Beispiel. Hab da auch<br />

an<strong>der</strong>e junge Menschen kennen gelernt, die <strong>der</strong> Ostberliner Punkszene zum Beispiel<br />

www.haus<strong>der</strong>demokratie.de/unverzichtbar 6


angehört haben. Und ja, wenn ich dann auch mal die Schule hab Schule sein lassen,<br />

das war in <strong>der</strong> zehnten Klasse in <strong>der</strong> DDR natürlich nicht ganz so schwierig, weil<br />

dann irgendwann nur noch Konsultationsunterricht angeboten wurde, den man nicht<br />

beiwohnen musste. Also da gab es keine Anwesenheitspflicht. Dann habe ich mich<br />

auch schon mal vormittags auf dem Alex rumgetrieben <strong>und</strong> mich mit den Punks dort<br />

getroffen, Bier getrunken, Musik gehört <strong>und</strong> sonst was. Aber möglichst nicht im Heim.<br />

Ich habe mich da also komplett <strong>der</strong> sogenannten Erziehung zur vollwertigen<br />

sozialistischen Persönlichkeit entzogen. Und das war keine hohle Phrase. Die haben<br />

also wirklich immer versucht, mit uns politisch zu agieren <strong>und</strong> zu diskutieren <strong>und</strong> uns<br />

zu formen. Dem habe ich mich bewusst entzogen. Und das war, das war nicht gut.<br />

(00:20:15-2)<br />

…<br />

SL: Na ja, … wenn ein Erzieher, also man könnte das heute mit einer Schule zum<br />

Beispiel vergleichen. Wenn da ein Schüler ständig aus <strong>der</strong> Reihe tanzt <strong>und</strong> dem<br />

Lehrer sich total verweigert <strong>und</strong> so weiter, <strong>der</strong> Lehrer keinen Zugang mehr hat zu<br />

dem Jugendlichen, dann schauen natürlich die Mitschüler auf diese Geschichte, <strong>und</strong><br />

das könnte zu Nachahmungseffekten führen. Und das wissen halt die Betreuer o<strong>der</strong><br />

die Lehrer. Und damit man dann gruppendynamisches Verhalten, so nannte man das<br />

in <strong>der</strong> DDR, unterbindet, musste man dann eben Sanktionen sich ausdenken. Und<br />

das war in diesem Wohnheim natürlich äußerst begrenzt, nicht wahr? Das war ja die<br />

humanste Heimunterbringung für Jugendliche in <strong>der</strong> DDR überhaupt. Und als ich<br />

mich dann noch einmal geprügelt hatte, <strong>und</strong> dann wie<strong>der</strong> vor Gericht gelandet bin<br />

wegen Körperverletzung <strong>und</strong> meine Bewährungsstrafe aufgehoben wurde, dann<br />

musste ich dann nicht nur das erste Mal in den Jugendstrafvollzug, also erst U-Haft<br />

in Berlin <strong>und</strong> dann Verlegung in Jugendstrafvollzug nach Halle…. Und als ich dann<br />

zurückkam, dann war ich halt <strong>der</strong> Knacki für die Erzieher dort in diesem Wohnheim.<br />

Ich konnte zwar die Lehrausbildung, die ich in <strong>der</strong> Haft angefangen hatte, konnte ich<br />

dann zwar in Ostberlin fortführen, aber in meiner Freizeit, wenn ich mich wirklich im<br />

Heim aufgehalten habe, waren die Erzieher sehr distanziert zu meiner Person<br />

plötzlich. Haben mich ausgegrenzt <strong>und</strong> darauf geachtet das ich nicht so viel Kontakt,<br />

also negativen Kontakt, wie sie es nannten, zu den an<strong>der</strong>en Insassen hatte. Und<br />

November 1984 wurde ich dann plötzlich nach Freital, bei Dresden, in einen offenen<br />

Jugendwerkhof verlegt. (00:22:07-0)<br />

…<br />

SL: Also <strong>der</strong> Anlass für diese Prügelei wie man das nannte, o<strong>der</strong> diese<br />

Körperverletzung war eigentlich relativ banal. Ich kam aus irgendwelchen Gründen,<br />

ich weiß gar nicht mehr wirklich warum, total sauer von meiner Schule. Einfach eines<br />

Tages, einfach nur bin ich zurück zum Wohnheim gefahren, um meine Schulsachen<br />

abzulegen <strong>und</strong> auf dem Weg vom S-Bahnhof bis zu meinem Wohnheim musste ich<br />

durch so einen Park laufen <strong>und</strong> dann über so einen Kin<strong>der</strong>spielplatz, dann die große<br />

Freitreppe runter. Und auf diesem Kin<strong>der</strong>spielplatz ist mir halt ein an<strong>der</strong>er<br />

Jugendlicher mit dem Fahrrad vor die Füße gefahren <strong>und</strong> dem habe ich einfach eine<br />

Ohrfeige gegeben. Ich weiß gar nicht mehr wirklich warum. Ich war einfach<br />

hochgradig geladen, aus irgendwelchen Problemen aus <strong>der</strong> Schule heraus. Und <strong>der</strong><br />

Junge war dann <strong>der</strong> Blitzableiter, sozusagen. Den hat es getroffen. Und mehr ist da<br />

gar nicht passiert. Und aufgr<strong>und</strong> dieser Geschichte habe ich für eine<br />

www.haus<strong>der</strong>demokratie.de/unverzichtbar 7


Körperverletzung, also diese Ohrfeige, <strong>der</strong> war auch nicht schwer verletzt o<strong>der</strong><br />

irgendwas, dafür habe ich zwei Monate zusätzliche Haft bekommen. Und war dann<br />

für acht Monate das erste Mal richtig im Jugendstrafvollzug. (00:23:28-2)<br />

Die Bewährung ist ja aufgehoben worden für diese Moped-Geschichten. Da standen<br />

sechs Monate Freiheitsentzug sozusagen auf dem Zettel <strong>und</strong> für die<br />

Körperverletzung noch zwei Monate drauf macht acht Monate. Und dann war ich<br />

wirklich bis Ende Februar '84 im Jugendstrafvollzug. Habe da recht üble Sachen<br />

auch miterleben müssen.<br />

Und wurde dann entlassen. War dann drei Monate in Berlin wie<strong>der</strong> in diesem<br />

Jugendwohnheim, sozusagen in Freiheit. Hab meine angefangene Ausbildung weiter<br />

geführt. Und dann kam noch eine dritte Sache hinzu. Und zwar hatten wir in diesem<br />

Jugendwohnheim eines Abends eine angekündigte Heimvollversammlung. Und da<br />

ging es darum, dass ein Heiminsasse einen an<strong>der</strong>en Heiminsassen massiv<br />

zusammen geschlagen hatte. Und <strong>der</strong> Täter, <strong>der</strong> war schon in Untersuchungshaft<br />

genommen worden, war schon inhaftiert. Und diese Straftat dieses Mitinsassen in<br />

diesem Jugendwohnheim sollte ausgewertet werden. Da waren Vertreter von <strong>der</strong><br />

Kriminalpolizei dabei, ein Leutnant. Und natürlich die ganze Heimleitung <strong>und</strong> die<br />

meisten Erzieher <strong>und</strong> natürlich wir Insassen, wir Jugendlichen. Und dann wurde über<br />

diesen vermeintlichen, o<strong>der</strong> wirklichen Täter total hergezogen, was das denn für ein<br />

asoziales Element ist <strong>und</strong> <strong>der</strong>, den müsse jetzt die volle Härte des sozialistischen<br />

Strafrechts treffen <strong>und</strong> tralala. Und da ich ja schon acht Monate Jugendstrafvollzug<br />

hinter mir hatte, <strong>und</strong> die Hintergründe von <strong>der</strong> Straftat des an<strong>der</strong>en Insassen kannte,<br />

ist mir irgendwann <strong>der</strong> Kragen geplatzt. Dann bin ich aufgestanden <strong>und</strong> habe mal<br />

erzählt wie es wirklich in <strong>der</strong> Jugendhaft aussieht. Diese vermeintliche<br />

Resozialisierung <strong>und</strong> die Umerziehung. Und habe über meine Erfahrungen von<br />

Gewalt <strong>der</strong> Haftinsassen im Jugendstrafvollzug berichtet. Habe öffentlich auf dieser<br />

Heimversammlung davon gesprochen, dass die Angestellten im Strafvollzug, das<br />

waren damals alles Polizisten, die unterstanden alle dem Ministerium des Inneren,<br />

dass die ebenfalls gewalttätig gegenüber den Insassen sind. Also sehr gerne ihren<br />

Schlagstock benutzt haben <strong>und</strong> sehr gerne Einzelhaft ver...ver...verhängten. Und das<br />

habe ich eben dort alles erzählt <strong>und</strong> habe ganz deutlich gesagt, dass <strong>der</strong>, <strong>der</strong> jetzt<br />

hier zur Debatte steht mit seiner Strafe dort untergehen wird, weil es ein total<br />

sensibler <strong>und</strong> eigentlich zurückgezogener <strong>und</strong> schüchterner junger Mensch ist, <strong>der</strong><br />

sich nur in einem Moment nicht mehr unter Kontrolle hatte, weil er eben ständig<br />

drangsaliert <strong>und</strong> gehänselt wurde von dem vermeintlichen Opfer. Das war <strong>der</strong><br />

Hintergr<strong>und</strong>. So, <strong>und</strong> weil ich darüber offen gesprochen habe <strong>und</strong> die Zustände im<br />

Strafvollzug eben öffentlich kritisiert habe auf dieser Heimversammlung, <strong>und</strong> zwar<br />

massiv kritisiert habe, bin ich nur wenige Tage später in meinem Betrieb verhaftet<br />

worden, das ist, ist kein Scherz. Bin in Handschellen abgeführt worden in die<br />

Untersuchungshaft wie<strong>der</strong> gebracht worden. Und die, <strong>der</strong> Anklagevorwurf war<br />

Paragraph 220 vom Strafgesetzbuch <strong>der</strong> DDR, öffentliche Herabwürdigung von<br />

staatlichen Einrichtungen <strong>und</strong> Institutionen. Früher nannte man das Boykott-Hetze in<br />

<strong>der</strong> DDR. Ist ein Gummi-Paragraph, also Staatsverleumdung würde man das heute<br />

beschreiben. Ich hätte halt eine sozialistische Einrichtung, sprich den<br />

Jugendstrafvollzug, in Misskredit gebracht, mit meinen öffentlichen Ein...Aus...o<strong>der</strong><br />

Einlassung. Und darauf stand eine Strafandrohung von bis zu zwei Jahren<br />

Freiheitsentzug. Und dann bin ich plötzlich in <strong>der</strong> Haft, kann natürlich meine<br />

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Ausbildung nicht fortsetzen <strong>und</strong>, <strong>und</strong>, <strong>und</strong>... Und das dauert mehrere Monate diese,<br />

diese Verhandlung. Und ich werde zwar von diesem Tatvorwurf dann freigesprochen<br />

vor dem Stadtbezirksgericht Berlin Prenzlauer Berg aber wegen Rowdytum <strong>und</strong>, <strong>und</strong>,<br />

<strong>und</strong> Drangsalierung eines an<strong>der</strong>en Jugendlichen im Wohnheim, die ich nie begangen<br />

habe, werde ich dann wie<strong>der</strong> zu einem halben Jahr verurteilt. Sonst hätten sie mir<br />

Haftentschädigung zahlen müssen. Da bin ich ein zweites Mal im Jugendstrafvollzug<br />

in Halle wegen dieser Geschichte. Hat natürlich einen gewissen Vorteil gehabt, also<br />

mal abgesehen von <strong>der</strong> Haftunterbringung, aber ich konnte wenigstens meine<br />

theoretische Facharbeiterausbildung zu Ende bringen. Und dort abschließen… mir<br />

hat dann nur noch in <strong>der</strong> praktischen Ausbildung ein viertel Jahr gefehlt, dann wäre<br />

ich vollständiger Facharbeiter gewesen.<br />

3. Jugendwerkhof Freital: „Ich habe mich dort total verweigert“<br />

Ja <strong>und</strong> im November, also während dieser zweiten Haftzeit im Jugendstrafvollzug in<br />

Halle, hatte die Heimleitung diesen Antrag beim Jugendamt gestellt, wenn <strong>der</strong><br />

entlassen wird, den wollen wir nicht mehr zurück haben <strong>und</strong> so. Der bringt hier zu viel<br />

Unruhe ins Jugendwohnheim. Der muss in den Jugendwerkhof. Da müssen härtere<br />

Erziehungsmaßnahmen her, <strong>und</strong> die Jugendwerkhöfe. ..Man weiß das heute, weil es<br />

eben äh ja, ja recherchiert wurde, würde ich es mal vorsichtig bezeichnen, von vielen<br />

Leuten die sich mit dieser Thematik beschäftigen heute. Und.. die, die<br />

Erziehungsmethoden im...in Jugendwerke in <strong>der</strong> DDR <strong>und</strong> da gab es 1990 noch<br />

zwei<strong>und</strong>dreißig Stück von. Das hieß dann nicht mehr Erziehung zur sozialistischen<br />

Persönlichkeit son<strong>der</strong>n Umerziehung mit aller Konsequenz <strong>und</strong> ohne Duldung von<br />

Diskussionen. Und was das bedeutet, .. ja, da kann man sich mittlerweile<br />

ausreichend Literatur zu besorgen. Das ging ab wie in einer Militärkaserne, in diesen<br />

Jugendwerkhöfen. Da warst du plötzlich kein Individuum mehr <strong>und</strong>, <strong>und</strong> ... da wurde<br />

nicht gefragt ... mit welchen För<strong>der</strong>maßnahmen man das hier machen kann <strong>und</strong> wie<br />

kann ich dir denn helfen, dass du ein ganz normaler Mensch wirst <strong>und</strong> sonst<br />

irgendwie. Dir wurde nur noch befohlen was du zu tun <strong>und</strong> zu lassen hast. Und das<br />

in meiner Situation, gerade aus <strong>der</strong> Haft raus, ich habe mich auf die Freiheit gefreut<br />

<strong>und</strong> dachte, dass ich jetzt meinen Facharbeiter in Ostberlin zu Ende bringen kann.<br />

Und dann habe ich ja bloß noch ein halbes/dreiviertel Jahr, dann bin ich 18 <strong>und</strong> dann<br />

eine Arbeitsstelle, eine eigene Wohnung. Das war meine Zukunftsperspektive. Und<br />

dann werde ich da abgeholt aus <strong>der</strong> Haftanstalt <strong>und</strong> werde in den Jugendwerkhof<br />

gebracht. Ohne, ohne Vorwarnung. ... Das war ein riesen Schock für..für mich.<br />

(00:29:40-5)<br />

…<br />

Das wird heute immer ganz, ganz gerne behauptet, dass die Insassen <strong>der</strong><br />

Jugendwerkhöfe ja alle durchweg kriminell gewesen wären o<strong>der</strong> sonst irgendwas.<br />

Also mal ganz abgesehen davon, dass viele Straftaten in <strong>der</strong> DDR politisch<br />

motivierte Taten gewesen sind, die heute überhaupt gar nicht mehr justiziabel sind. ..<br />

Wir waren keine Straftäter. Also in meinem Fall, natürlich hatte ich als 14-jähriger<br />

Mopeds entwendet <strong>und</strong> bin damit unbefugt durch die Gegend gefahren. Bin dafür in<br />

Jugendhaft gekommen. Und ich habe einem Jugendlichen eine Backpfeife gegeben<br />

<strong>und</strong> wurde wegen Körperverletzung verurteilt. Aber das war ja nicht <strong>der</strong><br />

Einweisungsgr<strong>und</strong> für den Jugendwerkhof. Der Einweisungsgr<strong>und</strong> bei mir, <strong>und</strong> das<br />

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deckt sich mit vielen, vielen Lebensläufen von ehemaligen Insassen von den<br />

Jugendwerkhöfen, das war mein rebellisches aufmüpfiges Verhalten <strong>und</strong> mein<br />

Wi<strong>der</strong>stand gegen meine Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit. Das war <strong>der</strong><br />

Einweisungsgr<strong>und</strong>, weil sie mich in diesem offenen Jugendwohnheim nicht unter<br />

Kontrolle gekriegt haben, keinen Einfluss auf mich hatten. Da müssen eben an<strong>der</strong>e,<br />

härtere Erziehungs- o<strong>der</strong> Umerziehungsmaßnahmen her. So waren die<br />

Jugendwerkhöfe ausgelegt. Für einen jugendlichen Straftäter, <strong>und</strong> das ist ja an<br />

meinem Beispiel recht gut nachvollziehbar, da waren die Jugendwerkhöfe gar nicht<br />

gedacht. Dafür gab es mehrere, also ich glaube fast 15 o<strong>der</strong> 20 Jugendhaftanstalten<br />

in <strong>der</strong> DDR. Die sogenannten Jugendhäuser. Man hatte genügend Platz für<br />

jugendliche Straftäter ... (00:31:28-8)<br />

Ein Intensivtäter o<strong>der</strong> ein Straftäter, <strong>der</strong> kam vor Gericht, vors Jugendstrafgericht <strong>und</strong><br />

wurde verurteilt <strong>und</strong> wenn er zur Freiheitsstrafe verurteilt wurde, kam er in den<br />

Jugendstrafvollzug. Also diese, diese Mär, was ja immer gerne benutzt wird, dass wir<br />

alle schwerstkriminell gewesen wären – Mör<strong>der</strong>, Räuber <strong>und</strong> so. So haben sich<br />

ehemalige Erzieher nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung Deutschlands auch schon mal<br />

wirklich öffentlich geäußert. Wir wären ja alle Mör<strong>der</strong>, Vergewaltiger, Räuber <strong>und</strong><br />

sonst was gewesen, die in den Jugendwerkhöfen gewesen sind. Es stimmt einfach<br />

nicht. Es stimmt nicht. (00:32:06-5)<br />

SL: Alt-Stralau ist ein sogenanntes Durchgangsheim <strong>der</strong> DDR gewesen. Und<br />

Durchgangsheime gab es in je<strong>der</strong> größeren Stadt in <strong>der</strong> DDR. Das waren weit über<br />

fünfzig Durchgangsheime DDR-weit. Und diese Durchgangsheime in <strong>der</strong> DDR, die<br />

waren vorgesehen für Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche im Alter zwischen sechs bis achtzehn<br />

Jahren. Und diese Durchgangsheime waren Haftanstalten letzten Endes. Wenn man<br />

sich die Räumlichkeiten anschaut <strong>und</strong>, <strong>und</strong> Einzeljugend...äh...Durchgangsheime<br />

sich mal etwas genauer anschaut, wie zum Beispiel Alt-Stralau in Berlin o<strong>der</strong> Bad<br />

Freienwalde zum Beispiel im Land Brandenburg. Das sind tatsächlich ehemalige<br />

Haftanstalten. Vergitterte Fenster, die Türen sind verschlossen, man hat keinen<br />

Freigang, Ausgang sowieso nicht <strong>und</strong> <strong>der</strong> Tagesablauf ist militärisch<br />

durchstrukturiert. Und das schon für sechsjährige Kin<strong>der</strong>. Und die sind nun weiß<br />

Gott, we<strong>der</strong> strafmündig noch straffällig gewesen o<strong>der</strong> sonst was. Und die sind aus<br />

ihren Familien heraus gelöst worden, aus normalen Gründen, wie heute auch Kin<strong>der</strong><br />

o<strong>der</strong> Jugendliche in Heimerziehung kommen können. Alt-Stralau war nach meiner<br />

Haftentlassung im November '84 für 14 Tage meine Zwischenstation (…) Und ich<br />

wurde dann von dort in diesen sogenannten offenen Jugendwerkhof nach Freital<br />

verlegt, das ist bei Dresden in Sachsen. Das war ja schon mal <strong>der</strong> größte Fehler,<br />

also einen Ostberliner Punk nach Sachsen zu verlegen. Das ging gar nicht. Und<br />

diese sogenannten offenen Jugendwerkhöfe, das hört sich ganz niedlich an, aber<br />

das war nichts an<strong>der</strong>es als Haftanstalten letzten Endes. Man hatte keine Papiere,<br />

also <strong>der</strong> Personalausweis wurde einem abgenommen. Man hatte kein Geld zur<br />

Verfügung, also ganz, ganz minimales Taschengeld gab es da pro Woche, ich<br />

glaube eine Mark fünfzig o<strong>der</strong> so. Und damit hätte man auch zu DDR-Preisen nicht<br />

einfach irgendwohin fahren können. Man durfte das Werkhofsgelände sowieso nicht<br />

unerlaubt verlassen. Und <strong>der</strong> Tagesablauf, <strong>der</strong> war durchstrukturiert. So nannten die<br />

das noch hochtrabend. Das heißt nichts an<strong>der</strong>es, als dass <strong>der</strong> Erzieher bis hin zum<br />

Direktor jede Tages-, also Minute am Tag durchgeplant, im Voraus durchgeplant<br />

hatte. Und dann gab es nur für jede Gruppe den Anweisungen des Erziehers zu<br />

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folgen. Das war alles vorgeschrieben. Also selbst wenn wir zum Frühstück gegangen<br />

sind, o<strong>der</strong> zum Mittag o<strong>der</strong> zum Abendbrot, .. <strong>und</strong> das in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Gruppe machen<br />

musste, dann hieß es antreten, ausrichten, durchzählen, Meldung an Erzieher, rechts<br />

rum <strong>und</strong> im Gleichschritt Marsch in den Speiseraum. Das ist nichts an<strong>der</strong>es, als<br />

wenn ich heute einen 18- o<strong>der</strong> 20-jährigen frage, wie ist denn dein Gr<strong>und</strong>wehrdienst<br />

bei <strong>der</strong> B<strong>und</strong>eswehr. Und das ist genau das Gleiche. (00:35:15-6)<br />

So <strong>und</strong> die Freizeit, das kann man sich auch nicht vorstellen, wie fröhliches<br />

Fußballspielen o<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> wir gehen mal jetzt Tischtennis spielen <strong>und</strong>...nichts. Der<br />

Erzieher hat gesagt was zu machen war. Und das ging wirklich soweit, wir mussten<br />

da ja im Rahmen dieser, dieser Teilfacharbeiterausbildung, die angeboten wurde, an<br />

<strong>der</strong> vormilitärischen Gr<strong>und</strong>ausbildung teilnehmen. Und dann sind wir als gesamte<br />

Gruppe wirklich st<strong>und</strong>enlang über das Werkhofsgelände marschiert, in Kolonne. Und<br />

haben da irgendwelche Arbeiterkampflie<strong>der</strong> singen sollen <strong>und</strong>, <strong>und</strong> trallala.<br />

(00:35:49-8)<br />

Es … war nicht freies Leben. Das war Knast. Und das ohne dass man Straftaten<br />

begangen hatte. In Freital war das so, dass wir, wir waren ja ausschließlich Jungs.<br />

Zwischen hun<strong>der</strong>tzwanzig <strong>und</strong> hun<strong>der</strong>tvierzig Insassen gab es da, in mehreren<br />

Gruppen unterteilt, zu je zwanzig Jungs. Und wir mussten dort im Edelstahlwerk <strong>der</strong><br />

Stadt arbeiten. Fünf Tage die Woche <strong>und</strong> ich glaube eine Woche vom Monat hatten<br />

wir dann sogenannten theoretischen Berufsschulunterricht im Werkhof selbst. Aber<br />

ansonsten, drei Wochen im Monat, musste man dort in diesem Edelstahlwerk<br />

arbeiten <strong>und</strong> die nannten das Ausbildung. Wenn man sich das rückblickend heute<br />

anschaut, dann ist das nicht an<strong>der</strong>es als Zwangsarbeit gewesen. Also wirklich<br />

schwerste körperliche Arbeit in <strong>der</strong> Platinenschleiferei war ich zum Beispiel. Das sind<br />

bestimmte Stahlblöcke, die schon vorgewalzt waren <strong>und</strong> dann mussten Walzfehler<br />

ausgeschliffen werden. Mit riesengroßen schweren Pendelschleifmaschinen am<br />

Fließband. Und da waren, wie gesagt, auch 14-jährige Bengels dabei, die körperlich<br />

überhaupt gar nicht ausgereift waren. Ich war zu diesem Zeitpunkt 17, 17 ½ Jahre<br />

alt. Und da ging das vielleicht schon ein bisschen… (00:37:01-5)<br />

Wir waren schlicht <strong>und</strong> ergreifend billige Arbeitskräfte. (00:37:05-9)<br />

…<br />

Im Regelfall [musste ich] acht St<strong>und</strong>en [am Tag arbeiten]. Ne, also plus die<br />

Pausenzeiten, so dass wir ungefähr achteinhalb, knapp neun St<strong>und</strong>en auf Arbeit<br />

verbracht haben <strong>und</strong> dann wie<strong>der</strong> zurückgeführt wurden in den Werkhof. Und das ist<br />

auch noch eine Beson<strong>der</strong>heit von diesem Jugendwerkhof in Freital, in Sachsen. Der<br />

Werkhof lag o<strong>der</strong> ja, <strong>der</strong> ist ja mittlerweile abgerissen. Der lag auf einer Mülldeponie<br />

des Edelstahlwerks, wo Schlackereste <strong>und</strong> ähnliches verkippt wurden. Wo<br />

wenigstens im Sommer, das ist mir Gott sei dank erspart geblieben, im Sommer war<br />

ich da nicht, wo giftige Dämpfe hoch, also aufgestiegen sind. Und das ist heute auch<br />

bewiesen, deshalb wurde dieses Gelände auch abgerissen, nach <strong>der</strong><br />

Wie<strong>der</strong>vereinigung. Da sind wir über diese Müllkippe, wirklich zwei Kilometer<br />

mussten wir laufen, bis zum Stahlwerk geführt worden <strong>und</strong> dann wie<strong>der</strong> zurück. <strong>und</strong><br />

unsere Freizeit haben wir auf dieser Müllkippe dort verbracht. Die Räumlichkeiten<br />

waren zwei langgestreckte Baracken. Die eine Baracke bestand aus Holz <strong>und</strong><br />

Asbestplatten. Das war die Unterbringung, Schlafräume <strong>und</strong> Gruppenräume für die<br />

Jugendlichen. In <strong>der</strong> Mitte davon aus Stein gebaut, <strong>der</strong> Speisesaal <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

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Sanitärtrakt, also Duschen, Toiletten <strong>und</strong> Waschräume. Ja <strong>und</strong> dem gegenüber, ein<br />

paar Meter entfernt, stand eine zweite langgezogene Steinbaracke, <strong>und</strong> da war die<br />

Verwaltung untergebracht, also Direktion <strong>und</strong> trallala. Und <strong>der</strong> Umklei<strong>der</strong>aum, wo<br />

man seine Arbeitsklamotten vor <strong>der</strong> Arbeit angezogen hat. Und dann gab es noch<br />

einen Schulungsraum dort, eine Klei<strong>der</strong>kammer <strong>und</strong> eine ganz, ganz kleine<br />

Sporthalle, die ich nie gesehen habe. Also von innen. Zu meiner Zeit. Und das<br />

nannten die Jugendwerkhof. Das nannten die Umerziehung. (00:38:58-1)<br />

…<br />

In <strong>der</strong> DDR war ja eigentlich eine zehnjährige Schulpflicht. Aber in den<br />

Jugendwerkhöfen war es <strong>der</strong> Regelfall, dass man nur den Abschluss <strong>der</strong> achten<br />

Klasse machen konnte <strong>und</strong> anschließend eine Teilfacharbeiterausbildung. Um das<br />

für heutige Begriffe zu übersetzen, ist das eine Anlerntätigkeit. Das ist wirklich so, als<br />

wenn jemand von <strong>der</strong> Hauptschule entlassen wird ohne Abschluss <strong>und</strong> dann in einen<br />

Betrieb kommt <strong>und</strong> dort eine ja berufsför<strong>der</strong>nde Maßnahme o<strong>der</strong> irgendwas macht,<br />

um später eine Tätigkeit auf Anlernniveau im großen Betrieb ausführen zu können.<br />

Um es mal etwas global zu bezeichnen. Das hatte keinen, keinen großen Wert diese,<br />

diese Ausbildung. Und das war ja in meinem Fall dann sowieso alles null <strong>und</strong> nichtig.<br />

Ich habe da zwar arbeiten müssen in diesem Stahlwerk <strong>und</strong> auch an diesem<br />

Berufsschulunterricht teilnehmen müssen. Und ansonsten habe ich mich komplett<br />

dort verweigert. Also ich bin ja auch abgehauen aus, aus Freital recht schnell nach<br />

Ostberlin geflüchtet in einer Nacht- <strong>und</strong> Nebelaktion. Da hat man mich dann wie<strong>der</strong><br />

aufgegriffen <strong>und</strong> wie<strong>der</strong> zurück gebracht. Ich habe mich dort permanent allen Sachen<br />

verweigert. Also ich hatte damals schon Knieprobleme. Schon als junger Mensch.<br />

Und habe mich so oft wie es ging krankschreiben lassen vom Arzt. Und, <strong>und</strong> mich<br />

also <strong>der</strong> Arbeit teilweise dort verweigert. Ich habe mich dieser, dieser<br />

Umerziehungsversuche <strong>der</strong> Erzieher total verweigert. Ich habe von meinem ersten<br />

bis zu meinem letzten Tag, die den ich dort verbracht habe in dieser Einrichtung alle<br />

Erzieher geduzt bis hin zum Direktor. Also morgens raus: „Wie war die Nacht?“, <strong>und</strong><br />

nichts hier mit „Ja Herr“, weiß ich nicht, „Müller“ o<strong>der</strong> so. Und ich habe die richtig<br />

provoziert. Also richtig auf die Palme gebracht. Die wollten mich wie<strong>der</strong> gegen<br />

meinen Willen in die FDJ einglie<strong>der</strong>n. Die wussten also aus den Unterlagen, dass ich<br />

aus <strong>der</strong> FDJ ausgetreten war <strong>und</strong>, <strong>und</strong>, <strong>und</strong>. Und dass ich staatsfeindlich eingestellt<br />

war. Das wollten die natürlich än<strong>der</strong>n in dem Werkhof. Ich habe immer nein gesagt.<br />

Also ich habe vorher in meinem Leben nie so oft dieses Wort benutzt <strong>und</strong> auch<br />

später nicht. Ich habe dort mindestens am Tag fünfzigmal das Wort nein gesagt,<br />

einfach nein. Und das konnten die sich auf Dauer nicht gefallen lassen. Und da diese<br />

Aufsässigkeiten, wie sie es nannten, von mir also die Frechheiten <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Wi<strong>der</strong>stand auch noch gruppendynamisch wurde. Ich war dann irgendwann nicht<br />

mehr <strong>der</strong> einzige Jugendliche in meiner Gruppe o<strong>der</strong> von an<strong>der</strong>en Gruppen machten<br />

das auch einige nach. Die dann guten Morgen Horst gesagt haben <strong>und</strong> gelächelt<br />

haben. Und das hat einfach um sich gegriffen. Und .. ich habe auch eine<br />

Massenflucht organisiert. Wirklich mit dreißig Jugendlichen, ungefähr dreißig. Ich<br />

habe gar nicht gezählt. Wir sind aus dem Werkhof unerlaubt raus gegangen <strong>und</strong><br />

haben uns versteckt irgendwo <strong>und</strong> haben dann genüsslich zugeguckt wie die<br />

Erzieher <strong>und</strong> die DDR-Volkspolizei durch, also wirklich mit Blaulicht durch die Stadt<br />

gerast sind, um uns zu suchen <strong>und</strong> wie<strong>der</strong> einzufangen. Und wir haben uns wirklich<br />

köstlich amüsiert. Dann sind wir wie<strong>der</strong> zurück in den Werkhof <strong>und</strong> haben uns da<br />

totgelacht. Über die Erzieher. Und da waren noch viele, viele an<strong>der</strong>e Sachen. Ich<br />

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habe sonntags zum Beispiel, das war <strong>der</strong> einzige Tag in <strong>der</strong> Woche, da gab es zum<br />

Frühstück Bohnenkaffee. Na ja, <strong>und</strong> ich habe mir immer zwei Tassen genommen <strong>und</strong><br />

eine Kanne <strong>und</strong> habe verbotener Weise den Speisesaal verlassen, die Tür offen<br />

gelassen mitten im Winter. Und drei Meter davor war unsere Raucherinsel, <strong>der</strong><br />

einzige Ort im Werkhof wo geraucht werden durfte. Vor dem Speisesaal. Da standen<br />

eine Straßenlaterne, eine Parkbank <strong>und</strong> ein Aschenbecher. Da habe ich mich<br />

hingesetzt, die beiden Tassen hingestellt <strong>und</strong> hab eingegossen <strong>und</strong> habe mit <strong>der</strong><br />

Straßenlaterne zusammen Kaffee getrunken. Können sie mal ausprobieren am<br />

Wochenende, im Regelfall trinken Straßenlaternen nicht mit. Und das war dort halt<br />

auch so, die hat nie mitgetrunken. Und dann hab ich immer lauthals mit dieser<br />

Straßenlaterne geschimpft. Dass das nicht in Ordnung sei, <strong>der</strong> Kaffee ist gar nicht so<br />

schlecht. Nun trink doch endlich mal mit! Das haben halt meine, meine Kameraden<br />

im Speisesaal, waren wie gesagt hun<strong>der</strong>tzwanzig bis hun<strong>der</strong>tvierzig Jugendliche, ein<br />

paar waren ja immer auf Flucht. Die haben das mitgekriegt <strong>und</strong> die haben lauthals<br />

gelacht. Und das war auch Sinn <strong>der</strong> Übung. Dass richtig Unruhe reinkommt. Und da<br />

waren meistens zwischen zwölf <strong>und</strong> fünfzehn Erzieher dabei, unsere<br />

Gruppenerzieher halt. Die mit uns gefrühstückt haben <strong>und</strong> die fanden das nicht so<br />

lustig. (00:43:47-3)<br />

Die waren total wütend. Die hatten das nicht unter Kontrolle. Und <strong>der</strong> einzige <strong>der</strong> an<br />

diesen Sonntagen noch Spaß hatte in dieser Einrichtung, das war Stefan. Weil die<br />

Erzieher hatten wirklich bis zur Nachtruhe größte Mühe <strong>und</strong> Not wie<strong>der</strong> Ruhe,<br />

Ordnung, Disziplin herzustellen. Wie sie es nannten. Und ähnliche Aktionen habe ich<br />

immer wie<strong>der</strong> gestartet. Also nicht nur das Kaffee trinken, bin auch mit <strong>der</strong><br />

Zahnbürste an einer drei Meter langen Strippe durch den Werkhof <strong>und</strong> sogar, wenn<br />

wir Gruppenausgang in die Stadt hatten mit den Erziehern, habe ich die Zahnbürste<br />

hinter mir her gezogen <strong>und</strong> habe verdutzten Einwohnern <strong>der</strong> Stadt erklärt, dass sie<br />

jetzt ganz artig sein müssen, weil das ist mein H<strong>und</strong> Waldi. Na <strong>und</strong> das war die<br />

reinste Provokation für die Erzieher. Und das führte dazu, dass sie mich eines<br />

Nachts aus, aus dem Bett rausgerissen haben, mich in die Einzelarrestzelle gesteckt<br />

haben. Alle Jugendwerkhöfe <strong>der</strong> DDR haben über Isolierungszellen, also richtige<br />

Gefängniszellen, verfügt, die man zur Disziplinierung benutzte. Und ein paar St<strong>und</strong>en<br />

später war ich in dem einzigen geschlossenen Jugendwerkhof <strong>der</strong> DDR, in Torgau in<br />

Nord Sachsen. (00:44:54-4)<br />

4. Der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau: „Schlimmer als Knast“<br />

Und das war ein richtiger Knast. Und das nur weil ich fre<strong>und</strong>lich Erzieher geduzt<br />

habe, weil ich meine Zahnbürste allen Menschen zeigen musste, die ich hinter mir<br />

hergezogen habe, <strong>und</strong> weil ich Kaffee getrunken habe. Und weil ich mal abgehauen<br />

war, aus dieser, dieser offenen Jugendhilfeeinrichtung, wie sie das ja nannten. Und<br />

um solch schlimme Leute wie mich dann endgültig in den Griff zu kriegen, hatte man<br />

einen kleinen Kin<strong>der</strong>knast. Und das nannte die Boulevardpresse nach <strong>der</strong> Wende,<br />

nannte das mal Kin<strong>der</strong>-KZ von Margott Honecker. Margot Honecker seit 1963<br />

Volksbildungsministerin <strong>der</strong> DDR <strong>und</strong> sozusagen First Lady, war ja die Ehefrau vom<br />

Staatschef. Die war für die Jugendwerkhöfe <strong>und</strong> Kin<strong>der</strong>heime in <strong>der</strong> DDR mit<br />

verantwortlich. Das waren ihre Ressorts. Und die hatten einen eigenen Knast. Und<br />

die Jugendlichen, die in den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau gekommen sind,<br />

die haben nicht nur keine Straftaten begangen, son<strong>der</strong>n sie haben auch nie einen<br />

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Richter gesehen. Sie hatten kein Gerichtsurteil, von wegen jetzt hast du das <strong>und</strong> das<br />

angestellt <strong>und</strong> jetzt kommst du für ein halbes Jahr o<strong>der</strong> ein Jahr o<strong>der</strong> zwei Jahre in<br />

so ein Zuchthaus. Und <strong>der</strong> geschlossene Jugendwerkhof, es gibt ja Fotos davon<br />

heute, <strong>und</strong>, <strong>und</strong> auch Filmdokumentationen. Es war nichts an<strong>der</strong>es als eine richtige<br />

Haftanstalt. Und die wurde auch so geführt. Das ist ein Verbrechen gegen die<br />

Menschlichkeit. Also so ist es auch nach <strong>der</strong> Wende eingestuft worden, vom<br />

deutschen B<strong>und</strong>estag <strong>und</strong> von recht hohen Gerichten mittlerweile. (00:46:28-2)<br />

…<br />

SL: Das werde ich recht oft gefragt. Was für mich das schlimmste Erlebnis o<strong>der</strong> die<br />

schlimmste Rückerinnerung an den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau gewesen<br />

ist <strong>und</strong> das kann ich so gar nicht sagen. Weil die gesamte Unterbringung, überhaupt<br />

dieses unberechtigt in ein Zuchthaus gebracht zu werden, ohne richterlichen<br />

Beschluss o<strong>der</strong> das man auch keine Möglichkeit hatte sich gegen diese Maßnahme<br />

irgendwie zu wehren. Ich konnte mir keinen Rechtsanwalt nehmen, ich konnte keinen<br />

Kontakt nach außen aufnehmen. Nichts, also man hatte überhaupt gar keine<br />

Möglichkeit <strong>der</strong> Beschwerde gegen diese staatliche Maßnahme. Man war <strong>der</strong><br />

absoluten Willkür ausgesetzt. Ein Einzelerlebnis da heraus zu tun, <strong>und</strong> ich habe<br />

einige schlimme Sachen im Jugendwerkhof Torgau erlebt, auch persönlich erlebt.<br />

Das gibt da keinen Einzelmoment, kein Einzelereignis was ich als das schlimmste<br />

o<strong>der</strong> weniger schlimm... die gesamte Unterbringungszeit, alles was ich dort in <strong>der</strong><br />

Summe erlebt habe, ist so schlimm, so dramatisch <strong>und</strong> so schrecklich gewesen,<br />

dass ich das unter ein Gesamtergebnis nur noch abhaken kann. Das ist ... in Worten<br />

kaum zu beschreiben. (00:49:14-3)<br />

4.1. Ankunft: In <strong>der</strong> Regel benötigen wir drei Tage, um die Jugendlichen auf unsere<br />

For<strong>der</strong>ungen einzustimmen“<br />

SL: Ja. Also wie gesagt. Ich war ja in <strong>der</strong> Nacht im offenen Jugendwerkhof Freital<br />

nach .. wirklich aus dem Bett gerissen worden <strong>und</strong> dann in die Einzelzelle dort<br />

gebracht worden. Man hatte mir meine Privatsachen, meine .. Kleidung hinterher<br />

geworfen mit dem Befehl anziehen. Und .. da fehlten die Schnürsenkel schon in den<br />

Schuhen, die Uhr war nicht mehr dabei, <strong>der</strong> Gürtel war weg <strong>und</strong> .. Zigaretten o<strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>e Sachen sowieso, alles weg. Und dann ab diesem Zeitpunkt, hatte ich nur<br />

noch, aber wirklich knallharte Befehle zu befolgen. Und .. ich wurde in einem Dienst-<br />

Pkw des offenen Werkhofs, Pkw Wartburg nannte man diese Autos, dann nach<br />

Torgau gebracht. Und war halt zwei o<strong>der</strong> drei St<strong>und</strong>en später halt in Torgau. Und<br />

komme dort an, <strong>und</strong> sehe ein richtiges Zuchthaus mit Gefängnisschleuse, die öffnet<br />

sich, das Fahrzeug fährt mit mir da rein <strong>und</strong> hinter mir geht diese Gefängnisschleuse<br />

wie<strong>der</strong> zu. Die Mauern sind vier bis fünf Meter hoch. Die Fenster alle vergittert. Also<br />

richtig, <strong>der</strong> äußere Eindruck täuschte auch nicht, es war ein Zuchthaus. .. Und ich<br />

werde aus diesem Pkw rausgezerrt <strong>und</strong> in dieses <strong>Haus</strong> rein getreten, rein geführt<br />

kann man gar nicht mehr sagen, <strong>und</strong> auf einen ganz, ganz kleinen schmalen Flur<br />

abgestellt. .. Kein Fenster nichts, noch nicht mal Glasbausteine o<strong>der</strong> irgendwas wo<br />

man halt so sehen kann ob Tag o<strong>der</strong> Nacht ist. Da war halt bloß eine Neonlampe <strong>und</strong><br />

ansonsten vier Wände <strong>und</strong> vier Türen, die verschlossen waren. Und dann wurde ich<br />

da abgestellt. Ich sollte militärische Gr<strong>und</strong>haltung, also stramme Haltung annehmen.<br />

Und <strong>der</strong> Befehl lautete Fresse halten. Das war alles. Und da habe ich mehrere<br />

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St<strong>und</strong>en wirklich, mehrere St<strong>und</strong>en gestanden, ich kann das nicht mehr heute sagen<br />

ob das vier o<strong>der</strong> sechs o<strong>der</strong> acht St<strong>und</strong>en waren. .. Ich hatte den ganzen Tag noch<br />

nichts gegessen.. nichts zu trinken bekommen. Ich konnte keine Toilette aufsuchen.<br />

Ich konnte mich nicht irgendwo hinsetzen o<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> ja nicht mal entspannen.<br />

Ständig sind Erzieher o<strong>der</strong> Verwaltungsangestellte, die hat man ja an ihren<br />

Knastschlüsseln erkannt, wie sie sich durchgeschlossen haben, die sind an mir<br />

vorbei. Die haben bloß mal geguckt ob ich auch ordentlich stehe <strong>und</strong> alles in<br />

Ordnung ist sozusagen. Und .. da stehe ich da mehrere St<strong>und</strong>en. Und irgendwann ist<br />

ein Erzieher vorbei gekommen <strong>und</strong> ich habe mich wirklich getraut, o<strong>der</strong> mich gewagt,<br />

den zu fragen, ganz ruhig ganz ....sss...sachlich, fast verschüchtert, wie es denn jetzt<br />

weiter geht. Also ich hatte Hunger, ich wollte mal auf Toilette <strong>und</strong> ich hatte Durst.<br />

Und habe den nur gefragt, wie geht es denn jetzt weiter. (00:51:55-6)<br />

Und <strong>der</strong> hat mir nicht geantwortet, <strong>der</strong> war eigentlich schon fast an mir richtig vorbei.<br />

Der drehte sich bloß um, hatte sein ganz massiven Schlüsselb<strong>und</strong> in <strong>der</strong> Hand, <strong>und</strong><br />

den hat er mir einfach ins Gesicht gefeuert. Also mit <strong>der</strong> Faust ins Gesicht<br />

geschlagen. Also diesen großen .. Schlüsselb<strong>und</strong> in <strong>der</strong> Hand, den kann man sich<br />

heute in <strong>der</strong> Gedenkstätte im Jugendwerkhof Torgau ansehen. Der wiegt knapp<br />

eineinhalb Kilo. Und dann knallt <strong>der</strong> mir einen Satz an den Kopf, den werde ich auch<br />

nicht vergessen. Du hast hier nicht ungefragt Fragen zu fragen. Hier fragen wir. Und<br />

dann drehte er sich wie<strong>der</strong> um <strong>und</strong> verschwindet. Und dann stehe ich da noch mal<br />

eine St<strong>und</strong>e o<strong>der</strong> zwei, keine Ahnung. … Anschließend werde ich von dem gleichen<br />

Erzieher dort dann endlich abgeholt, von diesem kleinen Flur, schloss dann eine<br />

weitere Tür auf, dahinter befindet sich die Klei<strong>der</strong>kammer, da hatte man sich<br />

splitternackt auszuziehen vor wildfremden Menschen. In meinem Fall waren zwei<br />

männliche Erzieher dabei.., eine weibliche Zivilangestellte, die dort gearbeitet hat,<br />

<strong>und</strong> zwei junge Mädchen, die dort tagsüber arbeiten mussten, offensichtlich ebenfalls<br />

Insassen. Und dann musste ich mich im Alter von 17 ½ Jahren vor wildfremden<br />

Menschen splitternackt ausziehen. Es ist in sämtliche Körperöffnungen nicht nur<br />

reingeschaut son<strong>der</strong>n auch nachgetastet worden, ob man irgendwelche verbotenen<br />

Gegenstände in diese Einrichtung mit rein schmuggelt, die die Sicherheit hätten<br />

gefährden können. Ich weiß nicht, was die gesucht haben. Also ich kam aus einer<br />

an<strong>der</strong>en Heimeinrichtung, also ja. Und da waren ja auch schon alle verbotenen<br />

Gegenstände total verboten. Was hätte ich denn besitzen können. Weiß ich nicht.<br />

Maschinengewehre? Kettensägen? Keine Ahnung. … Das ganze Aufnahmeritual,<br />

was dort stattfand, knapp eine halbe St<strong>und</strong>e, diente ausschließlich zur persönlichen<br />

Demütigung <strong>und</strong> Entwürdigung als Mensch. .. So betrachte ich das heute<br />

rückblickend <strong>und</strong> da stehe ich nicht alleine mit meiner Einschätzung. Und wie ich das<br />

ja mittlerweile von, von vielen, vielen an<strong>der</strong>en politischen Häftlingen in <strong>der</strong> DDR nach<br />

<strong>der</strong> Wende von ihren Schil<strong>der</strong>ungen, was sie persönlich erlebt haben, erfahren habe.<br />

Das war ja in den U-Haftanstalten des MfS zum Beispiel ganz genauso. Dieses<br />

persönliche Entwürdigen. Diese persönlichen körperlichen Untersuchungen <strong>und</strong>, <strong>und</strong><br />

ja das Wegnehmen <strong>der</strong> persönlichen Kleidung. Man bekam Anstaltskleidung. .. Im<br />

Jugendwerkhof Torgau kamen noch zwei Sachen hinzu, die extrem demütigend<br />

waren. Das eine ist <strong>der</strong> Verlust <strong>der</strong> Haarpracht. Nicht so wie heute, wo ich aus<br />

natürlichen Gründen verdammt kurze Haare habe. Damals hatte ich noch ein paar<br />

Haare. Und es gibt da noch, Gott sei dank, ein paar Fotos von mir aus dieser Zeit,<br />

die das auch belegen können. Aber innerhalb von zwei Minuten hatte ich dann so<br />

einen Haarschnitt wie jetzt. Und auch die jungen Mädchen, ob die 14 o<strong>der</strong> 16 waren<br />

o<strong>der</strong> 18, die dort angekommen sind, am ersten Tag waren die Haare weg. Und das<br />

ist, das ist ein tiefer Einschnitt für einen jungen Menschen. Weil, .. das ist eine<br />

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Beson<strong>der</strong>heit vom Jugendwerkhof Torgau. Vom ersten Tag <strong>der</strong> Einweisung bis zum<br />

Tag <strong>der</strong> Entlassung wusste man nicht, wann man entlassen wird. Das ist etwas ganz,<br />

ganz Perfides, also nicht nur für einen jungen Menschen. Wenn man jemanden<br />

einsperrt <strong>und</strong> <strong>der</strong> weiß nicht, wie lange er jetzt in dieser dramatischen<br />

Lebenssituation verbleiben muss. Also, also je<strong>der</strong>, je<strong>der</strong> Vergewaltiger, je<strong>der</strong> Mör<strong>der</strong>,<br />

je<strong>der</strong> Räuber nach Rechtskraft seines Strafurteils kennt den Tag <strong>der</strong> Entlassung o<strong>der</strong><br />

kennt das Strafmaß lebenslänglich. Dann hat er halt den Tod sozusagen als sein<br />

Ziel. Und im Jugendwerkhof Torgau wusstest du nicht, bin ich hier zwei Tage, zwei<br />

Wochen, zwei Jahre? Keine Ahnung. (00:55:29-6)<br />

Und dir werden am ersten Tag die Haare abgeschnitten. Das ist an Dra.. Dramatik<br />

eigentlich kaum noch zu überbieten. Man bekommt die Anstaltskleidung. Das war im<br />

Regelfall die Arbeitsbekleidung, die man ansonsten dort in dieser Einrichtung zu<br />

tragen hat. Also für uns Jungs war es ein Arbeitsoverall, baumwollene Unterwäsche,<br />

natürlich ohne Gummilitze übrigens, damit man keine Möglichkeit hatte sich<br />

aufzuhängen, ein paar Wollstrümpfe <strong>und</strong> Arbeitsschuhe. Das war alles. Und dann ist<br />

man noch in den Duschraum geführt worden. Und das war auch eine recht schlimme<br />

Erfahrung für die meisten von uns. Also für mich zumindest auch. Dieser Duschraum<br />

war ungefähr dreißig, vierzig Quadratmeter groß. Natürlich vollständig gefliest. .. Und<br />

aus <strong>der</strong> Decke schauten, ich glaube sechs o<strong>der</strong> acht Duschköpfe raus. Und das<br />

Wasser wurde von außen über so ein großes Ventil vom Erzieher reguliert. (…) Und<br />

dann hatte ich mich zu desinfizieren. Das dauerte eine halbe St<strong>und</strong>e. Ja er hat eben,<br />

wie gesagt, kurz Wasser angemacht, dann meine Rückerinnerung, das war wirklich<br />

kaltes Wasser, maximal lauwarm <strong>und</strong> ich bin ja da im Winter am 8. Februar<br />

hingekommen. Das war arschkalt in diesem Duschraum. Ich steh da ganz alleine,<br />

schmiert <strong>der</strong> mir da so eine Paste in die Hand. Ist so ein Körperentlausungsmittel<br />

gewesen. Deditex, das weiß ich noch wie heute. Da hatte ich meinen gesamten<br />

Körper mit einzureiben. Das Wasser war dann in dem Moment abgeschaltet <strong>und</strong><br />

dann hatte ich mit wirklich ausgestreckten Armen dort eine halbe St<strong>und</strong>e zu stehen.<br />

Um diese Einwirkzeit ja … ablaufen zu lassen <strong>und</strong> dann nach einer halben St<strong>und</strong>e<br />

hat er wie<strong>der</strong> das Wasser angedreht. Ich hatte mich abzuduschen. Das hat wirklich<br />

höllisch gebrannt auf <strong>der</strong> Haut. Überall. Gerade im Schambereich. Und dann durfte<br />

ich mich abtrocknen, wie<strong>der</strong> diese Arbeitsklamotten anziehen (…) Ich hatte keinen<br />

Wi<strong>der</strong>stand geleistet, alles gemacht, was sie von mir wollten, alles über mich<br />

ergehen lassen, <strong>und</strong> ich werde in eine Gefängniszelle gesteckt. Einzelisolierung. Drei<br />

Tage. (00:58:43-3)<br />

Heute weiß ich, dass das jedem Einzelnen von den über viertausend, die jemals dort<br />

gewesen sind … dass es allen so ergangen ist, dass es eine ganz normale<br />

Maßnahme, in Anführungszeichen, eine ganze normale Maßnahme für die Erzieher<br />

<strong>und</strong> vor allem für diesen langjährigen Direktor Horst Kretzschmar gewesen ist. Man,<br />

man sollte wirklich mit dieser gesamten Einweisungsprozedur, inklusive <strong>der</strong> ersten<br />

drei, vier o<strong>der</strong> fünf Tage Einzelarrest <strong>der</strong>maßen eingeschüchtert <strong>und</strong>, <strong>und</strong> ja<br />

gebrochen werden. Regelrecht gebrochen werden. Ja das war Ziel, dass man keinen<br />

Wi<strong>der</strong>stand mehr leistet für die gesamte Unterbringungszeit in dieser Einrichtung.<br />

Und bei den meisten haben sie das erreicht. .. Der Wille <strong>und</strong>, <strong>und</strong> die Psyche des<br />

einzelnen Insassen, <strong>der</strong> dort angekommen ist, sollte vom ersten Tag an total zerstört<br />

werden. #00:59:34-8#<br />

Ich brauch eine Pause (SL schüttelt den Kopf, trinkt). (00:59:38-9) (Pause)<br />

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SL: Also wenn man überhaupt sagen kann, was wirklich das schlimmste an, das war<br />

dieser erste Tag. … Das ist... <strong>und</strong> ich hatte Hafterfahrung. Und ich habe gedacht,<br />

schlimmer kann es nicht mehr kommen, als, als die U-Haft Rummelsburg zum<br />

Beispiel (…) Ich hatte ja auch schon richtig schlimme, schlimme Sachen erlebt. Ich<br />

habe gedacht, das ist eigentlich nicht zu toppen. .. Aber <strong>der</strong> Jugendwerkhof Torgau,<br />

<strong>der</strong> hat alles getoppt. (01:00:18-7)<br />

Pause (SL trinkt) (01:00:23-3)<br />

…<br />

SL: Na diese Eingangserfahrung, wo <strong>der</strong> Erzieher mich da mit dem Schlüsselb<strong>und</strong><br />

schlägt [ist eine körperliche Misshandlung]. Das Wegsperren, ich habe ja dort über<br />

fünf Wochen in Einzelhaft verbracht, ist für mich eine körperliche Misshandlung. ..<br />

Und die permanente Androhung, die hatten da ja Schlagstöcke, Gummiknüppel, ..<br />

Handschellen <strong>und</strong> Knebelketten, so eine Zuführungskette, wie man das nannte. Das<br />

alles sind körperliche Misshandlungen. .. Dann <strong>der</strong> alltägliche Drillsport, den man dort<br />

machen musste. Also nicht nur bis zur körperlichen Erschöpfung, son<strong>der</strong>n darüber<br />

hinaus. Ist für mich absolute körperliche Misshandlung, rückblickend. Essenszwang<br />

o<strong>der</strong> Essensentzug sind für mich körperliche Misshandlungen. Selbst das<br />

Abschneiden <strong>der</strong> Haare gegen den persönlichen Willen ist für mich eine absolute<br />

körperliche Misshandlung. Eigentlich die gesamte Unterbringungszeit ist nicht nur<br />

psychische son<strong>der</strong>n auch körperliche Misshandlung gewesen. (1:04:20-1)<br />

…<br />

4.2. Einzelarrest: „Man hatte in Richtung Türspion zu schauen“<br />

SL: Das war absolut Willkür. Also das hat <strong>der</strong> Erzieher entscheiden können. In <strong>der</strong><br />

Situation, wo <strong>der</strong> Erzieher es für nötig gehalten hat jemanden zu isolieren, dann hat<br />

er das getan. Er hat am selben Tag dann einen Antrag beim Direktor geschrieben,<br />

wo er eine Arrestdauer vorgeschlagen hat. Und <strong>der</strong> Dirik...Direktor war <strong>der</strong> Einzige,<br />

<strong>der</strong> über die tatsächliche Arrestdauer entschieden hat. Es ist bis heute nicht ein<br />

einziger Fall von Arrestierung von Insassen des GJWH Torgau bekannt, wo <strong>der</strong><br />

Direktor eine Arrestierung aufgehoben hätte o<strong>der</strong> untersagt hätte. (räuspert sich) Die<br />

Misshandlung von Jugendlichen untereinan<strong>der</strong>, wenn die dann vorgekommen sind,<br />

war ein Gr<strong>und</strong> für Einzelarrestierung. Das Nichtbefolgen von Anweisungen <strong>der</strong><br />

Erzieher war ein Gr<strong>und</strong> für Arrestierung. Der Versuch ja verbotenerweise aus dieser<br />

Einrichtung zu fliehen natürlich war, war ein Gr<strong>und</strong> dafür. Die Verweigerung zu<br />

arbeiten war ein Gr<strong>und</strong> für Einzelarrestierung. Ja aber auch, weiß ich nicht, wenn<br />

man zum Beispiel bei <strong>der</strong> allabendlichen Zeitungsschau, wie sie es nannten. Da<br />

hatten wir das „Neue Deutschland“ <strong>und</strong> die „Junge Welt“ dort auf dem Tisch zu<br />

liegen. In jedem Gruppenraum lagen halt mehrere Zeitschriften <strong>und</strong> die hatten wir<br />

halt durchzulesen, Zeitungen. Und dann wurden wir abgefragt vom Erzieher, ob wir<br />

das denn auch verstanden hätten <strong>und</strong> wie wir das beurteilen <strong>und</strong> bewerten, was da<br />

steht. Und das war, wenn man die Tagespresse <strong>der</strong> DDR kennt, natürlich die<br />

üblichen kommunistischen Phrasen, die Parolen, die verbreitet wurden, <strong>und</strong> die<br />

Erfolgsmeldungen aus <strong>der</strong> DDR-Wirtschaft <strong>und</strong> wie überlegen <strong>der</strong> Sozialismus <strong>und</strong><br />

trallala... ist. Und natürlich gab es da auch negative Wortmeldungen von den<br />

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Insassen, die ja einfach mal eine ganz an<strong>der</strong>e politische Auffassung hatten. So wie<br />

ich zum Beispiel. Und wer sich dort politisch negativ geäußert hat, in dieser<br />

Zeitungsshow, dem drohten drei o<strong>der</strong> fünf o<strong>der</strong> zehn Tage Einzelarrest. Also selbst<br />

solche Banalitäten .. führten zum Einzelarrest. Für die Kontaktaufnahme zum<br />

an<strong>der</strong>en Geschlecht, das war strengstens verboten, größtenteils auch eigentlich<br />

räumlich gar nicht möglich. Aber wer dort versucht hat, Kontakt zum an<strong>der</strong>en<br />

Geschlecht aufzunehmen <strong>und</strong> dazu gehörte schon Blickkontakt. Also wenn ich Ihnen<br />

jetzt in die Augen schaue <strong>und</strong> Sie sind eine Frau <strong>und</strong> ich bin ein Mann <strong>und</strong> da steht<br />

ein Erzieher von Torgau, dann wären wir jetzt beide für drei o<strong>der</strong> fünf Tage auf<br />

Einzelarrest, nur weil wir uns angucken. (1:07:05-0)<br />

…<br />

Dann muss man sich vor Augen halten, wie die Einzelarrestzellen aussahen. Die<br />

waren also noch nicht mal acht o<strong>der</strong> neun Quadratmeter groß. Da stand ein<br />

Zehnlitereimer für die Notdurft drin. Man hatte also kein Trinkwasser in dieser<br />

Einzelzelle. Man hatte kein Wasserklosett, son<strong>der</strong>n wirklich nur so einen Eimer mit<br />

ein bisschen Chlorkalk drin, wo man halt drauf gehen sollte, seine Notdurft<br />

verrichten. Und es stand in <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Zelle, dort hat ja zumindest auf Anweisung<br />

<strong>der</strong> Erzieher zu stehen, ein Holzhocker. Und da, wenn <strong>der</strong> Erzieher das erlaubt hatte<br />

vorher, durfte man den eben tagsüber benutzen, also sich rauf setzen. Immer mit<br />

Blick Richtung Tür. Da war so ein Türspion, wie in so einer Gefängniszelle, wo dann<br />

in unregelmäßigen Abständen <strong>der</strong> Erzieher durchgeschaut hat, ob auch alles in<br />

Ordnung ist. Also auf Anweisung alles befolgt wurde. Und es stand eine Holzpritsche<br />

in dieser Zelle. Tagsüber hochkant, durfte nur in <strong>der</strong> Nachtruhe zwischen<br />

ein<strong>und</strong>zwanzig <strong>und</strong> weiß ich nicht früh halb sechs benutzt werden. .. Und die stand<br />

da halt hochkant drin. Und mehr war da nicht drin. Man hatte dort keine Zeitung,<br />

keine persönlichen Gegenstände, keine Stifte o<strong>der</strong> irgendwas. Man hatte nur diese,<br />

diese Arbeitsbekleidung an. Keine persönlichen Gegenstände <strong>und</strong> dann wie von mir<br />

beschrieben diese Inneneinrichtung, man hatte in <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Zelle zu stehen o<strong>der</strong><br />

auf dem Hocker zu sitzen <strong>und</strong> in Richtung Türspion zu schauen. Und immer wenn die<br />

Tür aufging, hatte man Gr<strong>und</strong>haltung anzunehmen, also aufzuspringen, stramm,<br />

militärische Gr<strong>und</strong>haltung. Man hatte Meldung zu machen. Also wirklich so,<br />

Jugendlicher <strong>Lauter</strong> arrestiert wegen Wi<strong>der</strong>stand o<strong>der</strong> Nichtbefolgen einer<br />

Anweisung eines Erziehers zehn Tage Einzelarrest, vier Tage verbüßt. Das war die<br />

Meldung, die man zu machen hatte. So in etwa. Und wenn das alles nicht exakt <strong>und</strong><br />

ordentlich passierte, dann konnte es passieren, dass entwe<strong>der</strong> <strong>der</strong> Erzieher mit<br />

einem zweiten Erzieher die Einzelzelle sogar betreten hat mit Gummiknüppel in <strong>der</strong><br />

Hand. Und dann hatte man eben den, wie ich das nachträglich nenne, den<br />

sozialistischen Wegweiser gespürt. Also man wurde verprügelt, das war eine<br />

Möglichkeit. Die häufigste Sanktion, die auf solche Verstöße, wie sie es nannten,<br />

erfolgte war aber Strafsport. Also wirklich, da wurde man rausgeholt aus <strong>der</strong><br />

Einzelzellen <strong>und</strong> auf den Flur geführt. Und da hatte man dann hun<strong>der</strong>t Liegestütze,<br />

Kniebeuge o<strong>der</strong> den sogenannten „Torgauer Dreier“ zu machen. Der „Torgauer<br />

Dreier“ ist eine, ja, Sportübung in flüssiger Form. Wo man aus dem Stand in den<br />

Liegestütz fällt, Liegestütz ausführt, zurück springt in die Hocke, eine Kniebeuge<br />

macht <strong>und</strong> dann einen Hockstrecksprung. Und dann macht man wirklich in<br />

Zehnerfolgen zweihun<strong>der</strong>t, dreihun<strong>der</strong>t o<strong>der</strong> fünfhun<strong>der</strong>t davon. Bis man also<br />

körperlich total zusammen gebrochen ist. Und dann wurde man zurück gebracht in<br />

die Einzelzelle. Und dann war man wie<strong>der</strong> auf dem sozialistischen Weg. (1:10:08-2)<br />

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Das war so <strong>der</strong> Tagesablauf im Einzelarrest. (1:10:13-9)<br />

...<br />

Ich habe nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung knapp vier-/ fünfhun<strong>der</strong>t ehemalige Insassen<br />

mittlerweile kennengelernt, auf Ehemaligentreffen. Und die Erzählungen gleichen<br />

sich. Man hatte das Gefühl <strong>der</strong> Hoffnungslosigkeit, <strong>der</strong> .. <strong>der</strong> Leere <strong>und</strong> auch Angst.<br />

Man wusste gar nicht, wie man die Zeit totschlagen sollte dort. Also man bekam<br />

reduziertes Essen, ja ein Frühstück da, bekam ein viertel Liter zu trinken <strong>und</strong>, <strong>und</strong><br />

zwei dünn beschmierte Mischbrotscheiben. Mittagessen war das gleiche wie, wie auf<br />

Gruppe. Auch noch mal einen viertel Liter zu trinken, meist Tee o<strong>der</strong> Muckefuck, also<br />

ein Ersatzkaffee. Und abends gab es dann auch wie<strong>der</strong> bloß zwei dünn beschmierte<br />

Stullen <strong>und</strong>, <strong>und</strong> wie<strong>der</strong> so einen viertel Liter Tee zu trinken. Das war es. Und wenn<br />

man da, am Vormittag meistens, wenn die Gruppen auf dem Arbeitsbereich waren,<br />

dann hatten die Erzieher sozusagen Langeweile <strong>und</strong> dann haben sie sich die<br />

Arresttanten geschnappt. Entwe<strong>der</strong> einzeln o<strong>der</strong> auch mal zwei zusammen. Und<br />

dann haben wir dort entwe<strong>der</strong> st<strong>und</strong>enlang auf allen Vieren diesen Fliesenflur<br />

geschrubbt mit Handwaschbürsten <strong>und</strong>, <strong>und</strong> Scheuerpulver. O<strong>der</strong> es wurde<br />

Strafsport gemacht bis zum Umfallen. Damit haben die Erzieher ihren, ihren<br />

Vormittag überbrückt sozusagen. Wenn sie nicht irgendwelche Berichte geschrieben<br />

haben. .. Und das war <strong>der</strong>...<strong>der</strong> sogenannte Tagesablauf für einen Arresttanten.<br />

(1:11:49-9)<br />

4.3. Der „normale“ Tagesablauf: „Keine Minute (…) individueller persönlicher<br />

Freiheit“<br />

SL: Der Direktor Horst Kretzschmar, <strong>der</strong> die Einrichtung drei<strong>und</strong>zwanzig Jahre, also<br />

wirklich bis zum Frühjahr '89 geleitet hat, <strong>der</strong> hat das mal in seiner Diplomarbeit so<br />

beschrieben. Der Tagesablauf im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau ist<br />

durchstrukturiert. Rückblickend heißt das, es gibt nicht eine einzige Minute, nicht eine<br />

Sek<strong>und</strong>e individueller persönlicher Freizeit. Und das fängt wirklich mit dem Wecken<br />

früh um halb sechs an, Meldung im Schlafraum: keine beson<strong>der</strong>en Vorkommnisse.<br />

O<strong>der</strong> es gab beson<strong>der</strong>e Vorkommnisse, dann musste das gemeldet werden. Wenn<br />

sich zum Beispiel Jugendliche nachts da geprügelt haben im Schlafraum o<strong>der</strong><br />

irgendwas. Dann wurden die Betten gebaut wie bei <strong>der</strong> Armee o<strong>der</strong> im Knast. In den<br />

Schlafräumen gab es auch kein Trinkwasser. Auch kein Wasserklosett. Da waren<br />

zwölf bis sechzehn Jugendliche jeweils untergebracht, da gab es auch nur diesen<br />

Zehnliter..., wie ich immer sage, Scheißeimer. Der musste früh morgens auf dem Hof<br />

in so einer Klärgrube, in so einen Kanalschacht ausgeschüttet werden. Und dann<br />

danach wurde er ausgewaschen. Jeden Tag musste <strong>der</strong> Schlafraum mindestens<br />

gefegt werden. Wenn nicht sogar gebohnert. Dann wurde <strong>der</strong> verschlossen. Und<br />

dann haben, dann hatten wir eine halbe, dreiviertel St<strong>und</strong>e, im kurzen Sportzeug<br />

übrigens, bei Wind <strong>und</strong> Wetter. Wie gesagt, ich kam im Winter '85 dort in diese<br />

Einrichtung. Im kurzen Sportzeug auf dem Freihof Frühsport machen. Und Frühsport<br />

war nichts an<strong>der</strong>es als jeden Morgen drei Kilometer Ausdauerlauf, teilweise mit<br />

Hanteln in den Händen beschwert. Im Kreis laufen, R<strong>und</strong>e um R<strong>und</strong>e. Und dann in<br />

<strong>der</strong> Gruppe wie<strong>der</strong> antreten, wie eine Sportriege. Also wirklich so nebeneinan<strong>der</strong>,<br />

ne? Der Kleinste rechts, <strong>der</strong> Größte links. Und dann auf Anweisung des Erziehers<br />

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mehrere Hun<strong>der</strong>te von Liegestütze o<strong>der</strong> Kniebeuge, Torgauer Dreier,<br />

Hockstrecksprünge. Also wirklich bis man nicht mehr konnte. Das nannten die<br />

Frühsport. Und dann ging es in den Waschraum. Jeden frühen Morgen mit kaltem<br />

Wasser, wirklich mit kaltem Wasser. An einem ganz großen Waschbecken, wie man<br />

das vielleicht von DDR-Zeltplätzen kennt, konnte man sich Zähne putzen <strong>und</strong> sich<br />

ein bisschen waschen. Dann hatte man seine Arbeitskleidung im Gruppenraum<br />

anzuziehen <strong>und</strong> das Sportzeug alles, wie beim Militär, wurde alles ordentlich<br />

zusammen gepackt. Päckchen bauen nennt man das, ne? Und die Schuhe wurden<br />

vielleicht noch kurz gesäubert <strong>und</strong> gereinigt. Alles ordentlich aufgestellt. Und dann<br />

wurde man übergeben an den Arbeitserzieher, <strong>der</strong> den Arbeitsablauf dann im<br />

Arbeitsbereich für jede einzelne Gruppe, getrennt übrigens, ja zu überwachen,<br />

anzuleiten hatte. Dann hat man acht St<strong>und</strong>en am Tag dort gearbeitet. Vier Tage die<br />

Woche. Ein Tag in <strong>der</strong> Woche war sogenannter Schultag. Das werde ich noch mal<br />

kurz extra erklären. Der Schultag für jede Gruppe, auch wie<strong>der</strong> einzeln getrennt, fand<br />

in <strong>der</strong> dritten Etage des Gebäudes, also in <strong>der</strong> Haftanstalt statt. Wo man aus<br />

mehreren Einzelzellen einen größeren Raum durch Entfernen <strong>der</strong> Trennwände<br />

irgendwann mal geschaffen hatte. Da standen ganz normale Schultische drin <strong>und</strong><br />

Stühle. Und dann bekam man Bleistift, noch nicht mal einen Füller o<strong>der</strong>, o<strong>der</strong><br />

Kugelschreiber, son<strong>der</strong>n Bleistifte <strong>und</strong> ein Lineal <strong>und</strong> dann Hefte. Das war alles. .. Ja<br />

<strong>und</strong> da hatte man vier Unterrichtsst<strong>und</strong>en. Mehr gab es gar nicht. Mathe, auf dem<br />

Niveau <strong>der</strong> siebten Klasse ungefähr. Deutschunterricht auf einem Niveau <strong>der</strong> siebten<br />

Klasse, also <strong>der</strong> allgemeinen DDR-Schule. Staatsbürgerk<strong>und</strong>eunterricht. Na wen<br />

wun<strong>der</strong>t es? Und dann gab es einfach, was ich halbwegs für sinnvoll gesehen habe,<br />

Lehrunterweisung, nannten die das. Und das hat damit zu tun, die älteren Jungs, in<br />

meinem Fall, also die Gruppe eins, wo ich mit untergebracht war, im Erdgeschoss.<br />

Wir haben in zwei Maschinenräumen gearbeitet tagsüber. An Stän<strong>der</strong>bohrmaschinen<br />

<strong>und</strong>, <strong>und</strong> haben dort Normteile gebohrt <strong>und</strong> Gewinde geschnitten. Also<br />

Metallverarbeitung. Ja wo kamen denn die Insassen her, die waren vielleicht aus<br />

irgendeinem Jugendwerkhof, wo die sogenannte Teilfacharbeiterausbildung im<br />

gärtnerischen Bereich war. Und die Mädchen, die aus dem Werkhof kamen, die dort<br />

zu Küchenhilfen ausgebildet wurden. Die hatten doch keine Ahnung von<br />

Elektrotechnik o<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> Metallverarbeitung o<strong>der</strong> überhaupt irgendeine technische<br />

Erfahrung. Und deshalb hatte man dieses vierte Fach. Und das war alles. Das<br />

nannten die Schulbildung. (1:16:15-4)<br />

Na das kannst du in die Tonne kloppen, so was. Der Arbeitstag, die an<strong>der</strong>en vier<br />

Tage waren wirklich von früh um achte bis 16 Uhr, nur unterbrochen durch eine<br />

Zehnminutenpause für ein zweites Frühstück, was wir im Stehen eingenommen<br />

haben. Also da bekam man kurz was zu trinken <strong>und</strong> vielleicht einen halben Apfel<br />

o<strong>der</strong> eine halbe Stulle o<strong>der</strong> irgendwas. Das nannten die zweites Frühstück. Dann<br />

gab es mittags im Speiseraum, davon gab es übrigens nur einen, ein einziger<br />

Speiseraum für drei Gruppen. Das heißt die drei Gruppen haben zeitversetzt<br />

gegessen. Jede Gruppe hatte nur 15 Minuten pro Mahlzeit. … Also wie gesagt,<br />

Mittagessen <strong>und</strong> dann 16 Uhr wie<strong>der</strong> Übergabe im Gruppenbereich an die<br />

pädagogischen Erzieher. Und dann wurden die Arbeitsleistungen ausgewertet. Und<br />

das hatte dann auch wie<strong>der</strong> Konsequenzen o<strong>der</strong> auch einen Sinn sozusagen. Also<br />

aus Sicht <strong>der</strong> Erzieher einen Sinn. Wer schlecht für seine Arbeitsleistung<br />

eingeschätzt wurde, benotet o<strong>der</strong> bewertet wurde, <strong>der</strong> bekam zum Abendbrot<br />

entwe<strong>der</strong> die Hälfte o<strong>der</strong> gar nichts zu Essen. Und wenn man Arbeitsverweigerung<br />

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o<strong>der</strong> Sabotage dem Jugendlichen unterstellt wurde, dann drohte sogar Einzelarrest.<br />

Habe ich ja schon mal erwähnt. … Ja. (1:17:31-6)<br />

Nach <strong>der</strong> Arbeitsübergabe im Gruppenbereich an den Erzieher, hatte man dann nicht<br />

irgendwie Freizeit, ne? So wie man sich das heute vorstellt, wenn ich, weiß ich nicht,<br />

Lehrling o<strong>der</strong> Azubi meinetwegen im Einzelhandel bin. Dann habe ich da meine<br />

Berufsschule <strong>und</strong> dann fahre ich nach <strong>Haus</strong>e <strong>und</strong> hab dann meine Freizeit. Ist im, im<br />

geschlossenen Jugendwerkhof Torgau nicht so. Son<strong>der</strong>n (lacht) wir hatten nach <strong>der</strong><br />

Arbeitszeit meist die Möglichkeit zum, zum Duschen. Dann wurden wir zum<br />

Duschraum geführt, <strong>der</strong> tagsüber immer verschlossen war. Nur wenn <strong>der</strong> Erzieher<br />

uns dort hin geschlossen hat, durften wir halt eben in <strong>der</strong> Gruppe duschen. Dann<br />

wurden wir zurückgeführt in den Gruppenraum. Und dann hieß es wie<strong>der</strong> Sportzeug<br />

anziehen <strong>und</strong> dann haben wir den ganzen Nachmittag dieselbe Soße gemacht wie<br />

zum Frühsport. Sind wir wie<strong>der</strong> auf den Hof geführt worden. Und wie<strong>der</strong><br />

Ausdauerlauf bis zum Umfallen. Wie<strong>der</strong> Kniebeuge, Torgauer Dreier,<br />

Hockstrecksprünge o<strong>der</strong> was auch immer. Und wir hatten eine militärische<br />

Sturmbahn auf dem, auf dem Gelände. Da gibt es heute auch, Gott sei Dank, Fotos<br />

von. Und über diese Sturmbahn sind wir in Arbeitsklamotten drüber gejagt worden.<br />

Also mit den schweren Arbeitsschuhen <strong>und</strong> diesen Arbeitsoverall. Immer zu zweit,<br />

man sieht es auf den Fotos recht gut. Da sind zwei Wippen <strong>und</strong> zwei Kriechgänge<br />

nebeneinan<strong>der</strong> <strong>und</strong> die Eskaladierwand. Immer zweie nebeneinan<strong>der</strong>. R<strong>und</strong>e um<br />

R<strong>und</strong>e. Zwanzig, dreißig, vierzig Mal drüber. Bis <strong>der</strong> Erste endlich zusammen<br />

gebrochen ist <strong>und</strong> <strong>der</strong> Erzieher dann zu weiteren Sanktionen, ja, vorgegangen ist.<br />

(1:18:59-8)<br />

…<br />

SL: Das ist. … Also rückblickend für die Jugendhilfeeinrichtungen, die ich<br />

durchlaufen bin ein Novum gewesen. Für das Fehlverhalten o<strong>der</strong> Nichterbringen<br />

einer Leistung eines Einzelnen ist immer die gesamte Gruppe bestraft worden. Das<br />

nannten die Kollektiverziehung. … Also wenn Stefan nach hun<strong>der</strong>tfünfzig<br />

Liegestützen zusammen gebrochen ist, dann hat <strong>der</strong> Erzieher angewiesen, dass die<br />

gesamte Gruppe weitere fünfzig Liegestütze macht. Nur weil ich das nicht geschafft<br />

habe. Und das hatte Konsequenzen, diese sogenannte Selbsterziehung o<strong>der</strong><br />

Kollektiverziehung. Das führte nämlich dann, in <strong>der</strong> Nachtruhe, wo <strong>der</strong> Erzieher nicht<br />

dabei war. Der hat da wirklich nur alle halbe St<strong>und</strong>e durch den Spion geguckt. In den<br />

Schlafräumen waren die Jugendlichen ja unter sich. Und das führte dann zur<br />

wirklichen Selbsterziehung. Da hast du nämlich ein paar auf die Fresse gekriegt von<br />

den an<strong>der</strong>en. .. Du, weil du versagt hast, dich wi<strong>der</strong>setzt hast o<strong>der</strong><br />

zusammengebrochen bist, hast dafür gesorgt, dass alle noch mehr gequält wurden.<br />

Also kriegst du jetzt ein paar auf die Fresse. Und morgen schaffst du deine<br />

zweihun<strong>der</strong>t Liegestütze. Und wehe nicht. Dann kriegst du wie<strong>der</strong> ein paar auf die<br />

Fresse. (1:20:10-7)<br />

Und das funktionierte. Also ich habe in meiner Zeit in Torgau einige Jugendliche<br />

erlebt, die das aus körperlichen Gründen wirklich nicht geschafft haben. Also an<br />

einen kann ich mich erinnern, <strong>der</strong> ist noch nicht mal einsfünf<strong>und</strong>sechzig gewesen,<br />

wog aber ungefähr hun<strong>der</strong>tzwanzig Kilo. Also leicht adipös. Dass <strong>der</strong> nicht über die<br />

Eskaladierwand gekommen ist beim, beim Bewältigen <strong>der</strong> Sturmbahn, das ist ja wohl<br />

nachvollziehbar. Der bekam nachts ein paar auf die Fresse <strong>und</strong> am nächsten Tag<br />

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kam er drüber. .. So funktioniert die menschliche Psyche schlicht <strong>und</strong> ergreifend. Und<br />

ja diesen Umstand o<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> diese Tatsache hat sich diese Einrichtung <strong>und</strong> das<br />

haben sich die Erzieher <strong>und</strong> vor allem <strong>der</strong> Direktor zu Nutze gemacht. (1:20:54-4)<br />

SL: Wenn es nachts zu massiven Übergriffen gekommen ist in diesen<br />

Schlafräumen… natürlich haben die Erzieher das mitbekommen. Aber das gab, wie<br />

ich es heute weiß, damals wusste ich es nicht, habe ich mich nur gewun<strong>der</strong>t, warum<br />

<strong>der</strong> Erzieher nicht die Tür aufschließt. Es gab eine Dienstanweisung des Direktors,<br />

dass nachts wegen <strong>der</strong> Unterbesetzung vom Personal es nur im aller, aller äußersten<br />

lebensbedrohlichen Notfall den Erziehern gestattet ist, die Schlafräume zu öffnen,<br />

aufzuschließen. Ansonsten erst nach Beendigung <strong>der</strong> Nachtruhe ist eben auf solche<br />

Ereignisse erzieherisch einzuwirken, sprich mit Einzelisolierung, Arrestierung. Zack.<br />

Die haben nachts die Schlafräume da nicht geöffnet. Und auch wenn sie das<br />

mitgekriegt haben, meist haben sie es ja gar nicht mitgekriegt. Das ist so wie in<br />

normalen Haftanstalten, in Anführungszeichen, normalen Haftanstalten, dass<br />

Häftlinge ja auch nicht blöd sind. Wenn da jemand über den Flur läuft, das hörst du.<br />

Wenn <strong>der</strong> Metalldeckel vom Türspion sich bewegt, das hörst du. Dass du gerade<br />

beobachtet wirst. Da wirst du ja auch keinen an<strong>der</strong>en drangsalieren, ne? Und wenn<br />

dann die Schritte sich wie<strong>der</strong> entfernen, dann haust du wie<strong>der</strong> zu. Und genauso ist<br />

das eben meist gewesen, dass das eben nicht gleich entdeckt wurde. Entwe<strong>der</strong> gab<br />

es körperliche Spuren, sodass die Erzieher darauf gekommen sind, dass da eine<br />

Misshandlung stattgef<strong>und</strong>en hat unter den Jugendlichen, o<strong>der</strong> das Opfer hat sich den<br />

Erziehern sozusagen anvertraut. Mit an<strong>der</strong>en Worten er wurde zur Petze, zum<br />

Anscheißer. Das war denn <strong>der</strong> nächste Weg, um solche Sachen sozusagen<br />

aufzudecken. Und dann haben die Erzieher erst mit ihren Sanktionen eingegriffen.<br />

(1:22:26-7)<br />

Ja <strong>und</strong> nach diesem Nachmittagssport auf diesem Hof o<strong>der</strong> diese, diese sogenannte,<br />

nannten die ja auch vormilitärische Ausbildung, diese Sturmbahn da ständig, ständig<br />

zu überwinden. Dann war das halt irgendwann 16 nein, 16 Uhr sind wir ja raus.<br />

17:30, knapp 18 Uhr Vorbereiten zum Abendbrot. Und dann wurde man wie<strong>der</strong> in<br />

den Speiseraum geführt. Mit dem Speiseraum, das ist noch mal eine ja Demütigung<br />

hoch zehn gewesen. Nicht nur das man eine begrenzte Essenszeit hatte, son<strong>der</strong>n in<br />

diesem Speiseraum hatte absolute Stille zu herrschen. Wirklich absolute Stille. Und<br />

das war nicht ganz so einfach. Da standen vier Tische mit sechs Hockern, die Hocker<br />

hatten ein Stahlgerüst. Und unten an den Füßen von diesen Stahlhockern fehlten die<br />

Gumminoppen. Jetzt schauen sie sich mal ihren Stuhl an. Da sind solch kleine<br />

Plastikschoner. Hat man heute, ne? Hartplastik. Zu DDR-Zeiten waren das wirklich<br />

Gumminoppen, die da meistens unten an den Stühlen unten dran waren. Die fehlten.<br />

Ja <strong>und</strong> <strong>der</strong> Fußboden, das waren Terrazzoplatten. Das waren Steinplatten. Nehmen<br />

sie mal ihren Wohnungsschlüssel <strong>und</strong> gehen mal auf den Bürgersteig <strong>und</strong> ziehen<br />

den Schlüssel mal so über den Steinfußboden. Entstehen immer Geräusche. So, da<br />

hatten wir einzurücken <strong>und</strong> uns hinter den Stuhl zu stellen, in ordentlicher<br />

militärischer Gr<strong>und</strong>haltung. Der Erzieher gab den Befehl „Setzen“. Wenn auch nur<br />

ein Geräusch entstanden ist beim Hinsetzen: „Auf…setzen!“. Bis es klappte. Können<br />

sie sich vorstellen, dass 15 Minuten schnell um sind. Und <strong>der</strong> letzte Befehl ist dann<br />

nicht mehr „Auf…setzen!“, son<strong>der</strong>n „Raus!“. (1:24:00-0)<br />

Und .. das ist eine <strong>der</strong> hauptsächlichen Möglichkeiten gewesen, Essensentzug<br />

durchzuziehen, ohne es auszusprechen. Dann hast du schlicht <strong>und</strong> ergreifend nicht<br />

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essen können. Und ich kann ihnen versichern in den 16 Wochen, die ich da war,<br />

hatte ich jeden Tag so einen Kohldampf aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> psychischen <strong>und</strong> körperlichen<br />

Überbelastung. Wenn da eine Mahlzeit ausgefallen ist, <strong>und</strong> dann stand halt die<br />

Kartoffelsuppe vor dir. Und du hast den Geruch in <strong>der</strong> Nase, weil es noch warm war<br />

<strong>und</strong> dann durftest du nicht essen. Und dann hieß es rausrücken <strong>und</strong> weiter arbeiten.<br />

Und dann den körperlichen, ja die körperliche Überbelastung beim Strafsport<br />

draußen wie<strong>der</strong> auf dem Hof den ganzen Nachmittag. Und dann hast du erst zum<br />

Abendbrot wie<strong>der</strong> was gekriegt. Das ist nicht nur zwei-/ dreimal die Woche die<br />

Woche passiert, son<strong>der</strong>n sieben-, acht-, zehnmal. Verschiedene Mahlzeiten, die<br />

einfach ausgefallen sind. Also ich habe erheblich an Körpergewicht in diesen<br />

Wochen verloren. Ich bin mit knapp achtzig Kilo reingekommen <strong>und</strong> mit<br />

drei<strong>und</strong>sechzig Kilo, das werde ich nie vergessen, mit drei<strong>und</strong>sechzig Kilo entlassen<br />

worden. (1:25:02-1)<br />

Und wie ich heute weiß, das ist ja auch aus den Unterlagen <strong>der</strong> einzelnen<br />

ehemaligen Insassen nachvollziehbar heute, also belegbar. Ich war da nicht <strong>der</strong><br />

Einzige. Wirklich durch die Bank weg, die Insassen haben an Körpergewicht<br />

verloren. Na wen wun<strong>der</strong>t es denn? … Ja <strong>und</strong> nach dem Abendbrot wie<strong>der</strong> zurück in<br />

den Gruppenbereich. Übrigens man ist von Örtlichkeit zu Örtlichkeit immer wie eine<br />

Sportriege durch den Werkhof durchgeschlossen worden. Die einzelnen Bereiche<br />

waren ja immer durch Gittertüren voneinan<strong>der</strong> getrennt. Die Sanitärräume waren<br />

tagsüber immer verschlossen. Man wurde immer nur vom Erzieher hingeführt. Und<br />

durchgeschlossen <strong>und</strong> trallala. Alle Bewegungen im Laufschritt. .. Im ja leichten<br />

Dauerlauf mit angewinkelten Armen. Alles militärisch exakt. Nur im Arbeitsbereich<br />

durfte kein Dauerlauf ausgeführt werden, weil dort von dieser Bohrmilch <strong>der</strong><br />

Fußboden halt rutschig war. (1:25:55-9)<br />

Man wurde also nach dem Abendbrot wie<strong>der</strong> zurückgebracht in den Gruppenbereich.<br />

Dann lagen die Zeitungen im Gruppenraum ja auf dem Tisch. Diese von mir schon<br />

angesprochene Zeitungsshow, wo man dann möglichst auswendig lernen musste,<br />

was da drin stand. Und während dieser Zeitungsshow, da gab es immer drei, fünf<br />

manchmal mehr Jugendliche pro Gruppe, die auf dem Stationsbereich, also auf dem<br />

Flur, Strafsport machen mussten. Das waren irgendwelche Sanktionen für<br />

irgendwelche Fehlleistungen am Tage. Und die wurden genau in dieser Zeit<br />

ausgeführt. Und <strong>der</strong> Erzieher sitzt in seinem Erzieherzimmer, hat den Flur im Blick<br />

<strong>und</strong> den Gruppenraum, <strong>der</strong> ist ja gleich um die Ecke, hat er im Ohr sozusagen. Hat<br />

die Sache unter Kontrolle <strong>und</strong> kann aber genüsslich, heute weiß man das von dem<br />

einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en, da gab es auch Alkoholiker unter den Erziehern. Der eine hat<br />

Zigarre gepafft, die meisten haben sowieso geraucht, also Zigaretten. Und die haben<br />

sich dann diese viertel o<strong>der</strong> halbe St<strong>und</strong>e, während die Jugendlichen, also wir,<br />

Zeitung lesen mussten, das auswendig lernen mussten, in ihrem Erzieherzimmer<br />

aufgehalten. Und wenn es irgendwelche Streitigkeiten gab, ist es gelegentlich<br />

vorgekommen, also dann Prügeleien zum Beispiel unter den Jugendlichen im<br />

Gruppenraum während dieser Zeitungsshow kam, aus nichtigsten Anlässen. Da sind<br />

die Erzieher dann eingeschritten. Im Erzieherraum hatten sie immer drei<br />

Gummiknüppel zu liegen (…) Da sind die Erzieher gekommen, hatten den<br />

Gummiknüppel in <strong>der</strong> Hand <strong>und</strong> hatten dazwischen gedroschen <strong>und</strong> für Ruhe <strong>und</strong><br />

Ordnung gesorgt. Ja <strong>und</strong> nach <strong>der</strong> Zeitungsshow wurde <strong>der</strong> Tag ausgewertet. Dann<br />

mussten wir auf dem Flur antreten <strong>und</strong> dann wurde eben <strong>der</strong> gesamte Tag noch mal<br />

ausgewertet vom Erzieher. Ja <strong>und</strong> dann wurden Bestrafung <strong>und</strong> Belobigung<br />

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ausgesprochen. Belobigung, also in meinem Fall habe ich das drei Mal erlebt. Dann<br />

in <strong>der</strong> zweiten Etage gab es einen extra Gruppenraum, da stand ein Aquarium drin.<br />

Also war irgendwie ein bisschen an<strong>der</strong>s ausgestattet, als man sich eine gewöhnliche<br />

Gefängniszelle vorstellte. Da stand ein Fernseher drin, ein Aquarium <strong>und</strong> gepolsterte<br />

Stühle, was man sonst nicht hatte. Also so ähnliche Stühle wie hier. Und dann durfte<br />

man da eine halbe St<strong>und</strong>e Fernsehen gucken auf den Abend. Das war eine<br />

Belobigung, wenn Du vier o<strong>der</strong> ja sämtliche vier Tage in <strong>der</strong> Woche immer als<br />

Tagesbester ausgewertet wurdest von <strong>der</strong> Arbeitsleistung. Dann konnte dir das<br />

passieren, dass du Wochenbester deiner Gruppe wurdest. Und dann durftest du am<br />

Montag <strong>der</strong> Folgewoche abends eine halbe St<strong>und</strong>e Fernsehen gucken. Jetzt halten<br />

sie sich fest, abends neunzehn Uhr dreißig, was lief auf a...ähm nee auf ARD hätte<br />

ich beinahe gesagt, was lief im ersten DDR Fernsehen? Die<br />

Hauptnachrichtensendung Aktuelle Kamera. (1:28:44-5)<br />

…<br />

Es soll auch zu Aufenthaltsverkürzungen gekommen sein, in Einzelfällen, die <strong>der</strong><br />

Direktor dann veranlasst hat. Wenn jemand sich permanent mehr als positiv im<br />

Jugendwerkhof Torgau verhalten hat. Und dem man nicht unterstellt hat, <strong>und</strong> das ist<br />

auch noch recht perfide, das ist in meinem Fall zum Beispiel passiert. Wer sich dort<br />

normal verhalten hat <strong>und</strong> alle Anweisungen befolgt hat, unauffällig war <strong>und</strong> sonst<br />

was, dem wurde unterstellt, dass er seinen wahren Charakter noch nicht zeigt. Sein<br />

wahres Gesicht noch nicht zeigt. Dass er also schauspielert. Weil er muss ja so ein<br />

schlimmer Finger gewesen sein, so einen Wi<strong>der</strong>stand geleistet haben, so verbohrt<br />

gewesen sein, sonst wäre er ja niemals nach Torgau gekommen. Und plötzlich<br />

verhält er sich ganz normal, macht alles. Alles auf Anweisung. Nein, das kann nicht,<br />

also da kann was nicht stimmen. In meiner Akte kann man das nachlesen, da steht<br />

es drin. Schon nach drei o<strong>der</strong> vier Wochen. In meinem Berichtsbogen schreibt ein<br />

Erzieher, <strong>der</strong> zeigt uns seinen wahren Charakter noch nicht. Wir werden noch viel<br />

Freude an ihm haben. Freude in Anführungszeichen. Aber bei den Jugendlichen, wo<br />

<strong>der</strong> Direktor, o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gruppenerzieher das eingeschätzt hat, dass <strong>der</strong> eben sich<br />

nicht verstellt, das ist alles ehrlich gemeint. Da konnte es im Einzelfall schon mal<br />

passieren, dass ihm, weiß ich nicht, drei o<strong>der</strong> vier Wochen erspart geblieben sind<br />

<strong>und</strong> er vorzeitig entlassen wurde. Aber das war in meinem Fall auch nicht so. Und<br />

das ist so, da ist Ende <strong>der</strong> Fahnenstange mit irgendwelcher Form von Belobigung.<br />

Das Strafregister, das ist wesentlich umfangreicher. (1:32:18-0)<br />

4.4. Körperliche <strong>und</strong> seelische Ges<strong>und</strong>heit: „…ohne Bef<strong>und</strong>“<br />

(…) Es gab einen Anstaltsarzt. Es soll auch zeitweise dort eine Krankenschwester<br />

angestellt gewesen sein. Zu meiner Zeit gab es keine Krankenschwester. Vom<br />

Sozialarbeiter <strong>und</strong> Psychologen ist da überhaupt keine Rede. Obwohl es da eine<br />

Planstelle für gab, eine Arbeitsstelle. Es gab dort nie einen Psychologen o<strong>der</strong>, o<strong>der</strong><br />

eine Sozialarbeiterin. Es gab einen Anstaltsarzt. Und das war immer <strong>der</strong> Leiter <strong>der</strong><br />

Poliklinik. Also eines Gemeinschaftsärztehauses, wie man das heute bezeichnet. Der<br />

Leiter <strong>der</strong> städtischen Poliklinik von Torgau ist einmal die Woche für zwei, drei o<strong>der</strong><br />

vier St<strong>und</strong>en zur Sprechst<strong>und</strong>e im Jugendwerkhof erschienen. Er hatte dort mehrere<br />

Behandlungszimmer <strong>und</strong> sogar eine Einzelzelle, die als Krankenzimmer fungierte.<br />

Das war eine etwas größere Einzelzelle mit einem richtigen Bett, keine Holzpritsche,<br />

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son<strong>der</strong>n ein richtiges Bett sogar mit Matratzen. Hatte man im Arrest nicht. Und<br />

richtiger Bettwäsche <strong>und</strong> da stand sogar ein Schrank <strong>und</strong> Tisch <strong>und</strong> Stuhl. Und da<br />

war auch ein Wasserklosett. Und wer dort ernsthaft erkrankt war <strong>und</strong> nicht ins<br />

Krankenhaus musste, son<strong>der</strong>n vor Ort behandelt werden konnte. Für einen einzigen<br />

Insassen war so eine Zelle vorgesehen. Und dann hat er eben zwei, drei<br />

Behandlungszimmer gehabt. Dieser Mann war ausgebildeter… ausgebildeter<br />

Allgemeinarzt. Ne, also heute würde man sagen <strong>Haus</strong>arzt. Dieser Mann hat unter<br />

an<strong>der</strong>em HNO-Arzt gespielt, Chirurg, Orthopäde, Gyn, Facharzt für Inneres. Der hat<br />

alles gemacht. Der hat also bei Mädchen gynäkologische Untersuchungen <strong>und</strong> sogar<br />

Behandlungen vorgenommen. Der hat Tätowierungen entfernt, also Chirurg gespielt.<br />

Der hat auch kleinere Verletzungen genäht <strong>und</strong> ähnliche Geschichten. Das war <strong>der</strong><br />

Arzt. Und als ich dort eingeliefert wurde, im Jugendwerghof, die Zeit davor, hatte ich<br />

ja schon erzählt, dass ich mehrfach mich hab krankschreiben lassen wegen meinem<br />

Knie, um nicht arbeiten zu müssen. Weil ich das körperlich auch kaum gekonnt hätte.<br />

Bin also mit einer Meniskusverletzung schon, auch leicht entzündetem Knie, in den<br />

Jugendwerghof Torgau eingewiesen worden. Und in meiner Akte bin ich …<br />

nachweislich von dem Arzt die ersten sechs Wochen nicht behandelt worden. Der hat<br />

bei <strong>der</strong> Einweisungsuntersuchung am dritten o<strong>der</strong> vierten o<strong>der</strong> fünften Tag in meine<br />

Akte reingeschrieben, ohne Bef<strong>und</strong>. Ich wäre also kernges<strong>und</strong>. Ja, aber in meiner<br />

Akte, die an- also in sechs Wochen nach meiner Einweisung kamen erst meine<br />

Einweisungsunterlagen. Und da steht wirklich von den Erziehern <strong>und</strong> vom Direktor<br />

des offenen Jugendwerkhofs Freital, die den Nachtrag geschrieben hatten, auf<br />

Einweisung nach Torgau. Da schreiben die schon rein, dass Stefan eben krank ist.<br />

Mit dem Knie <strong>und</strong> möglicherweise eine Operation notwendig wäre. Aber <strong>der</strong> Arzt hat<br />

das nicht erkannt. Na ja, <strong>und</strong> als er das erkannt hat, da war es schon sozusagen viel<br />

zu spät. Ich hatte wirklich schon so ein dickes Knie. Und das war hochgradig<br />

entzündet. Und dann hat er mir eine Mullbinde verschrieben <strong>und</strong> eine Wärmesalbe.<br />

Elacur, den Namen vergesse ich auch nicht. Da sollte ich mein Knie mit so einer,<br />

also so einer Schlangengiftsalbe sozusagen, ne? Weiß ich, was da alles drinnen war<br />

in diesem Zeug. Da sollte ich mein Knie mit so einer Wärmesalbe einreiben <strong>und</strong> als<br />

Stützverband hatte ich eine Mullbinde. Weil die Mullbinde habe ich als äußeres<br />

Signal nach außen gezeigt, damit die Erzieher auch ja nicht vergessen, mich von den<br />

Kniebeugen im Torgauer Dreier zu befreien, die ich sowieso nicht hätte ausführen<br />

können. Ja <strong>und</strong> die Salbe habe ich mir dann zwei o<strong>der</strong> dreimal am Tag hinten in den<br />

Rücken geschmiert. Da hat sie wenigstens gewärmt.<br />

(1:40:43-8)<br />

Also, ja ist so. Wenn ich da früh auf dem Werkhofs- …hof geführt wurde, mit <strong>der</strong><br />

Gruppe, <strong>und</strong> wenn die Kniebeuge gemacht haben, fünfzig o<strong>der</strong> hun<strong>der</strong>tfünfzig Stück<br />

dann hatte ich ja zu stehen, weil ich das nicht machen konnte. Und dann hatte ich ja<br />

gefroren. Na dank <strong>der</strong> Salbe hat <strong>der</strong> Rücken nicht ganz so dolle, ne, hier gefroren.<br />

Und das war die Behandlung. Mehr habe ich da nicht erfahren. Ich bin entlassen<br />

worden, wie gesagt, mit deutlichem Körpergewichtsverlust. Das war auch nicht das<br />

Einzige. Nach meiner Entlassung, wie gesagt, ich hatte eine eigene Wohnung <strong>und</strong><br />

dann eine Woche später sollte ich anfangen auf so einem Hilfsarbeiterjob zu<br />

arbeiten. Ich weiß, dass ich das erste Jahr nach meiner Entlassung aus Torgau recht<br />

häufig krank war. Häufig krankgeschrieben war. Ich hatte Skorbut. Ich hatte Mineral<strong>und</strong><br />

Vitaminmangel, <strong>der</strong> nachgewiesen wurde. Und ich habe nie wie<strong>der</strong>, hinterher<br />

<strong>und</strong> vorher auch nicht, ich habe noch nie so viele Tabletten auf einmal gefressen.<br />

Das meiste waren wirklich Kombipräparate, Mineralien <strong>und</strong> Vitamine von A bis weiß<br />

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ich nicht. Und das hat <strong>der</strong> Arzt nicht erkannt <strong>und</strong> nicht behandelt während meiner<br />

Zeit. Das war für den normal. Anscheinend. Dass er Jugendliche in solchem Zustand<br />

vor sich gesehen hat mit Mangelernährungserscheinungen <strong>und</strong>, <strong>und</strong>, <strong>und</strong>. Das<br />

einzige Mal, wo ich das Krankenhaus gesehen habe, ist ja in meinem Fall<br />

vorgekommen, das war im April irgendwann. Auf ein Wochenende. Da hatten wir<br />

sozusagen generelle Gr<strong>und</strong>reinigung <strong>der</strong> Station, des Gruppenraumes. Da wurden<br />

alle Sanitär-…räume, Duschen, Toiletten <strong>und</strong>, <strong>und</strong>, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Waschraum eben<br />

geöffnet. Und die Gruppenmitglie<strong>der</strong> hatten dort eben gründlichst zu reinigen. Wie im<br />

Knast, wie bei <strong>der</strong> Armee. Und <strong>der</strong> Flur wie<strong>der</strong> mal gescheuert. Und sämtliche Gitter<br />

wurden gereinigt <strong>und</strong> sonst was. Und da habe ich mir an so einer schweren Gittertür<br />

den Daumen gequetscht. Und zwar so massiv gequetscht, dass <strong>der</strong> Erzieher Angst<br />

hatte, dass <strong>der</strong> gebrochen ist. Hat auch massiv geblutet. Und dann wurde ich in<br />

Handschellen <strong>und</strong> an <strong>der</strong> Knebelkette ins Auto gesetzt <strong>und</strong> dann zur Notambulanz<br />

ins Krankenhaus gefahren <strong>und</strong> wurde da, sozusagen behandelt, notoperiert.<br />

Übrigens ohne Betäubung genäht. Wurde geröntgt, ob gebrochen ist. Gebrochen war<br />

es nicht. War eine ziemlich heftige Quetschw<strong>und</strong>e hier am Daumen, die stark<br />

geblutet hatte. Das wurde also mit ein paar Stichen genäht. Dann kamen ein Pflaster<br />

<strong>und</strong> ein leichter Verband drüber, fertig. Das war das einzige Mal, wo ich das<br />

Krankenhaus gesehen habe. (1:43:06-9)<br />

Ohne die Möglichkeit da abzuhauen. Wie gesagt, selbst bei <strong>der</strong> Behandlung auf<br />

diesem, diesem Behandlungstisch habe ich da gelegen. Und an meiner ges<strong>und</strong>en<br />

Hand hatte ich die ganze Zeit diese Knebelkette. Und da machst du alles, was man<br />

dir sagt. Ja. Also soviel zur medizinischen Behandlung dort. (1:43:26-8)<br />

…<br />

(…) Also vom Gr<strong>und</strong>sätzlichen war das so, dass man keine Möglichkeit hatte, sich<br />

dieser, dieser also Tagesablauffolge, sich in irgendeiner Form zu entziehen. Man<br />

stand wirklich vier<strong>und</strong>zwanzig St<strong>und</strong>en unter totaler Überwachung, Beobachtung <strong>und</strong><br />

bekam nur Anweisungen. Auf Anweisung hatte man dort irgendwas zu machen. Man<br />

durfte noch nicht mal sprechen, ohne aufgefor<strong>der</strong>t zu werden. Also sich<br />

untereinan<strong>der</strong> zu unterhalten, das war eigentlich nur im Arbeitsbereich möglich. Und<br />

das möglichst nur im Flüsterton, damit das <strong>der</strong> Arbeitserzieher nicht mitkriegt. Und in<br />

<strong>der</strong> Nachtruhe. Und das möglichst auch nur mit flüstern. Wir hatten also tatsächlich<br />

vier<strong>und</strong>zwanzig St<strong>und</strong>en die ganze Woche Redeverbot. (1:44:26-9)<br />

Ja, alles an<strong>der</strong>e wie gesagt auf Anweisung <strong>der</strong> Erzieher. Und wer sich dem<br />

wi<strong>der</strong>setzte, <strong>der</strong> wurde sanktioniert. Man hatte nicht die Möglichkeit, sich dem zu<br />

entziehen. Die einzige Möglichkeit, <strong>und</strong> davon wurde relativ rege Gebrauch gemacht,<br />

das war <strong>der</strong> Versuch schwer krank zu werden. Also immer in <strong>der</strong> Hoffnung, ich<br />

komme ins Krankenhaus <strong>und</strong> dann bin ich aus diesem Erziehungsprozess raus, aus<br />

dieser lebensbedrohlichen o<strong>der</strong> wenigstens die Ges<strong>und</strong>heit bedrohenden Situation,<br />

dieser Haftsituation. Na <strong>und</strong> was haben die Jugendlichen gemacht? Die meisten,<br />

o<strong>der</strong> ja die meisten von denen, die es gemacht haben, die haben versucht sich<br />

umzubringen. Aber das nur als Demonstrativhandlung <strong>und</strong> um sich diesem<br />

Erziehungsprozess eben, dieser Situation zu entziehen. Und dann ist es wirklich von<br />

vielen so gemacht worden, dass die Nägel o<strong>der</strong> Schrauben, Muttern irgendwas sich<br />

im Arbeitsbereich in den M<strong>und</strong> gestopft haben, runter geschluckt haben. Die meisten<br />

hatten halt keine Ahnung, dass es da einen natürlichen Werdegang gibt von solchen<br />

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geschluckten Gegenständen, die tatsächlich auf dem natürlichen Weg wie<strong>der</strong> raus<br />

kommen, nach ein paar Tagen o<strong>der</strong> so. Ja <strong>und</strong> die sind nicht ins Krankenhaus<br />

gekommen, son<strong>der</strong>n die sind sogar bestraft worden für diese Selbstverstümmelung.<br />

Diese Selbstkörperverletzung, wie man das nannte. Im Zweifel, wenn es behauptet<br />

wurde von einem Jugendlichen o<strong>der</strong> sogar nachgewiesen wurde, aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

fehlenden Einzelteile, die verschluckt wurden, dass es massiv gewesen ist, also nicht<br />

nur zwei drei Stück, son<strong>der</strong>n wirklich massiv, sind sie im Einzelfall tatsächlich ins<br />

Krankenhaus o<strong>der</strong> in die Poliklinik gefahren worden zum Röntgen. Um dann<br />

festzustellen, wie viele Fremdkörper, welche Fremdkörper an welchem Ort sich<br />

gerade im Körper befinden. Ja <strong>und</strong> die Behandlungsgeschichte bei solchen Sachen,<br />

Vorkommnissen, also verschluckte Gegenstände, das war reines rohes Sauerkraut.<br />

… Dann hat <strong>der</strong> betreffende Jugendliche wirklich, wenn, wenn wir als Gruppe, <strong>der</strong><br />

musste ja weiter arbeiten, <strong>und</strong> so weiter, hat am Tagesablauf teilgenommen. Alles,<br />

vollkommen egal, was da gerade mit seinem Körper passiert. Bei den Mahlzeiten,<br />

früh, mittags, abends hat er aber kein Brot bekommen, son<strong>der</strong>n reines rohes<br />

Sauerkraut. Eine Schüssel voll. Das musste <strong>der</strong> aufessen. Und wehe er hat das nicht<br />

gemacht, dann ist er mit Strafsport sanktioniert worden. Zum Mittagessen hat er nicht<br />

das normale Mittagessen gekriegt, son<strong>der</strong>n reines rohes Sauerkraut <strong>und</strong> zum<br />

Abendbrot dasselbe Spiel. Und das passierte so lange, bis in <strong>der</strong> Situation Toilette,<br />

das kann ich dann gleich im Anschluss ein bisschen näher erläutern. Da waren wir ja<br />

auch nicht alleine. Und wenn <strong>der</strong> Jugendliche dann endlich diese Gegenstände<br />

verloren hat, beim Stuhlgang, hatte er dem Erzieher Meldung zu machen. Der hatte<br />

dann so...ich kann es mir körperlich kaum vorstellen, dass die da, die haben einfach<br />

in die Kloschüssel reingeguckt, <strong>und</strong> wenn da irgendwo Metallschrauben zu sehen<br />

waren, sonst was, dann war klar, jetzt ist das beendet <strong>und</strong> dann durfte er bei <strong>der</strong><br />

nächsten Mahlzeit dann wie<strong>der</strong> normal daran teilnehmen. (1:47:27-6)<br />

Das war die einzige Behandlungsform. Und die Schätzungen, die gehen heute<br />

wirklich bis, also davon aus, dass bis zu 40 Prozent aller ehemaligen Insassen<br />

versucht haben, auf diese Art <strong>und</strong> Weise, nicht ums Leben zu kommen, son<strong>der</strong>n aus<br />

dieser Erziehungseinrichtung raus zu kommen. Aus diesem Zuchthaus. Und drei<br />

haben es tatsächlich geschafft sich das Leben zu nehmen. Das war 1983 <strong>der</strong> Rainer<br />

Furkert, <strong>der</strong> sich im Krankenzimmer verbrannt hat. Nach einer Blinddarmoperation,<br />

ein paar Tage später hat man ihm Bohnerwachs reingegeben. Und er sollte seine<br />

Zelle säubern. Postoperativ nach dem dritten, vierten Tag. Postoperativ,<br />

Blinddarmoperation, sollte er seine Zelle bohnern <strong>und</strong> er hat diesen Bohnerwachs<br />

genommen <strong>und</strong> diesen Schrank damit eingeschmiert. Das war ein Holzschrank. Und<br />

er hatte so ein, anscheinend aus dem Krankenhaus geschafft o<strong>der</strong> bei dem Besuch<br />

seiner Mutter ein paar Tage später, Zigaretten <strong>und</strong> Streichhölzer in seine<br />

Krankenzelle zu schmuggeln. Er hat diesen Bohnerwachs angezündet <strong>und</strong> die<br />

Todesursache ist nicht ersticken durch Rauchvergiftung, son<strong>der</strong>n verbrennen. Der ist<br />

jämmerlich verbrannt. … Der Zweite ist am Tage seiner, seiner Entlassung, seiner<br />

Rückführung. Übrigens war das einer aus Freital, aber 1987. Der ist am Tage <strong>der</strong><br />

Rückführung abgehauen. Also wollte fliehen. Ist in die Elbe gesprungen, wollte da<br />

rüber schwimmen an das an<strong>der</strong>e Ufer. Hat es nicht erreicht. Ist ertrunken. Der Gr<strong>und</strong><br />

dafür war, das geht aus seiner Akte hervor, dass <strong>der</strong> Erzieher von, von Torgau, <strong>der</strong><br />

ihn nach Freital zurück transportierte, auf dem Rücktransport gesagt hatte, wir sehen<br />

uns bald wie<strong>der</strong>. Und <strong>der</strong> wollte nie wie<strong>der</strong> nach Torgau. Darum wollte er abhauen.<br />

(1:49:09-3)<br />

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Und <strong>der</strong> Dritte bekannte Fall, wo <strong>der</strong> Suizid wirklich gelungen ist. Da weiß ich jetzt<br />

bloß den Vornamen Steven. Der hat sich am zweiten Tag seiner Einweisung im<br />

Einzelarrest, also sein Aufnahmeeinzelarrest, mit seinem eigenen Pullover erhangen.<br />

… Tja <strong>und</strong> dann hat irgendwann ein Erzieher ihn ge .. gef<strong>und</strong>en beim Aufschluss des<br />

Einzelarrestes. Da war er tot. Ein paar Wochen später kamen seine<br />

Einweisungsunterlagen. … Da war ein ärztliches Attest drin, dass er unter Platzangst<br />

leidet <strong>und</strong> nicht in Einzelunterbringung also keine Arrestierung <strong>und</strong> so weiter. Ein<br />

ärztliches Attest. Da war er schon ein paar Wochen tot. (1:49:52-7)<br />

…<br />

SL: Also wir hatten bis auf in <strong>der</strong> Zeit wo wir gearbeitet haben, da hatten wir ein<br />

Plumpsklo im Arbeitsbereich. Bis 1989 soll es dieses Plumpsklo gegeben haben.<br />

Also ohne Wasser. Aber immerhin. Aber ansonsten hatten wir keinen freien Zugang<br />

zu den Sanitärräumen. Also we<strong>der</strong> zum Waschraum, noch zum Duschraum. Aber<br />

auch nicht zu den Toiletten. In unserer sogenannten Gruppenfreizeit, wenn wir dann<br />

meinetwegen bei <strong>der</strong> Zeitungsshow abends gewesen sind, wenn da jemand auf<br />

Toilette musste, dann hatte er sich beim Erzieher zu melden. Meldung zu machen.<br />

„Na Herr, Herr sowieso“, mit Namen haben wir die angesprochen, „Ich habe ein<br />

dringendes Bedürfnis ich müsste mal auf Toilette“. Die Antwort war in einhun<strong>der</strong>t<br />

Prozent <strong>der</strong> Fälle: „Du bist doch jetzt aber nicht alleine, Jugendlicher <strong>Lauter</strong>? Nein,<br />

nein, es sind noch vier die Jugendlichen A, B, C, D, E.“ „Antreten auf dem Flur,<br />

zack!“, <strong>und</strong> dann hat <strong>der</strong> Erzieher die vier o<strong>der</strong> fünf Jugendlichen kurz gemustert <strong>und</strong><br />

dann gab es wirklich bloß Befehl: „Stramm stehen, rechts um, zack“, <strong>und</strong> dann hat<br />

<strong>der</strong> Erzieher uns zu <strong>der</strong> Toilette durchgeschlossen, zu dem Toilettenraum. Da<br />

standen wirklich fünf WCs nebeneinan<strong>der</strong> ohne Trennwand, ohne Tür davor. Dann<br />

hast du dein Geschäft verrichtet. Der Erzieher stand die ganze Zeit am Türrahmen<br />

<strong>und</strong> hat dabei zugesehen. (01:51:30-1)<br />

Also die haben wirklich sprichwörtlich beim Scheißen zugesehen. Dann hast du dein<br />

Geschäft da absolviert <strong>und</strong> dann, na ja, wie das halt so ist ne, spülen <strong>und</strong> trallala,<br />

wie<strong>der</strong> draußen antreten, wie<strong>der</strong> im Laufschritt zurück zum Gruppenraum. Erledigt.<br />

Das war Toilettengang. Das ist nicht beson<strong>der</strong>s lustig gewesen in dem Falle. Und<br />

das kam ja öfter vor. Es gab ja nicht nur männliche Erzieher in dieser Einrichtung,<br />

son<strong>der</strong>n auch Frauen. Wir hatten des Öfteren auch Frauen bei uns als Erzieher. Die<br />

standen dann genauso in <strong>der</strong> Tür, wie gesagt, ich bin 17 ½ Jahre, fast, also ich fühlte<br />

mich damals schon fast wie ein erwachsener Kerl. Und dann schaut mir da eine<br />

vierzig- o<strong>der</strong> fünfzigjährige Frau bei meinem Toilettengang zu. Das ist äußerst<br />

demütigend <strong>und</strong> entwürdigend. Aber stellen sie sich mal den umgedrehten Fall vor.<br />

Was ist denn mit <strong>der</strong> 14- o<strong>der</strong> 16-jährigen, wenn da meinetwegen ein<br />

acht<strong>und</strong>fünfzigjähriger Erzieher in <strong>der</strong> Tür steht <strong>und</strong> ihr bei dieser Notdurft-<br />

Verrichtung zuschaut? Und alle vier Wochen hat ja so ein junges Mädchen noch ein<br />

ganz an<strong>der</strong>es Problem. Und da schaut dieser männliche Erzieher genauso zu. Also<br />

ich kann mir das heute als .. als Mann natürlich kaum vorstellen, aber das muss doch<br />

grauenvoll sein. Das sind über mehrere Erzieher bis hin zum Direktor heute ja .. nicht<br />

nur Vermutungen, son<strong>der</strong>n sogar Nachweise gesichert worden, dass die pädophil<br />

waren. (…) Ehemalige Insassinnen <strong>und</strong> Insassen vom geschlossenen<br />

Jugendwerkhof haben sich bis heute in <strong>der</strong> Gedenkstätte gemeldet <strong>und</strong> von<br />

sexuellen Übergriffen bis hin zur Vergewaltigung berichtet. Diese Berichte sind<br />

glaubhaft. Die sind mehr als glaubhaft. Und mehrfach taucht <strong>der</strong> Name von Horst<br />

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Kretzschmar auf, <strong>der</strong> wie gesagt, von 1968, Ende '68 ist er Direktor geworden. Da<br />

hat er noch nicht mal eine pädagogische Ausbildung übrigens. Sein Fernstudium hat<br />

er 1972 erst gemacht an <strong>der</strong> Humboldt-Uni. Und er hat bis Frühjahr '89 dort den<br />

Direktor gemacht. Den wirklich prägenden Direktor dieser Einrichtung. Der war<br />

pädophil. Das ist wirklich verbrieft, dass Horst Kretzschmar einen Kurzurlaub in Prag<br />

mit zwei weiblichen Insassen gemacht hat. Der schnappt sich also zwei junge<br />

Mädchen, weiß ich nicht, 14, 15, 16 Jahre alt. Die nimmt er aus <strong>der</strong> Gruppe raus,<br />

Kraft seines Amtes, schnappt sich die Personalausweise, die er ja in den Akten hat,<br />

<strong>und</strong> da fährt er mal in die Tschechoslowakei <strong>und</strong> macht ein paar Tage Ferien mit<br />

ihnen im Hotel. Da muss ich doch kein, kein ja Prophet sein, um, um zu wissen, was<br />

da gelaufen ist. Das gibt verbriefte … Unterlagen. Also es gibt wirklich einen<br />

Schriftwechsel zwischen einem, bei <strong>der</strong> Entlassung 16- o<strong>der</strong> knapp 17-jährigen<br />

Mädchen, was aus Torgau entlassen wird. Und da gibt es einen Briefwechsel<br />

zwischen dem Direktor <strong>und</strong> diesem Mädchen nach <strong>der</strong> Entlassung. Sie schreibt die<br />

ganze Zeit, mein lieber Onkel Horst, <strong>und</strong> er antwortet adäquat mit ihrem Vornamen.<br />

Er hat dafür gesorgt, dass sie, obwohl sie noch nicht volljährig ist, mit einer Wohnung<br />

versorgt wird in Dresden, mit einem vernünftigen Ausbildungsplatz o<strong>der</strong> Arbeitsplatz,<br />

das weiß ich jetzt nicht ganz genau. Ja <strong>und</strong> dieser Briefwechsel, <strong>der</strong> ist ja ziemlich<br />

intim. Und <strong>der</strong> soll ihr nachts, wenn sie mal auf Einzelarrest war, aus welchen<br />

Gründen auch immer. Die, also solche Sanktionen traf dieses Mädel ja auch, <strong>der</strong> soll<br />

nach Beginn <strong>der</strong> Nachtruhe, die Einzelarrestzelle mehrf...also nicht nur in einer<br />

Nacht, son<strong>der</strong>n mehrfach aufgeschlossen haben, sich auf den Hocker neben ihre<br />

Holzpritsche, wo sie lag, gesetzt haben <strong>und</strong> dann soll er ihr vorgelesen haben.<br />

(01:56:19-4)<br />

Das war eine Eins-zu-eins-Situation. Es gibt glaubhafte Berichte von ehemaligen<br />

Jungs <strong>und</strong> ehemaligen Mädchen, dass sie in <strong>der</strong> Nachtruhe von den Erziehern o<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Nachtwache, wer da auch immer zuständig war, sexuell miss..misshandelt o<strong>der</strong><br />

sogar missbraucht worden sind. Und die Fälle sind glaubhaft. Und in einem Fall gab<br />

es sogar ein strafrichtlich...strafrechtliches Verfahren. Das nächste, was ziemlich<br />

merkwürdig ist, aber was eben verbrieft ist, <strong>der</strong> Horst Kretzschmar hat Mitte <strong>der</strong><br />

siebziger Jahre, '75, 1975 o<strong>der</strong> 1976 zwei Insassen des Jugendwerkhofs Torgau<br />

nicht rechtlich aber körperlich adoptiert <strong>und</strong> in seiner Dienstwohnung, die damals<br />

noch im Verwaltungsbereich, also auf dem Werkhofgelände war, die hat er da<br />

aufgenommen. Hintergründe sind mir völlig schleierhaft <strong>und</strong> unbekannt. Aber <strong>der</strong> hat<br />

also zwei Jungs in seiner Dienstwohnung aufgenommen, als seine eigenen Kin<strong>der</strong>,<br />

<strong>und</strong> die sind dann draußen zur Lehre o<strong>der</strong> irgendwas gegangen. Die haben bei ihm<br />

in <strong>der</strong> Dienstwohnung gelebt. Und einer von diesen beiden Jungs, als Horst also<br />

Papa Horst in <strong>der</strong> Nacht geschlafen hat, da hat <strong>der</strong> eine von den beiden, weiß ich<br />

nicht, wie alt <strong>der</strong> damals war, 16 ½ o<strong>der</strong> 17, sich den Anstaltsschlüssel geschnappt<br />

<strong>und</strong> ist in den Stationsbereich <strong>der</strong> Mädchen eingedrungen, hat eine Arrestzelle<br />

aufgeschlossen <strong>und</strong> wollte ein Mädchen vergewaltigen. Und die Nachtwache, ich<br />

weiß nicht, ob es ein ganz normaler Typ gewesen ist, <strong>der</strong> dann wirklich nur als<br />

Nachtwache eingesetzt wurde, o<strong>der</strong> ob es ein Erzieher war, <strong>der</strong> dann nachts eben<br />

Kontrolle hatte, <strong>der</strong> hat diesen Jungen bei dieser Tat überrascht. Und diese<br />

Nachtwache lebt heute nicht mehr. Dieser Adoptivsohn sozusagen, auch ehemaliger<br />

Insasse, hat in dieser Tat o<strong>der</strong>, ja wo er ertappt wurde in diesem Moment diese<br />

Nachtwache umgebracht. Darum hat sich eine Staatsanwaltschaft überhaupt nur um<br />

diesen Fall gekümmert. Weil es da zu dieser Tötungshandlung gekommen ist. …<br />

Das, das muss recht häufig vorgekommen sein. Mindestens im geschlossenen<br />

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Jugendwerkhof. Sexueller Missbrauch. Aber auch viele an<strong>der</strong>e Heimeinrichtungen,<br />

angefangen von normalen Kin<strong>der</strong>heimen, aber vor allem in den Spezialkin<strong>der</strong>heimen<br />

o<strong>der</strong> Jugendwerkhöfen soll es häufig zu solchen Fällen gekommen sein. Und da<br />

sprechen wir hier nicht von ehemals zwanzig Opfern o<strong>der</strong> hun<strong>der</strong>t Opfern. Das sind<br />

Hun<strong>der</strong>te. Und diese Ermittlungen <strong>und</strong>, <strong>und</strong> die Recherchen zu diesem Thema sind<br />

noch lange nicht beendet. Viele schweigen bis heute aus Scham, aus Angst, aus<br />

weiß ich nicht. (01:59:18-3)<br />

…<br />

(…) Der Kelch <strong>der</strong> sexuellen, des sexuellen Missbrauchs o<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>der</strong> ...bis hin zur<br />

Vergewaltigung. Das ist an mir vorübergegangen. Also das ist mir erspart geblieben.<br />

Also we<strong>der</strong> in <strong>der</strong>, in <strong>der</strong> Strafhaft noch U-Haft noch, noch später im offenen o<strong>der</strong><br />

geschlossenen Werkhof. Das ist mir nicht passiert. Weiß ich nicht warum. Gott sei<br />

dank. Ich habe es ja bei an<strong>der</strong>en in <strong>der</strong> Haftanstalt erlebt. Und .. <strong>und</strong> .. <strong>und</strong> ich<br />

konnte nicht einschreiten, weil ich sonst vielleicht fällig gewesen wäre. Die auch von<br />

an<strong>der</strong>en Insassen vergewaltigt worden sind. Da gab es ja in den Schlafräumen auch<br />

zwanzig bis dreißig Jungs. Da gab es bis hin zur Vergewaltigung alles. Das meiste<br />

lief natürlich im Bereich des <strong>der</strong> sexuellen Nötigung ab, ne? (02:00:25-6)<br />

…<br />

SL: Ja. Also nicht nur, dass sich dort [im Jugendstrafanstalt Halle] Jugendliche, meist<br />

zu viert o<strong>der</strong> zu fünft o<strong>der</strong> so, auch meist in <strong>der</strong> Nachtruhe. Aber manchmal auch<br />

nach <strong>der</strong> Arbeit in <strong>der</strong> Gruppenfreizeit sozusagen. Wenn kein Knastbru<strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />

Nähe war, kam es ja auch häufig zu Schlägereien <strong>und</strong> so war es in <strong>der</strong> Haftanstalt.<br />

So was mitzuerleben das ist schon schlimm genug. Aber wenn man dann erlebt, wie<br />

da ein 14-Jähriger von zwei 18-, 19-, 20-Jährigen vergewaltigt wird, das ist dann<br />

nicht mehr lustig. Solche Sachen habe ich halt in Halle auch erlebt. In Torgau<br />

übrigens, zu meiner Zeit, nicht. Also .. ich war ja in zwei verschiedenen<br />

Schlafräumen. Also vor <strong>der</strong> ersten Dauerarreststrafe von zehn Tagen, da war ich erst<br />

in dem Schlafraum A <strong>und</strong> danach in dem Schlafraum B untergebracht. Warum auch<br />

immer. Da gab es keine sexuellen Übergriffe unter den Jungs. Aber es gab solche<br />

Geschichten auch. Sexueller Missbrauch unter den Insassen selbst. Solche<br />

Einzelfälle gab es auch. Übrigens nicht nur bei den Jungs. Mädchen können da<br />

ziemlich grausam sein. Untereinan<strong>der</strong>. Ja aber wie gesagt, solche Übergriffe von,<br />

von irgendwelchen, denen ich mal anvertraut war, also Erziehern o<strong>der</strong> sonst was, ist<br />

mir persönlich erspart geblieben. Und dafür danke ich Gott. (02:01:54-1)<br />

Pause (02:01:59-0)<br />

SL: Und ich bin Atheist. (lacht) (02:02:03-3)<br />

4.5. Entlassung: „Am liebsten würde ich dich noch länger hier behalten. Bei dir ist<br />

das Erziehungsziel nicht erreicht“<br />

(…) Ich bin ganz genau einen Tag vor meinem 18. Geburtstag entlassen worden.<br />

Also am 28. Mai 1985 an einem Vormittag. Die Uhrzeit weiß ich nicht genau. Ich<br />

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hatte ja keine Uhr. Im Regelfall war das so, dass man vor <strong>der</strong> Entlassung, ohne den<br />

Tag genau zu kennen, ein sogenanntes Vorbereitungsgespräch bei dem Direktor<br />

hatte. Also es gab drei re...reguläre, nach seinem Erziehungssystem,<br />

vorgeschriebene direkte Gespräche beim Direktor. Eine Eins-zu-eins-Situation. Das<br />

war kurz nach <strong>der</strong> Einweisung, wo <strong>der</strong> Direktor dir gesagt hat, warum du überhaupt<br />

da bist, was die Einweisungsgründe sind <strong>und</strong> dass jetzt Schluss ist hier mit lustig.<br />

Und dann gab es ... ja ein sogenanntes Zwischengespräch, das war dann meist so<br />

während <strong>der</strong> Mitte o<strong>der</strong> kurz über <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Haftdauer, wo <strong>der</strong> Jugendliche nicht<br />

wusste, dass jetzt die Mitte erreicht ist o<strong>der</strong> sonst was. Der wurde einfach bloß zum<br />

Direktor geführt, hatte ein Gespräch <strong>und</strong> wurde wie<strong>der</strong> zurückgeführt. Zack. Und kurz<br />

vor <strong>der</strong> Entlassung wurde ein Gespräch geführt. Und bei mir hat dieses<br />

Entlassungsgespräch auch drei o<strong>der</strong> vier Tage vor meiner tatsächlichen Entlassung<br />

stattgef<strong>und</strong>en. Und ich war schon für drei Wochen auf Dauerarrest. Ich war bis zum<br />

Moment meiner Entlassung die letzten Wochen nur noch von <strong>der</strong> Gruppe<br />

weggesperrt. Wurde lediglich rausgeholt, um die acht St<strong>und</strong>en mitzuarbeiten, also<br />

die vier Tage in <strong>der</strong> Woche. Ansonsten war ich dauerisoliert von <strong>der</strong> Gruppe. (…) Der<br />

Gr<strong>und</strong> war, dass sie Angst hatten, dass mein aufmüpfiges Verhalten, obwohl das<br />

ziemlich gedämpft war, also so wie ich es vorhin von, von Freital, dem offenen<br />

Werkhof, erzählt habe, das habe ich mir in Torgau alles nicht getraut. Aber ich habe<br />

angefangen, mich irgendwie verbal zu wehren. Das haben sie mitgekriegt. Die sind ja<br />

nicht blöd gewesen, die Erzieher. Die haben mich von <strong>der</strong> Gruppe dauerisoliert. Also<br />

wenn die am Nachmittag nach <strong>der</strong> Arbeit, wie gesagt, diese Sportübungen o<strong>der</strong> über<br />

die Sturmbahn. Ich war auf Einzelarrest. Ich war in <strong>der</strong> Einzelarrestzelle. In <strong>der</strong><br />

Nachtruhe war ich nicht im Schlafraum, wo zehn, zwölf o<strong>der</strong> sechzehn Jugendliche<br />

waren, ich war in <strong>der</strong> Einzelarrestzelle. Nur die acht St<strong>und</strong>en an vier Tagen die<br />

Woche, wo meine Gruppe zur Arbeit geführt wurde, da wurde ich mit zur Gruppe<br />

zugeführt, sollte mitarbeiten, nach <strong>der</strong> Arbeit gleich wie<strong>der</strong> weggeschlossen. Ja .. bei<br />

meinem Entlassungsgespräch hat mir <strong>der</strong> Direktor so ein paar Sätze um die Ohren<br />

gehauen. Das dauert auch bloß ein paar Minuten. Der meinte, dass meine<br />

Entlassung unmittelbar bevorsteht. Stefan, du wirst ja 18 <strong>und</strong> so weiter. Das weißt<br />

du. Also er hat mich prinzipiell geduzt dort. Und er meinte, dass ich noch einmal nach<br />

Freital zurückkomme, für einen Tag, <strong>und</strong> dort eben meine Unterlagen, meine Papiere<br />

bekomme <strong>und</strong> Entlassungsgespräche, meine persönlichen Gegenstände, Sachen,<br />

mein Eigentum, <strong>und</strong> dass ich dann in Berlin o<strong>der</strong> nach Berlin fahren soll <strong>und</strong> zu<br />

meiner Mutter zu gehen habe. Und die hätte einen Arbeitsvertrag, das wisse er<br />

schon alles von meinem Jugendamt aus, aus Berlin. Meine Mutter hätte für mich<br />

einen Arbeitsvertrag auf dem Tisch zu liegen <strong>und</strong> ein Wohnungs-, Mietvertrag <strong>und</strong><br />

einen Wohnungsschlüssel. Und meine erste Wohnung, also eine Einraumwohnung<br />

mit Küche <strong>und</strong> Innen-WC, die wäre schon eingerichtet, von meiner Mutter <strong>und</strong> so.<br />

Und dann hat er noch mir an den Kopf geknallt: „Am liebsten würde ich dich noch<br />

länger hier behalten. Bei dir ist das Umerziehungsziel, das Erziehungsziel nicht<br />

erreicht.“ Das ist <strong>der</strong> einzige Satz, wo er aus meiner Sicht aus meiner rückblickenden<br />

Sicht heute nicht gelogen hat. Also das Umerziehungsziel war bei mir nicht erreicht.<br />

Also in dem Moment war mir das nicht nur bewusst, son<strong>der</strong>n ich hatte auch schon<br />

wie<strong>der</strong> die innere Stärke. Und er meinte wirklich, am liebsten würde er mich noch drei<br />

Jahre hier behalten damit er auch mich kriegt. Und das klingt wirklich, wenn ich das,<br />

ja wenn ich daran zurück denke heute, das klingt wirklich so, als hätte er fast jeden<br />

dort knacken können. Bei mir war er traurig o<strong>der</strong> sauer, dass er es, dass er nicht<br />

ausreichend Zeit hatte. Das war mein Entlassungs..gespräch. Und dann kam ich da<br />

wie gesagt noch für zwei drei Tage auf Einzelarrest bis <strong>der</strong> Entlassungstag war. Und<br />

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dann wurde ich dort rausgeholt. Kurz, kurz nach dem Wecken. Und ich hatte nur, nur<br />

meine Arrest-, also diese Arbeitskleidung anzuziehen <strong>und</strong> das war ganz merkwürdig.<br />

Ich durfte den Kübel nicht mehr benutzen. Das war gleich beim Aufschluss <strong>der</strong> Befehl<br />

„Ordnung herstellen“, also Bettwäsche raus <strong>und</strong>, <strong>und</strong>, <strong>und</strong>. Also was heißt<br />

Bettwäsche. Waren ja zwei dünne Wolldecken. Mehr hatte man ja nicht. Keine<br />

Matratze <strong>und</strong> kein Bettzeug, also Laken o<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> so was. Kopfkissen sowieso nicht.<br />

Und da hatte ich Ordnung herzustellen, also die Pritsche hoch zu stellen, den<br />

Holzhocker in die Mitte. Wie gesagt, mich anzuziehen. Und dann wurde ich raus<br />

geführt, zum Waschraum gebracht, dass ich mich waschen kann. Ich durfte auf, auf<br />

dieses Wasserklosett, nebenan war dieser WC-Raum. Und dann wurde ich zur<br />

Klei<strong>der</strong>kammer geführt, so wie am ersten Tag. Da habe ich die Klei<strong>der</strong>kammer das<br />

zweite Mal gesehen.<br />

Und dann bekam ich meine Privatkleidung, die hatte ich anzuziehen. Und dann<br />

wurde ich in so eine Art Besucherraum geführt, wo da wirklich zwei Tische standen,<br />

ganz normal gepolsterte Stühle <strong>und</strong> da hatte ich zu warten. Und dann wurde noch<br />

ein Mädchen reingeführt, was am selben Tag entlassen wurde, <strong>und</strong> noch ein Junge<br />

aus <strong>der</strong> zweiten Jungengruppe. Die hatten auch schon alle so ihre Privatkleidung.<br />

Und es dauerte gar nicht lange, vielleicht eine viertel, halbe St<strong>und</strong>e später, stand<br />

genau <strong>der</strong>, <strong>der</strong> mich nach Torgau gebracht hat, nämlich <strong>der</strong> stellvertretende Direktor<br />

meines Jugendwerkhofes mit seinem Dienst-Pkw wie<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Gefängnisschleuse.<br />

Und dann hat er uns raus gebeten in die Schleuse. Wir sind raus. Da wurden wir<br />

dann nicht mehr gedrängelt <strong>und</strong> geschubst. Da wurden wir dann nicht mehr<br />

angebrüllt. Und dann hatten wir im Auto Platz zu nehmen. Und dann ist <strong>der</strong> mit uns<br />

losgefahren. Das war die Entlassung. Kurz <strong>und</strong> schmerzlos, die Gefängnisschleuse<br />

geht wie<strong>der</strong> auf <strong>und</strong> fährt raus mit uns. Dann ist ja schon Ende Mai <strong>und</strong> ja <strong>der</strong><br />

Frühling im vollen Gange <strong>und</strong> auf dem Rücktransport, das war ein großer<br />

Unterschied. Da hat er eine Pause mit uns gemacht, angehalten, hat uns Zigaretten<br />

angeboten. Das erste in meiner Freizeit.. in meiner Freiheit, was ich gemacht habe,<br />

das war rauchen. Das war in Torgau total verboten. (02:09:14-6)<br />

…<br />

(…) Das muss <strong>der</strong> stellvertretende Direktor gewesen sein, <strong>der</strong> mir das [die<br />

Schweigepflichterklärung] hingelegt hat. Und ich habe es einfach nicht<br />

unterschrieben, ohne irgendwas zu sagen. Auch keine Protesthaltung. Nichts.<br />

Son<strong>der</strong>n ich habe einfach dagesessen o<strong>der</strong> dagestanden, weiß ich nicht mehr, <strong>und</strong><br />

vor mir auf dem Tisch lagen eben ein Kugelschreiber <strong>und</strong> diese<br />

Schweigeverpflichtung. Ja püh ich habe nicht unterschrieben. Und dann kam ja<br />

schon relativ schnell dieser stellvertretende Direktor von Freital, <strong>und</strong> dann bin ich<br />

einfach mit rausgegangen. Fertig. Ich habe nicht unterschrieben. (02:10:00-1)<br />

…<br />

SL: Ja man wurde mit dieser Schweigeverpflichtung aufgefor<strong>der</strong>t, nach dem Moment<br />

<strong>der</strong> Entlassung, wo man das Gelände verlässt o<strong>der</strong> wegtransportiert wird, nie wie<strong>der</strong><br />

in seinem Leben über sämtliche Vorkommnisse, die in dieser Einrichtung o<strong>der</strong><br />

Abläufe <strong>und</strong> vor allem nicht über die Sicherheitsvorkehrungen dieser Einrichtung,<br />

dass darüber nicht gesprochen wird. Dass man nichts erzählen darf. Also die meisten<br />

sind ja noch nicht volljährig bei <strong>der</strong> Entlassung gewesen. Und die haben ja dann<br />

noch eineinhalb o<strong>der</strong> zwei Jahre o<strong>der</strong> wenigstens ein paar Monate noch im offenen<br />

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Werkhof o<strong>der</strong> Spezialheimen verleben müssen, verbringen müssen. Die durften nicht<br />

über ihre Erlebnisse o<strong>der</strong> .. ja Vorkehrungen, Sicherheitsvorkehrungen vor allem des<br />

geschlossenen Jugendwerkhofes Torgau berichten. Also nicht mit ihren Fre<strong>und</strong>en,<br />

den an<strong>der</strong>en Insassen darüber reden. Sie durften mit den Erziehern <strong>der</strong> offenen<br />

Einrichtungen darüber nicht reden. Mit ihren Familienangehörigen, mit denen sie<br />

vielleicht Briefkontakt hatten. Da durften sie nicht darüber sprechen o<strong>der</strong> schreiben.<br />

Keinem. Und selbst wer aus <strong>der</strong> Heimerziehung komplett entlassen wurde, so wie ich<br />

mit 18. Es war dir strengstens verboten über diese Einrichtung Jugendwerkhof<br />

Torgau in <strong>der</strong> Öffentlichkeit zu reden. Das gab ja einen politischen Straftatbestand<br />

dafür. Das ist <strong>der</strong> Paragraph 220, öffentliche Herabwürdigung von staatlichen<br />

Einrichtungen <strong>und</strong> Institutionen. Und wegen diesem Schwachmaten-Paragraphen<br />

stand ich ja schon mal mit 16 vor Gericht, als ich über die Haftumstände im<br />

Jugendstrafvollzug, im offenen Jugendwohnheim, berichtet hatte. Und ich hatte<br />

überhaupt gar keinen, keinen Bedarf in <strong>der</strong> DDR noch jemals irgendwas zu erzählen,<br />

was ich erlebt hatte. … Das war meine Entlassung. Dann kam ich nach, nach Freital,<br />

also ich wurde dort hingebracht <strong>und</strong> wurde dort empfangen von meinem<br />

Gruppenerzieher. „Hallo Stefan“, <strong>und</strong> „wie geht’s dir denn?“ Wie? Ich dachte ich bin<br />

wie im falschen Film. Fre<strong>und</strong>lich, entspannt. „Ja <strong>und</strong> jetzt ist doch wie<strong>der</strong> alles gut<br />

<strong>und</strong> jetzt versuch das mal zu vergessen, was du jetzt, also war ja eine harte Zeit, die<br />

du jetzt gerade hinter dich gebracht hast. Versuch das mal zu vergessen. Ist am<br />

besten so. Hier hast du zwanzig Mark <strong>und</strong> da gehst du heute Abend schön unten da<br />

in die Stadt <strong>und</strong> da, die Kneipe heißt so <strong>und</strong> so <strong>und</strong> da kannst du noch schön essen.<br />

Und da trinkst du mal ein Bierchen <strong>und</strong> so <strong>und</strong> erholst dich ein bisschen.“ Na ja <strong>und</strong><br />

dann, das war so ein, das war dann wirklich meine letzte Nacht im offenen<br />

Jugendwerkhof. Am nächsten Tag wurde ich ja komplett entlassen <strong>und</strong> dann mit Zug<br />

nach <strong>Haus</strong>e ge.. also zu meiner Mutter gefahren nach Berlin. Aber das war <strong>der</strong> letzte<br />

Akt von Wi<strong>der</strong>stand, den ich dort gemacht habe. Ich bin nicht in die Kneipe<br />

gegangen. Ich habe mich dort nicht volllaufen lassen o<strong>der</strong> ein schönes Schnitzel<br />

o<strong>der</strong> sonst was gegessen. Ich bin wirklich nur aus dem Werkhof raus, ein paar<br />

hun<strong>der</strong>t Meter weiter. Da war ein, ein ja Dorfkonsum. Da habe ich ein paar Flaschen<br />

Bier gekauft, zwei, drei Schachteln Zigaretten <strong>und</strong> dann bin ich zurückgegangen in<br />

den Werkhof <strong>und</strong> meine Gruppe hatte frei. Und dann habe ich etwas gemacht, was<br />

eigentlich total verboten war. Ich habe meinen Kumpels aus meiner Gruppe im<br />

offenen Jugendwerkhof Freital alles erzählt. Alles, von den Einzelarrestzellen, von<br />

dem Essensentzug, von dem Strafsport, von den Gummiknüppeln <strong>und</strong> Handschellen<br />

<strong>und</strong> hast du nicht gesehen. Ich habe alles erzählt. Die halbe Nacht, bis wir<br />

irgendwann total erschöpft eingeschlafen sind. Die mussten ja zur Frühschicht raus.<br />

Als ich früh aufgewacht bin, da war es schon um acht o<strong>der</strong> so. Da waren die schon<br />

längst auf Arbeit. Die halbe Nacht habe ich mit denen gequatscht, <strong>und</strong> um<br />

Mitternacht, wir hatten ja in offenen Einrichtungen, hatten wir ja eine Uhr, wir wussten<br />

wann Mitternacht ist. Und da hatte ich ja 18. Geburtstag. Da haben wir mit Bier<br />

angestoßen. Wir haben nachts im Schlafraum da gequalmt, dass das dort nur so<br />

rauchte. Ja das war die … die letzte Nacht dort. Das war <strong>der</strong> letzte provokative Akt<br />

von Stefan <strong>Lauter</strong> in <strong>der</strong> Heimerziehung. Und dann bin ich wirklich nächsten Tag nur<br />

noch in die Verwaltung, habe meinen Ausweis abgeholt <strong>und</strong>, <strong>und</strong> mein<br />

Sozialversicherungsausweis, den man ja damals hatte, wenn man zum Arzt musste<br />

<strong>und</strong>, <strong>und</strong>, <strong>und</strong>. Bekam auch ein Handgeld, das an<strong>der</strong>e Geld, was auf meinem<br />

sogenannten Konto war, das wurde mir ein, zwei Wochen später überwiesen. Ja <strong>und</strong><br />

dann hat man mich zum Bahnhof gefahren, ich bekam die Fahrkarte in die Hand<br />

gedrückt <strong>und</strong> dann bin ich in den Zug gestiegen nach Dresden. Von Dresden nach<br />

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Berlin <strong>und</strong> bin dann schnurstracks zu meiner Mutter gefahren. Und die war alleine zu<br />

<strong>Haus</strong>e. Es war mein 18. Geburtstag. Meine Schwester ist nicht da, mein Bru<strong>der</strong> ist<br />

nicht da, meine Fre<strong>und</strong>e sind nicht eingeladen. Sie sind ja auch mal 18 geworden,<br />

ne? Das ist schon irgendwie ein ganz, ganz beson<strong>der</strong>er Geburtstag. Ja <strong>und</strong> da sitzt<br />

meine Mutter alleine in diesem Einfamilienhaus da am Wohnzimmertisch, stellt eine<br />

Flasche Rotkäppchensekt hin <strong>und</strong> zwei Gläser <strong>und</strong> sagt: „Stefan, jetzt feiern wir mal<br />

schön.“ Nein, nicht mit mir. Dann habe ich mir noch vorgenommen, ihr zu erzählen,<br />

was mir gerade passiert ist. Also im Jugendwerkhof Torgau vor allem. Meine...meine<br />

Mutter hat, ach ich kam noch nicht mal drei Sätze weit, „Hör auf zu lügen Stefan, du<br />

hattest als Kind schon eine blühende Phantasie.“ Und das war die zweite verbale<br />

Ohrfeige von meiner Mutter. Heute weiß sie es besser. Ich habe sie nach <strong>der</strong><br />

Wi<strong>der</strong>vereinigung Deutschlands, ich glaube '93 o<strong>der</strong> '94, zum Besuch <strong>der</strong><br />

Gedenkstätte mal mit nach Torgau genommen. Ich habe ihr das gezeigt. Damals war<br />

es noch keine Gedenkstätte. Da war, also bis auf wenige Verän<strong>der</strong>ungen, war dieser<br />

Knast noch fast zu hun<strong>der</strong>t Prozent erhalten. Also bis auf ein paar Beschädigungen,<br />

dass die Erzieher schon die Gitter entfernen lassen haben <strong>und</strong> so. Die lagen da alle<br />

abgeflext auf dem Hof. Meine Mutter hat diesen Haft...also diese Haftanstalt noch<br />

von innen sehen können. Im fast Originalzustand. Da hat sie endlich begriffen, was<br />

eigentlich passiert ist. Ich habe sie auch irgendwann mal meine Son<strong>der</strong>akte lesen<br />

lassen. Das war 1998 während meiner strafrechtlichen Rehabilitierung vorm<br />

Landgericht. Da bekam ich dann auch meine Unterlagen in Kopie ausgehändigt. Und<br />

dann habe ich das meiner Mutter alles zu lesen gegeben. Ja <strong>und</strong> wie gesagt, 1985<br />

am Tag meines 18. Geburtstages, wo ich zu meiner Mutter komme <strong>und</strong> ihr davon<br />

erzähle, glaubt sie ihrem Kind nicht. Dann bin ich einfach aufgestanden, hab den<br />

Mietvertrag <strong>und</strong> den Arbeitsvertrag genommen, die Wohnungsschlüssel, <strong>und</strong> habe<br />

das <strong>Haus</strong> meiner Mutter verlassen. Ich hatte ja ein paar Ostmark Taschengeld in <strong>der</strong><br />

Hosentasche, bin zu meiner Wohnung gefahren, habe da aufgeschlossen <strong>und</strong> habe<br />

meine Privatklamotten bloß hingeschmissen <strong>und</strong> ja, dann bin ich in die nächste<br />

Kneipe. Damals hat das Bier, <strong>der</strong> halbe Liter, in Ostberlin 49 Blechpfennige gekostet.<br />

Und ich glaube, ich hatte zwanzig o<strong>der</strong> fünf<strong>und</strong>zwanzig Mark einstecken. Das war es.<br />

(02:17:08-8)<br />

Das war meine Entlassung, 18. Geburtstag, total lustig. (02:17:16-9)<br />

…<br />

5. Spätfolgen, Verantwortung <strong>und</strong> Rehabilitierung: „Nie wie<strong>der</strong> richtig Fuß<br />

gefasst.“<br />

SL: Also in meinem Fall ist das recht massiv. Ist natürlich von Betroffenen zu<br />

Betroffenen auch individuell unterschiedlich. Also so wie wir alle als Menschen<br />

unterschiedlich sind. Bei mir ist es so, dass ich heute zu fünfzig Prozent<br />

schwerbehin<strong>der</strong>t bin. Das aus mehrfachen Gründen. Also ich habe eine chronische<br />

Darmerkrankung. Ich leide unter sogenannten posttraumatischen<br />

Belastungsstörungen, was <strong>der</strong> Regelfall ist von uns ehemaligen Insassen. Ich habe<br />

zwei kaputte Knie. (…) Ja also pff … da gibt es, gibt es eine ganze Bandbreite von,<br />

von Spätfolgen. Eine <strong>der</strong> häufigsten, in meinem Fall konnte ich das ausgleichen, zur<br />

Wendezeit schon, Gott sei dank. Die meisten haben natürlich berufliche<br />

Schwierigkeiten. Und das hat was mit <strong>der</strong> Verweigerung von Ausbildung o<strong>der</strong><br />

überhaupt Bildung in den Heimeinrichtungen <strong>der</strong> DDR zu tun. Ich habe ja schon<br />

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erwähnt, dass <strong>der</strong> Regelfall <strong>der</strong> Schulausbildung die achte Klasse war. Damit konnte<br />

man nur eine Teilfacharbeiterausbildung machen, sprich eine Anlerntätigkeit. Im<br />

Endeffekt bin ich dann heute im wie<strong>der</strong>vereinigten Deutschland nur in <strong>der</strong> Lage<br />

Anlerntätigkeiten, also Hilfsarbeiter zu sein o<strong>der</strong> – ja, solche Arbeiten auszuführen.<br />

Das hat Auswirkungen im sozialen Bereich, also sprich man verdient ja da auch nicht<br />

wahnsinnig gut. Na <strong>und</strong> dann ist man ja schon wie<strong>der</strong> ausgegrenzt <strong>und</strong><br />

ausgeschlossen. Und den wenigsten ist es wirklich gelungen, so wie in meinem Fall,<br />

dass man sich noch mal wirklich zusammen gerissen hat o<strong>der</strong> die Möglichkeit<br />

bekommen hat, überhaupt noch mal einen richtigen Schulabschluss zu machen o<strong>der</strong><br />

eine richtige Facharbeiterausbildung, um auch sein Leben selbst finanziell zu<br />

meistern. Mit dem Finanziellen kommt ja eine ganze Menge sozialer .. ja<br />

Klad<strong>der</strong>adatsch hinten dran, ne? Und wie gesagt, jedes Jahr ist Ehemaligentreffen<br />

<strong>und</strong> man trifft immer wie<strong>der</strong> Neue. Ist ganz merkwürdig. Ehemalige Insassen. Was<br />

heißt merkwürdig, ist ja logisch bei über viertausend. Und manch einer fährt da halt<br />

nicht jedes Jahr hin, son<strong>der</strong>n einmal, <strong>und</strong> dann reicht es ihm für das ganze Leben<br />

wie<strong>der</strong>. Und da hört man das recht oft, frühberentet, teilberentet, Bor<strong>der</strong>line,<br />

posttraumatische Belastungsstörungen, kaputte Knie, kaputter Rücken, an<strong>der</strong>e<br />

Geschichten. Immer wie<strong>der</strong> das Gleiche. Und nie wie<strong>der</strong> richtig Fuß gefasst, also im<br />

Beruflichen nicht. Und dadurch sind halt auch private Bindungen,<br />

Lebenspartnerschaften, Ehen auseinan<strong>der</strong> gegangen, kaputt gegangen. Das sind für<br />

mich recht dramatische Folgen. (02:22:03-0) Pause<br />

SL: Es hätte die Möglichkeit gegeben, einige sind recht früh nach <strong>der</strong><br />

Wie<strong>der</strong>vereinigung verstorben. Ja, Ironie <strong>der</strong> Geschichte. In dem Augenblick, als ich<br />

in <strong>der</strong> Nacht vom 9. zum, zum 10. De... äh November 1989 über die Brücke im<br />

Prenzlauer Berg laufe, <strong>der</strong> erste geöffnete Grenzübergang innerhalb Deutschlands,<br />

um nach Westberlin zu gelangen, da ist Horst Kretzschmar im Krankenhaus von<br />

Torgau gestorben. Offiziell an Krebs <strong>und</strong> einer schweren Diabetes <strong>und</strong> so weiter.<br />

Schwer krank war er. Das war schon zu meiner Zeit 1985. Wie gesagt, die Berliner<br />

Mauer fällt, Deutschland feiert, Horst Kretzschmar stirbt. Ist die, ja die eine<br />

Geschichte, warum ehemalige Täter halt nicht zur Verantwortung gezogen wurden.<br />

Weil sie halt verstorben sind. Die Hauptverantwortliche für die Heimerziehung in <strong>der</strong><br />

DDR, insbeson<strong>der</strong>e natürlich auch die Spezialkin<strong>der</strong>heime <strong>und</strong> die Jugendwerkhöfe<br />

bis hin zu Torgau, ist ja die Volksverblödungsministerin Margot Honecker gewesen,<br />

die Frau von Erich Honecker. Die hat sich durch Flucht ihrer Verantwortung<br />

entzogen. Ist ja 1991 nach Moskau abgehauen mit ihrem Mann <strong>und</strong> dann 1992 direkt<br />

nach Santiago de Chile. Die war für die deutsche Justiz nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung<br />

schlicht <strong>und</strong> ergreifend nicht mehr erreichbar, nicht mehr greifbar. Ich weiß, dass<br />

mehrere B<strong>und</strong>estagsabgeordnete, dann <strong>der</strong> SPD, Strafanzeige gegen Frau<br />

Honecker gestellt haben. Und auch ich habe, für meine Wenigkeit, Strafanzeige<br />

gegen Frau Honecker gestellt. Und gegen den Anstaltsarzt <strong>und</strong> gegen die Erzieher,<br />

die mir namentlich bekannt waren, <strong>und</strong> den Direktor, weil ich das 1993 noch nicht<br />

wusste, dass <strong>der</strong> schon tot ist. Und dann wurde durch die ZERV [Zentrale<br />

Ermittlungsstelle Regierungs- <strong>und</strong> Vereinigungskriminalität] eine Zeitlang, das ist eine<br />

spezielle Kriminalpolizei in Berlin gewesen, die dann für die<br />

Wie<strong>der</strong>vereinigungskriminalität <strong>und</strong> Regierungskriminalität in <strong>der</strong> DDR zuständig war.<br />

Da ist dann anfänglich noch ein bisschen ermittelt worden. Die Ermittlungsverfahren<br />

sind allesamt eingestellt worden. Bei Frau Honecker ist die Begründung, sie ist nicht<br />

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mehr greifbar, <strong>und</strong> bei den Erziehern <strong>und</strong> dem Anstaltsarzt war die<br />

Einstellungsbegründung mangelndes öffentliches Interesse. Wie gesagt, 1993<br />

mangelndes öffentliches Interesse an einer Strafverfolgung. Und <strong>der</strong> Zeitraum<br />

zwischen den angezeigten Straftaten, also Freiheitsberaubung, Körperverletzung,<br />

Nötigung <strong>und</strong> so weiter, Bedrohung, das waren die, die Straftaten, die ich angezeigt<br />

hatte. Der Zeitraum, wo das stattgef<strong>und</strong>en haben soll, 1985 bis 1993, wo die<br />

Ermittlungen jetzt sein sollen, <strong>der</strong> wäre einfach schon zu lang. Also da besteht kein<br />

Zusammenhang mehr zwischen dieser Straftat <strong>und</strong>, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Bestrafung dann<br />

möglicherweise <strong>der</strong> ehemaligen Täter. Fand ich schon ziemlich zynisch diese<br />

Einstellungsbegründung. Der Eberhardt Mannschatz, <strong>der</strong> als persönlicher Referent<br />

von Frau Honecker im Volksbildungsministerium gearbeitet hat, für den Sektor<br />

Heimerziehung bis 1978, <strong>der</strong> ist auch nicht belangt worden. Der ist ja <strong>der</strong> Initiator<br />

zusammen mit an<strong>der</strong>en Direktoren von Spezialkin<strong>der</strong>heimen <strong>und</strong> Jugendwerkhöfen<br />

gewesen. Der 1963 schon die Idee hatte, eben diesen Jugendwerkhof einzurichten.<br />

Der ist bis heute nicht belangt worden. Der lebt noch hochbetagt hier in Berlin. War<br />

auch bis vor wenigen Jahren maßgeblich beim, bei <strong>der</strong> Arbeitsgruppe für<br />

Bildungspolitik, halten sie sich fest, bei <strong>der</strong> PDS im B<strong>und</strong>esvorstand tätig.<br />

Ehrenamtlich. Und hat dort maßgeblich die Bildungspolitik dieser, dieser heute nennt<br />

sie sich ja ‚Die Linke‘. Dieser ehemaligen SED eben mitgestaltet. Der ist auch nicht<br />

belangt worden. Bis heute sind mir namentlich zwei Erzieher bekannt, die zu ganz,<br />

ganz gering Geldstrafen verurteilt wurden, weil sie so blöd waren <strong>und</strong> in den<br />

Son<strong>der</strong>akten, die für uns Insassen ange..gelegt wurden, Körperverletzung<br />

dokumentiert haben. Also persönliche Übergriffe, wo sie sich gegenüber diesem<br />

Direktor haben rechtfertigen müssen, warum dort also Verletzungen vorgelegen<br />

haben. Wie gesagt ganz, ganz geringe Geldstrafen. Ansonsten ist nicht ein einziger<br />

bis heute, belangt o<strong>der</strong> bestraft worden. Also von den Erziehern <strong>und</strong> Direktoren <strong>der</strong><br />

sogenannten offenen Jugendwerkhöfe o<strong>der</strong> Spezialkin<strong>der</strong>heime, sowieso gar keiner.<br />

Und von den Durchgangsheimen auch keiner. Und vom geschlossenen<br />

Jugendwerkhof Torgau, waren es zwei in, in wirklich ganz, ganz individuellen Fällen.<br />

Und was richtig schlimm ist für die ehemals Betroffenen, was ich auch persönlich,<br />

also <strong>der</strong> damaligen B<strong>und</strong>esregierung <strong>und</strong> den dem Abgeordneten im deutschen<br />

B<strong>und</strong>estag sehr, sehr, sehr übel nehme, ist die Generalamnestie für Vergehen <strong>und</strong><br />

Verbrechen, die man in <strong>der</strong> DDR begangen hat bis zum Stichtag 03. Oktober 1990.<br />

Ist halt 1995 per Beschluss im deutschen B<strong>und</strong>estag parteiübergreifend, wirklich<br />

parteiübergreifend, da haben sich nur wenige Abgeordnete von den Grünen,<br />

teilweise von <strong>der</strong> CDU <strong>und</strong> <strong>der</strong> FDP enthalten. Ansonsten ist das eine<br />

parteiübergreifend einstimmige Meinung gewesen, Abstimmungsverhalten. Sämtliche<br />

Verbrechen, die in <strong>der</strong> DDR begangen wurden, egal von wem, zu amnestieren,<br />

straffrei zu stellen bis auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen<br />

aus dem zweiten Weltkrieg <strong>und</strong> Mord <strong>und</strong> ähnlich schwere Straftaten.(…) Also ist<br />

äußerst unbefriedigend für ehemalige Opfer. Also zumindest von solch schweren<br />

Verbrechen, wie sie im geschlossenen Werkhof Torgau stattgef<strong>und</strong>en haben. (…)<br />

…<br />

Ich habe 1996 den Antrag beim Landgericht Berlin gestellt. Erst mal völlig formlos,<br />

auf strafrechtliche Rehabilitierung nach dem SED-Unrechtbehandlungsgesetz. Und<br />

dieser Antrag ist erst mal abgelehnt worden. Und die Begründung war, dass ich ja<br />

kein politisches Strafrechtsurteil habe, son<strong>der</strong>n in meinem Fall eine Einrichtung o<strong>der</strong><br />

mehrere Einrichtungen <strong>der</strong> Jugendhilfe, <strong>der</strong> Volksbildung <strong>der</strong> DDR. Und damit<br />

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unterliege ich nicht den Bestimmungen des SED-Unrechtbereinigungsgesetzes. Dort<br />

sind zu dem Zeitpunkt meistens nur Fälle behandelt worden, bearbeitet worden, die<br />

meinetwegen im MfS- o<strong>der</strong> MdI-Untersuchungshaft waren [MfS: Ministerium für<br />

Staatssicherheit, kurz: Stasi; MdI: Ministerium des Inneren] <strong>und</strong> später im<br />

Strafvollzug. Die, die nach politischen Strafrechtsparagraphen verurteilt wurden in<br />

<strong>der</strong> DDR. Die also einen richterlichen Beschluss hatten. Und dann konnte das<br />

Landgericht Berlin o<strong>der</strong> wer auch immer zuständig war im Wie<strong>der</strong>vereinigten<br />

Deutschland sich das Urteil schnappen, die Anklageschriften, <strong>und</strong> sagen, ja das war<br />

politisch motiviert, deine Haftunterbringung für die Zeit. Mindestens diese Zeit wirst<br />

du rehabilitiert, dieses Urteil aufgehoben, trallala. Und das war für uns, ehemalige<br />

Jugendwerkhöfler o<strong>der</strong> auch Insassen von Spezialheimen <strong>der</strong> DDR eben nicht so<br />

vorgesehen. Und da konnte man im Einzelfall, da gab es ja noch eine<br />

verwaltungsrechtliche Opferschiene in diesem SED-Unrechtbehandlungsgesetz. Da<br />

musste man im Einzelfall nachweisen, dass die Unterbringung in einer Einrichtung<br />

<strong>der</strong> Jugendhilfe <strong>der</strong> DDR wirklich <strong>der</strong> politischen Verfolgung gedient hat. Und was bin<br />

ich heute froh, dass die ehemaligen Täter im Jugendwerkhof Torgau preußisch<br />

pedantisch alles aufgeschrieben haben. Und in meinem Fall steht in meiner<br />

Son<strong>der</strong>akte eben recht umfangreich drin, spätestens im Entlassungsbericht, dass<br />

meine feindlich negative Haltung zur DDR, zur Parteiführung <strong>der</strong> SED nach wie vor<br />

besteht. Da stehen unter, unter den Einweisungsgründen Zitate von mir drin, die ich<br />

schon als Schüler gemacht habe. Ich weiß gar nicht, wo sie diese, diese Zitate alle<br />

her hatten. O<strong>der</strong> aus meiner Zeit im Jugendwerkhof Freital zum Beispiel: „Im Westen<br />

die Freiheit, im Osten das Brot.“ Das habe ich recht häufig gesagt, tatsächlich. Aber<br />

eben schon in meiner Schulzeit. Also muss ja die Schule dann irgendwie weiter an<br />

das Jugendamt gemeldet haben <strong>und</strong> die haben das je<strong>der</strong> Einrichtung weiter<br />

gemeldet. Also in meinem Fall war es relativ einfach nachzuweisen, dass meine<br />

Unterbringung in den Heimeinrichtungen in <strong>der</strong> DDR tatsächlich politischer<br />

Verfolgung gedient hat. Und damit bin ich 1998 vom Landgericht dann auch<br />

rehabilitiert worden. Seit 2004 gibt es die Möglichkeit, ausschließlich für die Insassen<br />

des geschlossenen Jugendwerkhofes Torgau, auf Antrag, Einzelantrag, eine<br />

Rehabilitierung zu erreichen. Man muss nicht mehr nachweisen, ob man dort aus<br />

politischen Gründen eingebuchtet wurde o<strong>der</strong> aus pädagogischen Gründen o<strong>der</strong> wie<br />

auch immer. (02:31:51-5)<br />

Ja. Für die normalen Heimkin<strong>der</strong> <strong>der</strong> DDR ist es recht schwierig. Und da gehen ja die<br />

Schätzungen ziemlich weit auseinan<strong>der</strong>. Zwischen, die niedrigste Zahl, die ich mal<br />

gehört habe, dreihun<strong>der</strong>tfünfzigtausend ehemalige Heimkin<strong>der</strong> <strong>der</strong> DDR seit 1950,<br />

also Staatsgründung '49 bis '89. In vierzig Jahren also dreihun<strong>der</strong>tfünfzigtausend.<br />

Das.. die Schätzungen gehen bis zu circa eine Million. Aber da ist man ziemlich<br />

zerstritten. Das wird noch Jahre brauchen, bis da so halbwegs verlässliche Zahlen<br />

sind. Mittlerweile weiß man aber, dass es ungefähr dreihun<strong>der</strong>tachtzigtausend,<br />

alleine dreihun<strong>der</strong>tachtzigtausend Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche in Spezialkin<strong>der</strong>heimen<br />

<strong>und</strong> Jugendwerkhöfen gegeben hat. Und davon halt über viertausend, die in Torgau<br />

waren, im Geschlossenen. Also die Zahlen sind relativ sicher. Aber es gab ja noch<br />

die Kombinate Son<strong>der</strong>heime, das war für psychisch kranke Kin<strong>der</strong>, die<br />

verhaltensauffällig waren. Vier Einzelheime rings um Ostberlin herum. Dann gab es<br />

die sogenannten Normalkin<strong>der</strong>heime. Dann gab es ja noch diese sogenannten<br />

offenen Jugendwohnheime, wo ich ja auch mal zwei Jahre war. Und noch<br />

Wochenkin<strong>der</strong>heime <strong>und</strong>- die DDR hatte für jede Altersgruppe, für jede Gegebenheit<br />

irgendein Heimchen vorrätig. Also Altersheim, Pflegeheim gab es auch noch. Wer<br />

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Pech hatte, ist von Geburt bis zur, zum Tode nur im Heimen gewesen in <strong>der</strong> DDR.<br />

Wäre möglich gewesen, rein theoretisch. (02:33:25-0)<br />

…<br />

SL: [Am meisten gefehlt hat mir] ein normales ziviles Leben. Meine Fre<strong>und</strong>e, meine,<br />

meine Musik. Sich nicht ständig befehlen lassen, was man zu tun <strong>und</strong> zu lassen hat.<br />

Ich sage dazu immer heute, mir hat meine Freiheit gefehlt. Egal ob ich in einer<br />

vermeintlich offenen Heimeinrichtung gewesen bin o<strong>der</strong> später im Zuchthaus im<br />

geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Mir hat meine Freiheit, meine individuelle<br />

Freiheit gefehlt. Wie kommt denn ein, ein..eine Staatsführung dazu, seinem Volk<br />

vorzuschreiben, was es im TV zu sehen hat o<strong>der</strong> für Musik zu hören hat. Wann es<br />

ein Bier zu trinken hat, für die Fa.. Farbe <strong>der</strong> Haare, also wie gefärbte Haare<br />

vielleicht auszusehen haben. Wie, wie kommt denn eine Staatsführung dazu, also<br />

mal ein einfaches Beispiel. Wenn heute B<strong>und</strong>eskanzlerin Angela Merkel mir<br />

vorschreiben will, wie meine Kleidung auszusehen hat, ob ich Punk o<strong>der</strong> Hip Hop<br />

hören darf. … Also die Frau würde man doch einweisen, heute, in eine geschlossene<br />

Psychiatrie. Aber ein Herr Ulbricht <strong>und</strong> ein Herr Honecker als Staatschef in ihrer Zeit,<br />

in <strong>der</strong> DDR, die haben sich das angemaßt. Die haben sich angemaßt ihrem Volk zu<br />

erzählen, dass sie das Westfernsehen, hat man ja heimlich dann gemacht. Aber dass<br />

man das eigentlich nicht sehen soll, dass es unerwünscht ist. Die haben Jugendliche,<br />

die in <strong>der</strong> Öffentlichkeit als Penner erkannt o<strong>der</strong> definiert wurden, also Langhaarige<br />

mit Nickelbrillen mit einem Shell-Parker <strong>und</strong> die dann Westmusik öffentlich gehört<br />

haben <strong>und</strong> vielleicht mal ein Bierchen getrunken in <strong>der</strong> Öffentlichkeit haben, die hat<br />

man einkassiert, denen hat man die Haare geschnitten, denen hat man den Victory-<br />

Aufnäher von <strong>der</strong> Kutte gerissen <strong>und</strong> die Musikkassette weggenommen. Und im<br />

Zweifelsfall hat man sie ins Jugendarbeitslager o<strong>der</strong> in einen Jugendwerkhof<br />

eingesperrt. Für nichts <strong>und</strong> wie<strong>der</strong> nichts. Das war DDR-Realität. Man hat uns die<br />

individuelle Freiheit weggenommen. (...) (02:35:33-7)<br />

Man hat uns als Menschen, wenn wir uns nicht parteipolitisch o<strong>der</strong> staatskonform<br />

verhalten haben, man hat uns entmündigt. Man hat uns Vorschriften gemacht, nicht<br />

nur machen wollen, son<strong>der</strong>n gemacht, wie wir zu leben haben, als sozialistische<br />

Jugend. Ist übrigens einer aus meiner Sicht, <strong>und</strong> damit stehe ich wahrscheinlich auch<br />

nicht ganz alleine, einer <strong>der</strong> Hauptmerkmale, woran man Diktaturen erkennt. Wie<br />

eine Staatsführung in einem geschlossenen Staatssystem mit ihrer Jugend umgeht.<br />

Das war im Dritten Reich so. Man hat sich die Jugend gegriffen <strong>und</strong> den neuen<br />

Menschen formen wollen. Das ist ja die richtige … ja die richtige Vo..Vo..kabel <strong>der</strong><br />

Naziideologie, den neuen Menschen schaffen. (…)<br />

Und das hat mir als Mensch gefehlt. Frei zu sein. (02:36:43-1)<br />

SL: Die Zeit meiner politischen Verfolgung, das ist auch staatlich anerkannt heute,<br />

ich habe ja auch eine berufsrechtliche Rehabilitierung, weil ich in meiner Ausbildung<br />

während meiner Haftzeit dann behin<strong>der</strong>t wurde. Also während meiner<br />

Jugendwerkhofzeit. Ist ja gegen meinen Willen abgebrochen worden. Und da wurde<br />

auch die … persönliche politische Verfolgungszeit geprüft. Wie lange war denn<br />

tatsächlich die politische Verfolgung für den Einzelnen? Wann endet diese? Und in<br />

meinem Fall endet die nicht mit meiner Entlassung zum 18. Geburtstag aus <strong>der</strong><br />

Heimerziehung. Bis 1989 durfte ich keine Ausbildung machen, stand in meiner<br />

Personalakte drin, bis also mindestens für die Zeit von drei Jahren durfte ich keine<br />

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Ausbildung, keine Weiterbildung machen <strong>und</strong> keine verantwortungsvollen<br />

Tätigkeiten. So haben sie es geschrieben. Man hatte mich zum Hilfsarbeiter<br />

verdonnert. Nach meiner Entlassung da war ich ein freier Mensch eigentlich,<br />

innerhalb des Gefängnisses DDR. Ich hatte mich über ein Jahr bei <strong>der</strong> Abteilung<br />

„Inneres“ zu melden. Das ist die spezielle Abteilung, die sich um die<br />

Ausreiseantragsteller gekümmert hat <strong>und</strong> auch entlassene Strafhäftlinge. Ob aus<br />

politischen Gründen o<strong>der</strong> kriminellen Gründen im Strafvollzug <strong>der</strong> DDR gewesen. Die<br />

mussten sich ja nach ihrer Entlassung in den Rathäusern o<strong>der</strong> wo auch immer, bei<br />

den Abteilungen Innere Angelegenheiten. Und da hatte ich Woche für Woche zu<br />

berichten, was ich in meiner Freizeit mache, wie das mit meinem Job läuft <strong>und</strong> ob<br />

alles in Ordnung ist. Mit wem ich Umgang habe, also wer sind meine Fre<strong>und</strong>e. Ich<br />

wurde über mein Einkaufsverhalten ausgefragt, über mein, mein ja Freizeitverhalten.<br />

Ich wurde sogar gefragt, wie viel Bier ich am Tag trinke. Das hat sich diese, diese<br />

Staatsführung hier in <strong>der</strong> DDR, also damalige DDR, die haben sich das angemaßt<br />

Menschen so zu kontrollieren. Das macht man heute noch nicht einmal mit …<br />

entlassenen Häftlingen aus dem, aus dem Strafvollzug, die schwerste Verbrechen<br />

begangen haben. Aber das macht man mit Jugendwerkhöflern über dreihun<strong>der</strong>to<strong>der</strong><br />

vierhun<strong>der</strong>ttausend. … Nur weil sie Punk gehört haben, nur weil sie lange<br />

Haaren hatten, nur weil sie von zu <strong>Haus</strong>e ständig ausgerissen sind. O<strong>der</strong> was auch<br />

immer <strong>der</strong> Einweisungsgr<strong>und</strong> für einen ehemaligen Insassen in einen Jugendwerkhof<br />

waren. Die hat man nachträglich solange drangsaliert. In meinem Fall politische<br />

Verfolgungszeit vier Jahre. Und nicht nur die knapp 16 Wochen, die ich in Torgau<br />

war. Ich bin relativ häufig auf Veranstaltungen gefragt worden, ab welchem Moment<br />

ich mich wirklich frei gefühlt habe. Und das ist wirklich die Nacht, wo ich über die<br />

böse Brücke laufe, Bornholmer Straße, nach Westberlin. Die Mauer ist gerade<br />

gefallen. Und auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite stehen Son<strong>der</strong>busse <strong>der</strong> BVG. Und da reicht als<br />

Fahrkarte <strong>der</strong> DDR-Ausweis, den man kurz gezeigt hat. Und dann habe ich so einen<br />

Bus bestiegen. Die haben also die Leute, die über die Grenzübergänge gekommen<br />

sind, die das wollten, von den Grenzübergängen direkt zum Breitscheidplatz, zum<br />

Ku‘damm, gefahren. Wo ich damals von <strong>der</strong>, wirklich schon die ganze Nacht schon<br />

durchgefeiert wurde, ich glaube um drei<strong>und</strong>zwanzig Uhr <strong>und</strong> paar Minuten, da ging<br />

dieser Grenzübergang auf. Und ich bin ja früh um sechse erst drüber gelaufen. Da<br />

war die Party am Ku‘damm schon voll am Kochen. Weiß ich gar nicht,<br />

fünfhun<strong>der</strong>ttausend, zwei Millionen – keine Ahnung. Weiß heute kein Mensch mehr,<br />

wie viele da waren. Und diese Busse waren dafür da, dass man die Menschen dort<br />

eben hinfährt. Als <strong>der</strong> Bus voll war, hat <strong>der</strong> Busfahrer die Türen geschlossen, macht<br />

sein Mikrofon an, das kannten wir Ossis doch gar nicht. Ein Bus <strong>der</strong><br />

Verkehrsgesellschaften <strong>und</strong> <strong>der</strong> Busfahrer hat ein Mikrofon <strong>und</strong> wir haben<br />

Lautsprecher über den Köpfen. Der hat bloß einen Satz gesagt. Ich habe<br />

angefangen zu heulen. Willkommen in <strong>der</strong> Freiheit. Da war ich frei. Am 10.<br />

November 1989. Nicht eine Minute früher. (02:40:39-5)<br />

Da habe ich wirklich Rotz <strong>und</strong> Wasser geheult. Der Busfahrer hat übrigens den Motor<br />

noch mal ausgemacht. Ich habe gleich vorne auf <strong>der</strong> ersten Bank gesessen.<br />

Eigentlich war ich guten Mutes <strong>und</strong> gerade über die Grenze, wo ein Tag vorher noch<br />

scharf geschossen wurde. Und ich wusste, meine Schwester ist hier irgendwo in<br />

Westberlin. Ist mir scheißegal, ich finde die. Und dann quatscht <strong>der</strong> diesen Spruch,<br />

willkommen in <strong>der</strong> Freiheit. Na ja, da schossen die Tränen. Da hat <strong>der</strong> den Motor<br />

ausgemacht, ist zu mir gekommen: „Habe ich irgendwas Falsches gesagt? Ist<br />

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irgendwas?“. Ich sagte: „Nein, nein fahren sie mal los. Ich muss zu meiner<br />

Schwester.“ Dann ist er losgefahren. (02:41:18-1)<br />

6. Durchgangsheim Alt-Stralau „Wir haben Händchen gehalten“<br />

SL: Also in meinem Fall war es ja so, dass ich das erste Mal im Durchgangsheim Alt-<br />

Stralau Ende 1982 war. Da war ich mitten im ersten Halbjahr <strong>der</strong> zehnten Klasse. Ich<br />

war also schulpflichtig <strong>und</strong> kam dann, weil meine Mutter mich nicht mehr aufnehmen<br />

wollte zu <strong>Haus</strong>e, noch vor, vor meinem Gerichtsverfahren für drei o<strong>der</strong> vier Wochen<br />

in dieses Durchgangsheim. Ja, ich konnte meine Schule dort drin nicht fortführen. Es<br />

gab keinen Schulunterricht, es gab keinen Schulunterricht, da gab es keinen Lehrer<br />

<strong>und</strong> keine Schulbücher <strong>und</strong> irgendwas. Jungs <strong>und</strong> Mädchen sind getrennt<br />

voneinan<strong>der</strong> aufbewahrt worden. Auf zwei unterschiedlichen Etagen. Und wir<br />

mussten dort arbeiten. Also alle, die 14 Jahre <strong>und</strong> älter waren, die haben dort<br />

tagsüber gearbeitet. Ich kann mich noch genau erinnern im Durchgangsheim Alt-<br />

Stralau, hier in Ostberlin, haben wir Diarahmen zusammen gesteckt. Also es gab mal<br />

eine Zeit auch im, noch vor dem Beamer <strong>und</strong> Filmprojektor o<strong>der</strong> ähnliches, da hat<br />

man Fotos gemacht <strong>und</strong> <strong>der</strong> Fotograf hat daraus Dias angefertigt, die man sich dann<br />

zu <strong>Haus</strong>e mit dem Diaprojektor an die Wand werfen konnte <strong>und</strong> seine Urlaubsfotos<br />

sich angucken konnte. Und die Plastikrahmen, die haben wir im Durchgangsheim als<br />

Kin<strong>der</strong> ohne Arbeitsentgelt, ohne irgendwas im Akkord zusammen gebastelt. Zu 25<br />

Stück waren das glaube ich immer. Und dann wurden die verkauft. Und davon hat<br />

man diese Heime mitfinanziert. Das ist ja wohl ein Witz. Also wir waren zum größten<br />

Teil schulpflichtige Kin<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> zumindest Kin<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Jugendliche, die in <strong>der</strong><br />

Ausbildung schon waren mit 15 o<strong>der</strong> 16 Jahren. Und diese, diese Geschichten<br />

fanden in diesen Durchgangsheimen nie statt. Und wie gesagt, <strong>der</strong> Name sagt es ja<br />

schon, Durchgangsheim, das war ja keine endgültige Heimunterbringung, son<strong>der</strong>n<br />

nur für den Zeitraum, wo das Jugendamt eben die die Zeit brauchte, um einen<br />

Heimplatz, einen regulären Heimplatz zu finden. So lange blieb man dort in diesem<br />

Durchgangsheim. Dann waren natürlich auch Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche da drin, die<br />

schon längst einen Heimplatz hatten, aber aus den offenen Heimeinrichtungen<br />

abgehauen sind. Und in <strong>der</strong> Stadt, wo sie aufgegriffen wurden, was ja recht schnell<br />

war in <strong>der</strong> DDR, bei <strong>der</strong> Polizeidichte <strong>und</strong> so weiter. Man hatte keine Papiere <strong>und</strong><br />

kein Geld. Da ist man recht schnell von <strong>der</strong> Polizei gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> aufgegriffen<br />

worden. Dann kamen wir in dieses Durchgangsheim. Und je nachdem wie schnell da<br />

ein Transport zusammengestellt werden konnte, wurde man in diese feste<br />

Stammeinrichtung wie<strong>der</strong> zurückgeführt. Und in <strong>der</strong> Zeit kein Kontakt zum an<strong>der</strong>en<br />

Geschlecht, kein Lachen, kein Spaß, kein, keine freie Bewegungsmöglichkeit. Nachts<br />

die Schlafräume zugeschlossen, kein Wasserklosett, kein Trinkwasser. Genauso wie<br />

in Torgau. Da steht auch bloß ein Kübel für die Notdurft. Für sechsjährige kleine<br />

Kin<strong>der</strong>, die von zu <strong>Haus</strong>e rausgelöst werden mussten, weil <strong>der</strong> Vater schwerer<br />

Alkoholiker war o<strong>der</strong> überhaupt asoziale Lebensumstände waren,<br />

Kindesmisshandlung o<strong>der</strong> sexueller Missbrauch in <strong>der</strong> Familie stattgef<strong>und</strong>en hat. Aus<br />

ähnlich dramatischen Familiensituationen herausgelöst werden mussten, die heute<br />

auch zu Heimunterbringung führen können. Die kommen vom Regen in die Traufe.<br />

Der Tagesablauf ist auch streng reguliert o<strong>der</strong> vorgegeben. Noch nicht so schlimm,<br />

wie ich es dann später im offenen <strong>und</strong> vor allem im geschlossenen Jugendwerkhof<br />

erlebt habe. Das war schon ein Stück weit entspannter. Die Erzieher haben dort nicht<br />

nur rumgebrüllt <strong>und</strong> sonst irgendwas. Aber für sogenannte Verstöße gegen die<br />

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<strong>Haus</strong>ordnung, für die verbotene Kontaktaufnahme zum an<strong>der</strong>en Geschlecht,.. da gab<br />

es auch Sanktionen. Unter an<strong>der</strong>em Einzelarrest. Im, im Durchgangsheim Alt-<br />

Stralau, wie gesagt für Kin<strong>der</strong> von sechs bis achtzehn Jahren, hatte dieses<br />

Durchgangsheim im Keller zwei Einzelarrestzellen. Und da sind sogar Sechsjährige<br />

in die Einzelarrestzelle im Keller eingesperrt worden. Noch nicht so wie in Torgau<br />

später für zwölf Tage, aber wenn da so ein Sechsjähriger für zehn St<strong>und</strong>en o<strong>der</strong><br />

auch mal über Nacht in eine Kellerzelle eingesperrt wird. Was hinterlässt denn das<br />

für Spuren bitteschön?<br />

Und die Einzelarrestzellen, die sind lange Zeit geleugnet worden. Auch nach <strong>der</strong><br />

Wende noch von ehemaligen Erziehern. So was hat es alles gar nicht gegeben, das<br />

würden sich die ehemals Betroffenen heute alles ausdenken. Wir sind ja sowieso<br />

bloß Lügner. Es gibt Fotos, die man vor ein paar Jahren gef<strong>und</strong>en hat. Und ich<br />

glaube bei "Schlimmer als Knast“ [Dokumentation zu Jugendwerkhöfen <strong>der</strong> DDR], da<br />

kann man das sehen. Die Einzelarrestzellen, mit dem Lüftungsschacht. Und ich<br />

persönlich habe dort mehrere Tage <strong>und</strong> Nächte verbringen müssen. Übrigens<br />

zusammen mit einem Mädchen. Also nicht zusammen in einer Zelle, son<strong>der</strong>n die war<br />

in einer Zelle <strong>und</strong> ich war in <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Zelle. Und <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> war, auf Arbeit haben<br />

wir nebeneinan<strong>der</strong> gesessen, <strong>und</strong> wir haben Händchen gehalten. Irgendwann mal für<br />

ein paar Sek<strong>und</strong>en o<strong>der</strong> so. Und wir haben miteinan<strong>der</strong> geflüstert. Und <strong>der</strong><br />

Arbeitserzieher hat das gesehen <strong>und</strong> an die an<strong>der</strong>en Erzieher gemeldet <strong>und</strong> „boom“<br />

waren wir für verbotene Kontaktaufnahme für mehrere Tage auf Einzelarrest. Ja, <strong>und</strong><br />

was soll ich sagen, über diesen Lüftungsschacht haben wir uns Tag <strong>und</strong> Nacht,<br />

solange wie wir keinen Erzieher gehört haben, konnten wir uns wun<strong>der</strong>bar<br />

unterhalten. Das war Ende November, Anfang Dezember 1982. Und da hat die mir<br />

da tagelang erzählt, dass ihr, also in Einzelhaft, in <strong>der</strong> Einzelzelle da unten im Keller,<br />

dass sie in mich verknallt ist <strong>und</strong> dann hat sie mir Lie<strong>der</strong> vorgesungen, die neusten<br />

Popsongs <strong>und</strong> so. Also ich fand das total lustig. Also genau für das, was man uns<br />

vorgeworfen hatte, was verboten war, das konnten wir dort unten, also St<strong>und</strong>en<br />

haben wir... Und wenn ich das heute Schülern, Schulklassen erzähle, die lachen<br />

auch immer. Hat nur noch <strong>der</strong> Presslufthammer gefehlt, dann hätte ich die Wand<br />

weggekloppt, dann hätten wir da kuscheln können. Das ist Durchgangsheim Alt-<br />

Stralau. Heute ist das eine Gr<strong>und</strong>schule. Seit Jahren schon, ist umgebaut worden.<br />

Weiß nicht mehr genau wann, 1998 o<strong>der</strong> '99 ist das umgebaut worden. Und die<br />

Gitter sind plötzlich weg, die Einzelzellen gibt es sicher nicht mehr im Keller. Und das<br />

gesamte Gebäude ist damals komplett entkernt worden. Ich habe das, als es eine<br />

Baustelle war, mir noch mal anschauen können. Bin da einfach rein gegangen auf<br />

ein Wochenende. Und <strong>der</strong> Charakter des Gebäudes ist total verän<strong>der</strong>t worden. Also<br />

da erkennt man nichts mehr. Aber das war, das war ein richtig kleines Gefängnis. Für<br />

vierzig, fünfzig Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche im Durchschnittsalter sechs bis achtzehn.<br />

Und an<strong>der</strong>e Durchgangsheime, die sollen von den rein baulichen Voraussetzungen<br />

sogar wirklich ein Gefängnis gewesen sein. Bad Freienwalde zum Beispiel ist jetzt<br />

ganz aktuell im Gespräch. Das war ein richtiges ehemaliges Zuchthaus. Und da<br />

haben sie ein Durchgangsheim eingerichtet für Kin<strong>der</strong> von sechs bis achtzehn<br />

Jahren. Und die hatten im Keller da nicht nur zwei Zellen, son<strong>der</strong>n da hatten die<br />

fünfzehn o<strong>der</strong> zwanzig Zellen. Und da waren dann insgesamt nicht nur 40 o<strong>der</strong> 50<br />

Insassen da, son<strong>der</strong>n da waren vielleicht 120. (02:55:50-4)<br />

7. Gewaltfreie Erziehung: „Da hört <strong>der</strong> Spaß auf“<br />

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SL: Also für mich ist das ein Gr<strong>und</strong>satz im, im Bereich <strong>der</strong> Einhaltung <strong>der</strong><br />

allgemeinen Menschenrechte. Das diese Menschenrechte nicht erst ab dem 18.<br />

Geburtstag einem Menschen, wo man ja heute offiziell volljährig wird, zur Verfügung<br />

stehen, son<strong>der</strong>n qua Geburt einem Menschen zur Verfügung stehen. Für mich<br />

gehören die Kin<strong>der</strong>rechte übrigens in die Verfassung aufgenommen. Das ist ja bis<br />

heute nicht umgesetzt. Son<strong>der</strong>n da gibt es ja lediglich, o<strong>der</strong> was heißt lediglich, ist<br />

immerhin, den Artikel 1 Gr<strong>und</strong>gesetz, die Würde des Menschen ist unantastbar. Und<br />

für mich gehört ja diese Sache erweitert, dass das also qua Geburt einem jeden<br />

einzelnen Menschen zusteht. Ja <strong>und</strong> als deutliches Erkennungsmerkmal einer freien<br />

demokratischen Gesellschaft ist für mich eben die Möglichkeit,<br />

Verwaltungsgerichtsbarkeit zu haben <strong>und</strong> zur Verfügung zu haben <strong>und</strong> jegliche<br />

staatliche Maßnahme, irgendeiner Form, ob das die Anweisung einer, einer<br />

Heimunterbringung o<strong>der</strong> sonst was ist, einer Freiheitsentziehung o<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> was<br />

auch immer <strong>der</strong> Staat an Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung hat. Dass man das<br />

hinterfragen kann <strong>und</strong> auch vor Gericht gehen kann <strong>und</strong> solche Entscheidungen in,<br />

in Frage stellt. Und das war in <strong>der</strong> DDR eben nicht so. Für mich ist das ein<br />

gr<strong>und</strong>legen<strong>der</strong> Punkt, die Menschenrechte verwirklicht zu sehen. (02:43:23-5)<br />

…<br />

SL: Das ist also aus, aus meiner Rückerinnerung, hat es [die Gewalterfahrung in <strong>der</strong><br />

Familie] viel mit Vertrauensverlust zu tun. Also ich habe meine Mutter sicherlich mal<br />

als Kind sehr geliebt. Da kann ich mich auch zurückerinnern. Und es gab auch<br />

Phasen, in meiner Kindheit, die ich als halbwegs ja normal o<strong>der</strong> auch sogar glücklich,<br />

also Momente wo ich richtig glücklich war als Kind. Und ja mit jedem Übergriff<br />

meines Stiefvaters vor allem, aber auch teilweise meiner Mutter, die hat ja auch<br />

geprügelt, war immer Vertrauensverlust verb<strong>und</strong>en. Das war für mich das<br />

Allerschlimmste also. Dass ich dann auch, als ich noch nicht Heimkind war, so mit<br />

13, 14, 15 Jahren, mich in meiner Freizeit teilweise auch nicht zu <strong>Haus</strong>e aufgehalten<br />

habe, weil ich mich unwohl gefühlt habe. Das ist Ausdruck dessen, dass ich von<br />

meiner Mutter zum Teil, meistens aber von meinem Stiefvater massiv misshandelt<br />

wurde. Ich habe mich nicht mehr wohl gefühlt zu <strong>Haus</strong>e. Ich hatte kein Vertrauen zu<br />

meiner Mutter <strong>und</strong> meinem Stiefvater. Dann habe ich mich eben lieber mit<br />

Schulfre<strong>und</strong>en o<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en rumgetrieben in Anführungszeichen. Nur um nicht<br />

verprügelt zu werden. (02:48:03-3)<br />

….<br />

Also in meinem persönlichen Fall ist das halt so, dass [die Gewalterfahrungen] zwei<br />

Auswirkungen hatten. Zum einen bin ich ja heut selbst fast 45 Jahre alt, bin Vater von<br />

zwei Kin<strong>der</strong>n. Und ich habe meine Kin<strong>der</strong> nie misshandelt. Ist für mich ein ganz, ganz<br />

wichtiger Gr<strong>und</strong>satz. Dass ich, egal in welche Lebenssituation komme, egal wie<br />

schwierig o<strong>der</strong> nicht schwierig meine Kin<strong>der</strong> sind o<strong>der</strong> ich mich überfor<strong>der</strong>t fühle, ich<br />

lege niemals Hand an meinen Kin<strong>der</strong>n an. Und wenn ich Sprüche höre von, von<br />

an<strong>der</strong>en Menschen, von wegen na ja die Ohrfeige o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Klaps auf den Hintern<br />

das ist ja, das sei ja keine Gewalt. Also das würde nur zur Maßregelung dienen <strong>und</strong><br />

zur guten Erziehung. Dann geht bei mir schon die Hutschnur hoch. Und das wäre für<br />

mich kein, ja das käme für mich absolut nicht in Frage. So was hinzunehmen. Und<br />

Gewalt in <strong>der</strong> Erziehung in staatlicher Obhut schon gar nicht. Also da hört für mich<br />

<strong>der</strong> Spaß absolut auf. Wenn man sich heute das Klientel <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong><br />

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Jugendlichen anschaut, die in staatlicher Obhut, also in Heimeinrichtungen o<strong>der</strong><br />

betreutem Wohnen o<strong>der</strong> was auch immer heute alles möglich ist, untergebracht ist.<br />

Und wenn man sich dann vorstellt, <strong>der</strong> Staat würde dort mit Gewalt erziehen wollen<br />

o<strong>der</strong> einwirken wollen, ja da, da platzt mir ebenfalls die Hutschnur. Und es gibt ja so,<br />

es gab zumindest solche Vorfälle, auch bis weit in die neunziger Jahre. Bin mir auch<br />

recht sicher, dass es auch bis heute solche Fälle gibt. Aber sie sind eben Gott sei<br />

dank nicht mehr <strong>der</strong> Regelfall. Und dass man dagegen heute vorgehen kann. Dass<br />

ein Kind o<strong>der</strong> ein Jugendlicher die Möglichkeit hat, <strong>und</strong> wenn er es heimlich macht an<br />

einen Fernsehsen<strong>der</strong>, so einen Fall gab es doch mal vor zwei, drei Jahren im Land<br />

Brandenburg. Eine Heimeinrichtung, die von irgendeinem karitativen Verband, da<br />

weiß ich jetzt nicht genau wer, geführt wurde. Und da gab es Misshandlungen an den<br />

Insassen durch die Erzieher, durch die Leiterin <strong>und</strong>, <strong>und</strong>, <strong>und</strong>. Und die Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong><br />

Jugendlichen haben sich an den R<strong>und</strong>funk Berlin/Brandenburg an, an eine<br />

Redaktion von Fakt glaube ich gewendet. Haben einen Brief geschrieben <strong>und</strong> haben<br />

das eben geschil<strong>der</strong>t. Und aufgr<strong>und</strong> dieser Meldung <strong>und</strong>, die Sendung hatte dann,<br />

weil die Redaktion hat das aufgenommen <strong>und</strong> hat einen Beitrag in, in ihrem<br />

Fernsehbericht darüber gemacht. Und dann gab es Ermittlungen durch die<br />

Kriminalpolizei <strong>und</strong> durch die Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> den betreffenden Erziehern<br />

wurde das sogar nachgewiesen. Die Kin<strong>der</strong> haben heimlich mit dem Handy, hatten<br />

wir alles nicht zu DDR Zeiten. Da gab es noch keine Handys. Aber diese Kin<strong>der</strong> in<br />

dieser Einrichtung, jetzt im Jahre 2009 war das, die haben eben Videoaufnahmen<br />

gemacht davon, wie die Heimleiterin die Kin<strong>der</strong> körperlich misshandelt hat <strong>und</strong><br />

angebrüllt <strong>und</strong> beleidigt hat <strong>und</strong> bedroht hat. Die Erzieher sind suspendiert,<br />

zumindest suspendiert <strong>und</strong> ich glaube, die sind sogar schon verurteilt, rechtskräftig.<br />

Dass das heute möglich ist. Das ist ganz wichtig.<br />

(02:46:43-1)<br />

…<br />

Es kommt bei solchen Maßnahmen [einer zwangsweisen Heimunterbringung] immer<br />

darauf an, wie die Unterbringungssituation ist. Inwieweit wird psychischer o<strong>der</strong><br />

tatsächlich auch körperlicher Druck o<strong>der</strong> Gewalt ausgeübt. Was beides aus meiner<br />

Sicht völlig unzulässig ist. Welche Möglichkeiten hat <strong>der</strong> betreffende Jugendliche,<br />

das sind ja meist Jugendliche dann in diesem Moment. Welche ja rechtlichen<br />

Möglichkeiten hat man als Insasse sich dagegen zu wehren? Wie können diese<br />

Möglichkeiten wahrgenommen werden? Welche Kontaktmöglichkeiten meinetwegen<br />

zum ehemaligen Elternhaus <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en Bezugspersonen kann man aus eigenem<br />

Antrieb wirklich wahrnehmen, ohne dass man dabei behin<strong>der</strong>t wird? Das sind für<br />

mich dann Unterbringungen, wo ich sage okay. Da gehe ich ein Stück konform. Kann<br />

nicht sein, dass ein Kind o<strong>der</strong> ein Jugendlicher sich zum Beispiel konsequent seiner<br />

Schulausbildung verweigert. Der eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e hat tatsächlich noch nicht<br />

begreifen wollen, dass er das im späteren Leben dringend braucht, um nicht ständig<br />

arbeitslos zu sein o<strong>der</strong> eben sein Leben nicht selbst in den Griff zu kriegen. Natürlich<br />

gibt es Momente, wo man regulierend eingreifen muss. Wenn ich heute ein zwölfo<strong>der</strong><br />

13-jährigen Dauerserienstraftäter habe, dann müssen ihm auch Grenzen<br />

gezeigt werden. Das gibt eine Schmerzgrenze für uns als Gesellschaft, die eben<br />

auch ein Kind nicht zu überschreiten hat. Auch solange, wie es noch nicht<br />

strafmündig ist. Und hier erst recht ein 14-Jähriger, also mit 14 wird man ja<br />

strafmündig, sowieso nicht überschreiten darf, weil dann die Strafgesetze greifen.<br />

Und die Grenze ist halt, wenn so ein Mensch, so ein junger Mensch unsere<br />

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Freiheitsrechte überschreitet. Also es kann nicht sein, dass ein 12-jähriges Mädchen<br />

zusammen mit drei, vier Fre<strong>und</strong>innen, die genauso dämlich drauf sind, weiß ich nicht,<br />

erst Kampftrinken machen <strong>und</strong> dann auf die Straße gehen, auf den Boulevard <strong>und</strong><br />

einer Oma die Handtasche klauen, nur damit sie wie<strong>der</strong> Geld haben, um die nächste<br />

Flasche Wodka zu kaufen. Das muss das Moment geben, die Möglichkeit geben,<br />

Grenzen zu setzen. Diese Grenzen dürfen konsequent sein, die dürfen auch<br />

meinetwegen institutionell sein. Der Spaß hört dann auf, in Anführungszeichen, <strong>der</strong><br />

Spaß hört dann auf, wenn <strong>der</strong> Staat sich <strong>der</strong> gleichen Mittel bedient, wie <strong>der</strong> jeweilige<br />

Jugendliche o<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> das jeweilige Kind angewendet hat. Und das ist Gewalt. Da<br />

hört <strong>der</strong> Spaß einfach auf. Und im Gegensatz zu Anhängern <strong>der</strong> sogenannten<br />

schwarzen Pädagogik, obwohl ich diesen Begriff sowieso schon erst mal von<br />

vornherein nicht mag, Anhänger <strong>der</strong> schwarzen Pädagogik sagen ja immer, dass es<br />

notwendig ist, auch mittels unmittelbaren Zwangs auf Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche<br />

einzuwirken, um eine Verhaltensän<strong>der</strong>ung herbei zu führen, die dauerhaft ist. Und<br />

dass man das also wirklich mit jedem machen muss, den man denkt nicht an<strong>der</strong>s<br />

erreichen zu können. Ich bin <strong>der</strong> Meinung, man sollte auch loslassen können. Also<br />

wie gesagt, ich bin selbst Vater von zwei Kin<strong>der</strong>n. Der Große wird 24 dieses Jahr <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> hatte auch seine schwierige Phase mit 15, 16 Jahren. Der hat auch fast die<br />

Schule zu dem Zeitpunkt geschmissen. Wenn ich mir vorstelle, dass meinetwegen<br />

das Jugendamt gekommen wäre <strong>und</strong> hätte den Jungen von seiner Mutter, also wir<br />

waren schon getrennt seine Mutter <strong>und</strong> ich, dass er aus dem Elternhaus heraus<br />

gelöst wird, nur weil er mal eine Woche nicht zur Schule gegangen ist. Und hätte ins<br />

Heim gemusst <strong>und</strong> wäre dann so ähnlich behandelt worden wie meinetwegen ich.<br />

Das hätte ich nicht ertragen können. Also ich hätte definitiv, also wenn ich das auch<br />

nur gehört hätte, dass <strong>der</strong> in irgendein Heim- ich wäre dahin gefahren <strong>und</strong> hätte den<br />

da raus geholt. Das ist Fakt. Und das geht einfach nicht, es ist gut, dass man Kin<strong>der</strong>n<br />

Grenzen zeigt. Es ist auch gut, wenn man in <strong>der</strong> Erziehung konsequent bleibt.<br />

Konsequenz hat aber nichts mit Gewalt zu tun. We<strong>der</strong> mit körperlicher noch mit<br />

psychischer. (03:07:05-8)<br />

…<br />

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