Transkript S. Lauter (PDF-Download) - Haus der Demokratie und ...
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Interview mit Stefan <strong>Lauter</strong>,<br />
ehemaliger Insasse des Geschlossenen Jugendwerkhofs Torgau.<br />
Beim vorliegenden Text handelt es sich um eine leicht gekürzte Version des<br />
Interviews, das im Mai 2012 im <strong>Haus</strong> <strong>der</strong> <strong>Demokratie</strong> <strong>und</strong> Menschenrechte, Berlin<br />
durchgeführt wurde.<br />
1. Schulzeit in Ostberlin: „Stefan, du bist ein Staatsfeind“ 2<br />
2. Jugendwohnheim <strong>und</strong> Strafvollzug Halle: „(…) auf dem Alex<br />
rumgetrieben`“, “drei Mopeds geklaut“ 5<br />
3. Jugendwerkhof Freital: „Ich habe mich dort total verweigert“ 9<br />
4. Der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau: „Schlimmer als Knast“ 13<br />
4.1. Ankunft: In <strong>der</strong> Regel benötigen wir drei Tage, um die Jugendlichen 14<br />
auf unsere For<strong>der</strong>ungen einzustimmen. (Direktor H. Kretschmar)“<br />
4.2. Einzelarrest: „Man hatte in Richtung Türspion zu schauen“ 17<br />
4.3. Der „normale“ Tagesablauf: „Keine Minute (…) individueller<br />
persönlicher Freiheit“ 19<br />
4.4. Körperliche <strong>und</strong> seelische Ges<strong>und</strong>heit: „… ohne Bef<strong>und</strong>“ 24<br />
4.5. Entlassung: „Am liebsten würde ich dich noch länger hier behalten.<br />
Bei Dir ist das Erziehungsziel nicht erreicht“ 30<br />
5. Spätfolgen, Verantwortung <strong>und</strong> Rehabilitierung: „Nie wie<strong>der</strong> richtig<br />
Fuß gefasst.“ 34<br />
6. Durchgangsheim Alt-Stralau: „Wir haben Händchen gehalten“ 39<br />
7. Gewaltfreie Erziehung: „Für mich ist das ein gr<strong>und</strong>legen<strong>der</strong> Punkt,<br />
die Menschenrechte verwirklicht zu sehen“ 41<br />
www.haus<strong>der</strong>demokratie.de/unverzichtbar 1
1.Schulzeit in Ostberlin: „Stefan, du bist ein Staatsfeind“<br />
Stefan <strong>Lauter</strong>: Ja, ich bin 1973 hier in Berlin-Mitte also im Zentrum <strong>der</strong><br />
Sozialistischen Hauptstadt <strong>der</strong> DDR, also Ostberlin, eingeschult worden <strong>und</strong> bin ganz<br />
normal Jungpionier geworden in <strong>der</strong> ersten Klasse. Wie man das so generell so<br />
wurde. Und ja am Anfang lief das alles ganz, ganz normal. Ich war ein sechsjähriger<br />
aufgeweckter Junge <strong>und</strong> habe mich relativ normal in <strong>der</strong> Schule entwickelt. Ich wurde<br />
dann auch noch in <strong>der</strong> vierten Klasse Thälmann-Pionier, wie das die Regel war. Ja<br />
<strong>und</strong>, bis ich ungefähr zehn, elf Jahre alt wurde verlief halt mein Leben ganz normal,<br />
wie für hun<strong>der</strong>ttausend an<strong>der</strong>e Schulkin<strong>der</strong> o<strong>der</strong> überhaupt Kin<strong>der</strong> in <strong>der</strong> gesamten<br />
DDR. Und als ich elf war, war ein grober Einschnitt. Ich habe einen vier Jahre älteren<br />
Bru<strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> ist damals 15 Jahre alt gewesen. Und ist mit ein paar Kumpels spät<br />
abends angetrunken durch Ostberlin gelaufen. Und sie hatten halt was getrunken,<br />
sie hatten einen Kassettenrecor<strong>der</strong> dabei, wie das damals üblich war. Heute würde<br />
man Ghettoblaster sagen, o<strong>der</strong> so. Und dann haben sie ihre Lieblingsmusik<br />
angehört, die damals halt aktuell war. Hier, weiß ich nicht, Stones, Led Zeppelin <strong>und</strong><br />
Pink Floyd o<strong>der</strong> sonst wen. Und sie waren Fußballfans. Und sie waren Fans von<br />
einem Traditionsclub aus Ostberlin, 1. FC Union Berlin. Und als Unionfans war man<br />
immer so ein bisschen verbrü<strong>der</strong>t mit den Herthafans. Und seit dem Mauerbau 1961<br />
kam er dann nicht mehr nach Westberlin, um sich irgendwelche Devotionalien zu<br />
holen. Also ein Schal o<strong>der</strong> eine Fahne o<strong>der</strong> irgendwas. Und dann haben die Jungs in<br />
ihrem angetrunkenen Zustand vor meiner Schule die DDR-Fahne runter geholt, vom<br />
Fahnenmast. Haben das Emblem, also diesen Hammer-Zirkel-Ehrenkranz<br />
abgetrennt. Dann hatten sie eine B<strong>und</strong>esdeutsche Fahne, <strong>und</strong> in ihrem Suff haben<br />
sie gedacht, damit können sie eben ihre Verb<strong>und</strong>enheit zu dem Westberliner<br />
Fußballclub demonstrieren. Und dann sind sie von <strong>der</strong> Jannowitzbrücke von meiner<br />
Schule bis zum Alex, die an<strong>der</strong>thalb Kilometer gelaufen <strong>und</strong> haben da Hertha-Fan<br />
Sprüche gegrölt. Und die konnten gar nicht so schnell gucken wie sie verhaftet<br />
waren. Sie sind allesamt ins Gefängnis gekommen <strong>und</strong> sind jeweils zu 18 Monaten in<br />
einem Schnellverfahren wegen Zeigen staatsfeindlicher Symbole verurteilt worden.<br />
Und dann bin ich elf Jahre alt, <strong>und</strong> kriege das zwar nicht unmittelbar mit, also ich darf<br />
nicht ins Gericht <strong>und</strong> offiziell durfte ich auch überhaupt gar keine Gerichtspost lesen<br />
o<strong>der</strong> die Korrespondenz zwischen meiner Mutter <strong>und</strong> dem Anwalt. Hab ich heimlich<br />
gemacht. Da habe ich das erste Mal mitgekriegt, wie die DDR, o<strong>der</strong> besser gesagt<br />
die SED, mit unliebsamen <strong>und</strong> unbequemen Bürgern <strong>der</strong> Republik umgegangen ist.<br />
Und das war für mich ein ziemlicher Schock in dem Alter. (00:03:12-5)<br />
Ja, an <strong>der</strong> Schule gab es dann Probleme. Ich hab auch eine an<strong>der</strong>thalb Jahre ältere<br />
Schwester, die mit mir die ganzen Schuljahre zusammen in einer Klasse war. Die ist<br />
später eingeschult worden. Und plötzlich war meine Schwester die Knastschwester<br />
<strong>und</strong> ich war <strong>der</strong> Knastbru<strong>der</strong>. Für meine Mitschüler, aber auch für die Lehrer. Und wir<br />
wurden teilweise auch wirklich richtig so betitelt. Und das war äußerst unangenehm.<br />
Im Wohnumfeld, also sprich in dem Hochhaus, wo wir gewohnt hatten, bekamen<br />
meine Familie, beson<strong>der</strong>s meine Mutter <strong>und</strong> meine Schwester <strong>und</strong> ich, heftige<br />
Probleme mit den Nachbarn. Und so sind dann meine Mutter, mein damaliger<br />
Stiefvater <strong>und</strong> meine Schwester <strong>und</strong> ich an den Stadtrand von Ostberlin umgezogen.<br />
Wir haben uns da ein Gr<strong>und</strong>stück <strong>und</strong> <strong>Haus</strong> gekauft. Und ich wurde umgeschult. Da<br />
war ich siebte Klasse. Und dann verlief das Leben für mich zumindest an <strong>der</strong> Schule<br />
relativ wie<strong>der</strong> in normalen Bahnen. Erst einmal.<br />
www.haus<strong>der</strong>demokratie.de/unverzichtbar 2
Ja, aber Anfang <strong>der</strong> achten Klasse, bin ich 13, hab ich ein Mädchen kennen gelernt<br />
in meiner Freizeit, <strong>und</strong> wir haben uns recht häufig getroffen. Ich war das erste Mal<br />
hochgradig verliebt. Und wir haben eine ganze Menge miteinan<strong>der</strong> gemacht in <strong>der</strong><br />
Freizeit, also manchmal auch <strong>Haus</strong>aufgaben. Und wenn ich mittwochs mit ihr ins<br />
Kino wollte, dann ging das einfach nicht. Da hatte sie nie Zeit. Und das habe ich nicht<br />
verstanden <strong>und</strong> war natürlich auch ein bisschen eifersüchtig. Habe ich gedacht,<br />
vielleicht trifft sie sich da mit jemand an<strong>der</strong>s. Und dann hat sie mir das eines Tages<br />
erklärt. Sie kann deshalb am Mittwochnachmittag nicht, weil sie in die evangelische<br />
junge Gemeinde in Ostberlin geht. Das war in einem an<strong>der</strong>en Stadtteil, in Ostkreuz.<br />
Ja, <strong>und</strong> da hat sie an den Jugendst<strong>und</strong>en teilgenommen bei diesem (Jugendpfarrer)<br />
<strong>und</strong> hat sich auf ihre Konfirmation vorbereitet. Das war für mich eine vollkommen<br />
neue Welt. Kannte ich alles gar nicht. Ich wusste zwar, dass es Kirchen gibt. Also<br />
nicht nur die Gebäude, son<strong>der</strong>n auch als Institution. Aber ich konnte damit nichts<br />
anfangen, weil ich so nicht aufgewachsen bin. Naja <strong>und</strong> weil ich halt so verliebt war,<br />
bin ich dann jeden Mittwoch mitgefahren. Und hab mir das eben angeschaut <strong>und</strong><br />
immer, wenn sie da ihre Gebetskreise gemacht haben, habe ich mich in die Küche<br />
verkrümelt <strong>und</strong> mir einen Tee <strong>und</strong> eine Schmalzstulle gemacht, weil so richtig an Gott<br />
glauben konnte o<strong>der</strong> wollte ich nicht. Aber an die Gesprächsr<strong>und</strong>en hab ich gerne mit<br />
teilgenommen, weil dort auch über tagespolitische Sachen zum Beispiel gesprochen<br />
wurde. Und da muss man sich die Zeit anschauen, wo das statt gef<strong>und</strong>en hat bei mir.<br />
Das war 1980/81/82, also die Zeit kurz nach dem NATO-Doppelbeschluss. Und da<br />
muss man ja kein Prophet sein, über was haben wir denn im Rahmen dieser<br />
evangelischen jungen Gemeinde am meisten gesprochen? Und das war die<br />
Bedrohung, die reale Bedrohung in Mitteleuropa durch atomare<br />
Mittelstreckenraketen. Und wir konnten in dieser evangelischen jungen Gemeinde mit<br />
dem Pfarrer recht offen über dieses Thema reden. Was an den Schulen in <strong>der</strong> DDR<br />
nicht möglich war. (00:06:12-5)<br />
In <strong>der</strong> Schule, gerade im Staatsbürgerk<strong>und</strong>eunterricht, dieses ganz ominöse<br />
politische Fach. Da hat man uns zwar davon erzählt, dass die USA im Rahmen <strong>der</strong><br />
NATO auf dem Gebiet <strong>der</strong> ehemaligen B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland eben diese<br />
Pershing-2-Raketen stationiert hat <strong>und</strong> uns im Osten alle bedroht. Das hat man uns<br />
alles erzählt, aber was man uns in <strong>der</strong> Schule verschwiegen hatte, das war <strong>der</strong><br />
Umstand, dass die rote Armee also sprich <strong>der</strong> Warschauer Pakt einseitig vorgerüstet<br />
hat mit baugleichen Atomraketen. Das waren diese berüchtigten SS-20, später SS-<br />
22. Und da hat <strong>der</strong> Ostblock, also sprich die Sowjetunion die NATO bedroht.<br />
Genauso wie eben umgekehrt. Und darüber konnten wir in <strong>der</strong> evangelisch-jungen<br />
Gemeinde reden, aber nicht in <strong>der</strong> Schule. So <strong>und</strong> mir hat, <strong>und</strong> mir hat sich damals<br />
eigentlich nur noch eine Hauptfrage gestellt. Ich konnte den Unterschied zwischen<br />
den guten <strong>und</strong> den bösen Atomraketen überhaupt gar nicht begreifen. Weil wenn so<br />
ein Ding abgeschossen wird <strong>und</strong> runter kommt, ist es doch vollkommen schnurz, wer<br />
die abgeschossen hat. Wir hier in Mitteleuropa würden einfach danach nicht mehr<br />
leben. Dann habe ich angefangen, in <strong>der</strong> Schule, gerade im<br />
Staatsbürgerk<strong>und</strong>eunterricht, unbequeme Fragen zu stellen. Und dann ging das<br />
richtig los. Und mein Lehrer hat mich vor versammelter Mannschaft<br />
an...angesprochen. Na was heißt angesprochen. Hat mich regelrecht angebrüllt.<br />
Stefan, du bist ein Staatsfeind. Und da bin ich noch nicht mal 14 Jahre alt <strong>und</strong> mein<br />
Lehrer erklärt mich zum Staatsfeind. Und da sind bei mir dann wirklich regelrecht die<br />
Sicherungen durchgeknallt. Ich habe immer mehr Fragen gestellt. Und wir haben die<br />
DDR-Wirklichkeit <strong>und</strong> im Gegenzug zu den Parolen <strong>der</strong> SED, das habe ich<br />
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abgeglichen, als junger Mensch. Und daraus haben sich ganz, ganz viele Fragen<br />
ergeben. Also ich kannte ja die Berliner Mauer. Ich wusste, dass ich zu meiner<br />
Verwandtschaft, meiner Großfamilie nach Hannover niemals werde reisen können,<br />
bevor ich nicht Rentner bin. Und ich habe die verfallenden Häuser hier in Prenzlauer<br />
Berg als junger Mensch gesehen – obwohl ich erst am Alexan<strong>der</strong>platz im<br />
Vorzeigeplattenbau wohnte. Und dann später in so einem schicken Einfamilienhaus.<br />
Ich habe die,.. die .. ja, die Diskrepanzen in <strong>der</strong> Wirklichkeit <strong>der</strong> DDR<br />
wahrgenommen. Endlich wahrgenommen, <strong>und</strong> das schon im Alter von 13, 14, 15<br />
Jahren. Ja, <strong>und</strong> im Endeffekt führte das dazu, dass ich mich Anfang <strong>der</strong> zehnten<br />
Klasse entschlossen hatte, aus <strong>der</strong> FDJ auszutreten, wo ich ja nun schon mittlerweile<br />
Mitglied war. Ist dieser Jugendverband <strong>der</strong> SED gewesen, um das mal zu<br />
verdeutlichen. Und das habe ich nicht still <strong>und</strong> leise gemacht an meiner Schule,<br />
son<strong>der</strong>n ich habe die Abschlussveranstaltung in <strong>der</strong> Schulaula benutzt, wo alle<br />
Schüler da waren, alle Lehrer <strong>der</strong> Schule, die Direktion <strong>und</strong> dann Vertreter <strong>der</strong> FDJ<br />
<strong>und</strong> SED-Kreisleitung. Jemand vom Jugendamt war dabei <strong>und</strong> von <strong>der</strong><br />
Staatssicherheit sogar. Und, da bin ich während ihrer dunkelroten Reden einfach<br />
aufgestanden, bin nach vorne gegangen, hab mein FDJ-Ausweis auf den Tisch<br />
geschmissen <strong>und</strong> habe gesagt: „Die Veranstaltung ist für mich vorbei.“ Und da waren<br />
nicht nur diese Schulveranstaltungen gemeint, son<strong>der</strong>n das wussten die auch, also<br />
meine Lehrer, dass ich jetzt ab sofort nicht mehr Mitglied <strong>der</strong> FDJ bin, dieses<br />
Blauhemd nicht mehr tragen werde, an den Veranstaltungen nicht mehr teilnehme.<br />
Und da gab es richtig Rambazamba in meiner Schule. Ich hätte beinahe nicht<br />
meinen Schulabschluss machen dürfen. Es hat wirklich eine Lehrerkonferenz mit<br />
Vertretern vom Jugendamt stattgef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> meine Mutter musste erscheinen, ich<br />
sollte erscheinen. Und da wurde darüber diskutiert, ob ich überhaupt zu den<br />
Abschlussprüfungen zugelassen werde. Wegen meiner feindlich .. also negativ<br />
dekadenten Einstellung zum, zum Staat <strong>und</strong> zur Partei-Politik <strong>der</strong> SED. (00:10:03-2)<br />
Ich durfte dann doch. Und das einzige, was meine Lehrer dann noch erreicht haben,<br />
o<strong>der</strong> eben was, weiß ich nicht, ob das Ziel <strong>der</strong> Schulleitung war, o<strong>der</strong> von sonst wem,<br />
das kann ich heute alles gar nicht sagen. Sie haben meinen Leistungsdurchschnitt<br />
erheblich gedrückt. Ich hatte in <strong>der</strong> neunten Klasse noch einen<br />
Leistungsdurchschnitt, also die Kopfnoten nehmen wir jetzt mal aus, aber einen<br />
Leistungsdurchschnitt von 1,8. Und die zehnte Klasse hab ich dann mit 3,6<br />
abgeschlossen. Meine ganzen Lieblingsfächer, Mathe, Geschichte <strong>und</strong> sonst was,<br />
wo ich vorher auf Eins o<strong>der</strong> Zwei stand, hatte ich plötzlich eine Drei o<strong>der</strong> eine Vier<br />
auf dem Abschlusszeugnis. Und das war, das war die absolute Katastrophe. Ich<br />
habe zwar den Abschluss <strong>der</strong> zehnten Klasse. Aber war natürlich hochgradig<br />
verärgert. Ja, das ist so im Groben mein Werdegang in <strong>der</strong> DDR-Schule.<br />
(00:10:56-1)<br />
…<br />
Die sind total ausgeflippt, als ich zu <strong>der</strong> ersten schriftlichen Prüfung, das war<br />
traditionell in <strong>der</strong> DDR immer die Russisch-Abschlussprüfung, die auch schon<br />
mehrere Wochen vor den an<strong>der</strong>en Abschlussprüfungen statt gef<strong>und</strong>en hat. Also<br />
immer kurz vor dem Halbjahreszeugnis im Februar. Da bin ich als einziger Schüler<br />
<strong>der</strong> gesamten zehnten Klassen ohne Blauhemd erschienen. Und da haben die mich<br />
nicht rein gelassen in die Prüfung. Da haben die angefangen um halb neun früh zu<br />
schreiben, <strong>und</strong> ich sitze die ganze Zeit draußen <strong>und</strong> warte, dass ich rein gelassen<br />
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werde, nur weil ich kein Blauhemd trage. Da bin ich aber schon sechs o<strong>der</strong> acht<br />
Wochen aus <strong>der</strong> FDJ ausgetreten gewesen. Da haben die richtig Theater gemacht.<br />
(00:11:36-9)<br />
2. Jugendwohnheim <strong>und</strong> Strafvollzug Halle: „(…) auf dem Alex rumgetrieben“…<br />
“drei Mopeds geklaut“<br />
SL: Na, ich lebte ja, wie gesagt, im <strong>Haus</strong>halt meiner Mutter, die mit ihrem<br />
Lebensgefährten, also meinem Stiefvater zusammen lebte. Und zusammen noch mit<br />
meiner Schwester. Und mein Stiefvater war ein ziemlich gewalttätiger Mensch. Sehr<br />
jähzornig <strong>und</strong> ... er hat uns oft gemaßregelt, um das mal ganz vorsichtig<br />
auszudrücken. Also wenn irgendwas nicht so lief, wie das sein sollte, wir hatten also<br />
nicht nur im <strong>Haus</strong>halt mitzuhelfen, son<strong>der</strong>n das <strong>Haus</strong> musste saniert werden, das<br />
Gr<strong>und</strong>stück musste auf Vor<strong>der</strong>mann gebracht werden, nachdem wir das da gekauft<br />
haben. Und ich habe da ziemlich massiv arbeiten müssen, schon als 13-, 14-jähriger<br />
Junge. Und wenn du, wenn die Aufträge nicht erfüllt wurden o<strong>der</strong> so, dann kam es<br />
auch schon mal vor, dass er mich mit <strong>der</strong> H<strong>und</strong>epeitsche verprügelt hat <strong>und</strong> ähnliche<br />
Sachen. Ich muss dazu sagen, wir hatten einen Rottweiler <strong>und</strong> da hat man halt auch<br />
ein bisschen härteres H<strong>und</strong>egeschirr sozusagen, <strong>und</strong> das hat <strong>der</strong> benutzt, um mich<br />
zu verprügeln. Und das nicht nur einmal die Woche. Und dann habe ich angefangen,<br />
mich auch rumzutreiben zu dem Zeitpunkt, also mein Zuhause zu meiden. Und das<br />
führte dann zu immer größeren Spannungen zwischen meiner Mutter <strong>und</strong> mir, o<strong>der</strong><br />
vor allem zwischen meinem Stiefvater <strong>und</strong> mir. Und .. , ja .., dann bin ich glaube noch<br />
14 gewesen o<strong>der</strong> schon Anfang 15, da gab es sogar Zeiträume, wo ich zwei, drei<br />
Tage gar nicht zu <strong>Haus</strong>e war. Wo ich bei Klassenkameraden übernachtet habe o<strong>der</strong><br />
sonst irgendwas. Nur um meinem gewalttätigen Stiefvater aus dem Weg zu gehen.<br />
So, <strong>und</strong> .. in dieser Zeit des Rumtreibens <strong>und</strong> so, da war ich dann nicht nur politisch<br />
wi<strong>der</strong>ständig sozusagen, da habe ich natürlich auch Dummheiten gemacht. Und in<br />
diesem Stadtteil von Ostberlin in Blankenburg, wo wir lebten, da gab es eine große<br />
Jugendclique, die massiv Autos geklaut haben, unbefugt benutzt haben <strong>und</strong> damit<br />
durch Ostberlin gefahren sind. O<strong>der</strong> Mopeds o<strong>der</strong> Motorrä<strong>der</strong> <strong>und</strong> so. Und ich war<br />
latent auch mit diesen Jungs <strong>und</strong> Mädels natürlich bekannt. Das waren Gleichaltrige,<br />
die gingen dann in die Schule o<strong>der</strong> in eine Parallelschule. Man kannte sich ja auch.<br />
Stefan hatte in diesem Alter von 14, 15 insgesamt drei Mopeds entwendet, unbefugte<br />
Kfz-Benutzung begangen <strong>und</strong> ist damit durch Ostberlin gefahren <strong>und</strong> kam sich cool<br />
vor. Und ja <strong>und</strong> dass es kein Kfz-Diebstahl unterm Strich geworden ist, hat damit zu<br />
tun, dass ich die Dinger immer dahin gebracht hatte, wo ich sie eine halbe St<strong>und</strong>e<br />
o<strong>der</strong> zwei St<strong>und</strong>en vorher entwendet hatte <strong>und</strong> wie<strong>der</strong> abstellen wollte. Bin natürlich<br />
immer erwischt worden. Also alle drei Mal. … Ja <strong>und</strong> die Summe <strong>der</strong> Spannungen,<br />
die wir im Elternhaus hatten, also zwischen meiner Mutter, meinem Stiefvater <strong>und</strong> mir<br />
<strong>und</strong> dann noch diese Mopeddiebstähle <strong>und</strong> natürlich die .. strafrechtliche<br />
Verurteilung dafür, die dazu führte, dass meine Mutter zum Jugendamt gegangen ist.<br />
Die musste sowieso hin, um sich zu rechtfertigen. Da hat sie den Antrag auf<br />
Heimeinweisung gestellt, also Erziehungshilfe hat man das damals genannt. Und das<br />
hat nichts an<strong>der</strong>es bedeutet, als dass ich ins Heim gekommen bin. … Dann bin ich<br />
15 ½ Jahre, den Tag werde ich nie vergessen, ist <strong>der</strong> 6. Dezember 1982 gewesen.<br />
Da stehe ich vor dem Stadtbezirksgericht Berlin Pankow wegen dieser Moped-<br />
Geschichten vor Gericht <strong>und</strong> werde zur Bewährungsstrafe verurteilt mit einer<br />
angedrohten Freiheitsstrafe von sechs Monaten. Und in dieser Gerichtsverhandlung<br />
www.haus<strong>der</strong>demokratie.de/unverzichtbar 5
steht meine Mutter auf, <strong>und</strong> ruft in den Saal, sie hat keinen Sohn Stefan mehr. Also<br />
da war nicht nur die Stimmung plötzlich im Arsch, da vor Gericht, also die<br />
Verhandlung ist sofort unterbrochen worden. Ich war in Tränen aufgelöst. Und ich<br />
weiß nicht, ob das Gericht, also ich kenne die Richterin seit Jahren, also auch<br />
danach. Wir waren auch sozusagen befre<strong>und</strong>et. Und sie hat mir das nie wirklich<br />
bestätigt, aber ich glaube man wollte mich eigentlich schon zur Haftstrafe, also ohne<br />
Bewährung, direkt an diesem Tage eigentlich verurteilen. Und aufgr<strong>und</strong> des<br />
Auftretens meiner Mutter <strong>und</strong> auch meines Stiefvaters, <strong>der</strong> sich da unmöglich<br />
aufgeführt hat an diesem Tag, hat man mich dann doch zur Bewährung verurteilt.<br />
Und dann bin ich in das Jugendwohnheim gekommen, noch am selben Tag. Und da<br />
haben sich mein Verteidiger <strong>und</strong> die Staatsanwältin <strong>und</strong> die Richterin mit den Chefs<br />
zusammengesetzt <strong>und</strong> das noch mal diskutiert <strong>und</strong> dann ist die Verhandlung schnell<br />
beendet worden. Und da war ich am selben Abend noch in Prenzlauer Berg in einem<br />
sogenannten sozialistischen Jugendwohnheim. (00:17:01-4)<br />
…<br />
Und ab dem Zeitpunkt, da bin ich 15 ½ Jahre alt, da bin ich Heimkind. Nichts ist mehr<br />
mit sich in <strong>der</strong> Freizeit zu erholen von den kommunistischen Parolen, die man in <strong>der</strong><br />
Schule hat o<strong>der</strong> sonst irgendwann seine .. Lieblingsmusik zu hören. Ich konnte<br />
plötzlich nicht mehr West-Radio hören, was eigentlich vollkommen normal war, für<br />
uns Ostberliner Jugendliche. Ich konnte nicht einfach in, in den Gruppenraum gehen,<br />
den Fernseher anmachen <strong>und</strong> ARD o<strong>der</strong> ZDF gucken. Das hätte ein riesen Theater<br />
in diesem Wohnheim gegeben. (00:17:36-9) …<br />
Also neben meinen politischen Aktivitäten, die ich gemacht habe o<strong>der</strong> meinem<br />
jugendlichen Rebellentum, das ist ja so eine Mischung eigentlich. Mit 15 Jahren ist<br />
man noch nicht ausgereift als Persönlichkeit, dass man das jetzt als bewussten<br />
Wi<strong>der</strong>stand einordnen könnte, wie es eben auch bekannte Bürgerrechtler wie Bärbel<br />
Bohley o<strong>der</strong> Rainer Eppelmann o<strong>der</strong> wie sie alle heißen, da gemacht haben. Das ist<br />
mit 15 Jahren natürlich eine ganz an<strong>der</strong>e Qualität, ne? Das ist alles zusammen<br />
gekommen <strong>und</strong> meine Mutter hat sich distanziert von mir <strong>und</strong> plötzlich bin ich im<br />
Heim. (00:18:15-8)<br />
…<br />
Ich habe mich komplett verweigert. Also erst mal war es sowieso ziemlich schwierig,<br />
dieses Bewusstsein, dass ich jetzt nicht mehr mein eigenes Zimmer habe zu <strong>Haus</strong>e.<br />
Und meine ganzen Poster, die ich in meinem Zimmer hatte zu <strong>Haus</strong>e, die durfte ich<br />
nicht mit ins Wohnheim nehmen. Die hätte ich da nicht aufhängen können. Also ich<br />
hatte Poster von Bands aus Westeuropa <strong>und</strong> Amerika, Kiss, Pink Floyd, Stones,<br />
AC/DC <strong>und</strong> sonst irgendwas hing bei mir zu <strong>Haus</strong>e. Und wer das Logo von <strong>der</strong> Band<br />
Kiss kennt, <strong>der</strong> weiß, dass da die SS-Runen benutzt werden, um eben irgendwie<br />
Aufregung o<strong>der</strong> sonst was zu erreichen. Das hätte ich im Wohnheim niemals<br />
aufhängen dürfen. Das wäre eine Straftat für die gewesen. Und .., ja das habe ich<br />
alles vermisst. Und wenn ich aus <strong>der</strong> Schule gekommen bin, ich konnte da meine<br />
Schule doch noch zu Ende machen. Da war ich dann ja schon im Heim. Da habe ich<br />
mich möglichst in meiner Freizeit nicht im Heim aufgehalten. Ich habe angefangen<br />
mich rumzutreiben auf dem Berliner Alexan<strong>der</strong>platz zum Beispiel. Hab da auch<br />
an<strong>der</strong>e junge Menschen kennen gelernt, die <strong>der</strong> Ostberliner Punkszene zum Beispiel<br />
www.haus<strong>der</strong>demokratie.de/unverzichtbar 6
angehört haben. Und ja, wenn ich dann auch mal die Schule hab Schule sein lassen,<br />
das war in <strong>der</strong> zehnten Klasse in <strong>der</strong> DDR natürlich nicht ganz so schwierig, weil<br />
dann irgendwann nur noch Konsultationsunterricht angeboten wurde, den man nicht<br />
beiwohnen musste. Also da gab es keine Anwesenheitspflicht. Dann habe ich mich<br />
auch schon mal vormittags auf dem Alex rumgetrieben <strong>und</strong> mich mit den Punks dort<br />
getroffen, Bier getrunken, Musik gehört <strong>und</strong> sonst was. Aber möglichst nicht im Heim.<br />
Ich habe mich da also komplett <strong>der</strong> sogenannten Erziehung zur vollwertigen<br />
sozialistischen Persönlichkeit entzogen. Und das war keine hohle Phrase. Die haben<br />
also wirklich immer versucht, mit uns politisch zu agieren <strong>und</strong> zu diskutieren <strong>und</strong> uns<br />
zu formen. Dem habe ich mich bewusst entzogen. Und das war, das war nicht gut.<br />
(00:20:15-2)<br />
…<br />
SL: Na ja, … wenn ein Erzieher, also man könnte das heute mit einer Schule zum<br />
Beispiel vergleichen. Wenn da ein Schüler ständig aus <strong>der</strong> Reihe tanzt <strong>und</strong> dem<br />
Lehrer sich total verweigert <strong>und</strong> so weiter, <strong>der</strong> Lehrer keinen Zugang mehr hat zu<br />
dem Jugendlichen, dann schauen natürlich die Mitschüler auf diese Geschichte, <strong>und</strong><br />
das könnte zu Nachahmungseffekten führen. Und das wissen halt die Betreuer o<strong>der</strong><br />
die Lehrer. Und damit man dann gruppendynamisches Verhalten, so nannte man das<br />
in <strong>der</strong> DDR, unterbindet, musste man dann eben Sanktionen sich ausdenken. Und<br />
das war in diesem Wohnheim natürlich äußerst begrenzt, nicht wahr? Das war ja die<br />
humanste Heimunterbringung für Jugendliche in <strong>der</strong> DDR überhaupt. Und als ich<br />
mich dann noch einmal geprügelt hatte, <strong>und</strong> dann wie<strong>der</strong> vor Gericht gelandet bin<br />
wegen Körperverletzung <strong>und</strong> meine Bewährungsstrafe aufgehoben wurde, dann<br />
musste ich dann nicht nur das erste Mal in den Jugendstrafvollzug, also erst U-Haft<br />
in Berlin <strong>und</strong> dann Verlegung in Jugendstrafvollzug nach Halle…. Und als ich dann<br />
zurückkam, dann war ich halt <strong>der</strong> Knacki für die Erzieher dort in diesem Wohnheim.<br />
Ich konnte zwar die Lehrausbildung, die ich in <strong>der</strong> Haft angefangen hatte, konnte ich<br />
dann zwar in Ostberlin fortführen, aber in meiner Freizeit, wenn ich mich wirklich im<br />
Heim aufgehalten habe, waren die Erzieher sehr distanziert zu meiner Person<br />
plötzlich. Haben mich ausgegrenzt <strong>und</strong> darauf geachtet das ich nicht so viel Kontakt,<br />
also negativen Kontakt, wie sie es nannten, zu den an<strong>der</strong>en Insassen hatte. Und<br />
November 1984 wurde ich dann plötzlich nach Freital, bei Dresden, in einen offenen<br />
Jugendwerkhof verlegt. (00:22:07-0)<br />
…<br />
SL: Also <strong>der</strong> Anlass für diese Prügelei wie man das nannte, o<strong>der</strong> diese<br />
Körperverletzung war eigentlich relativ banal. Ich kam aus irgendwelchen Gründen,<br />
ich weiß gar nicht mehr wirklich warum, total sauer von meiner Schule. Einfach eines<br />
Tages, einfach nur bin ich zurück zum Wohnheim gefahren, um meine Schulsachen<br />
abzulegen <strong>und</strong> auf dem Weg vom S-Bahnhof bis zu meinem Wohnheim musste ich<br />
durch so einen Park laufen <strong>und</strong> dann über so einen Kin<strong>der</strong>spielplatz, dann die große<br />
Freitreppe runter. Und auf diesem Kin<strong>der</strong>spielplatz ist mir halt ein an<strong>der</strong>er<br />
Jugendlicher mit dem Fahrrad vor die Füße gefahren <strong>und</strong> dem habe ich einfach eine<br />
Ohrfeige gegeben. Ich weiß gar nicht mehr wirklich warum. Ich war einfach<br />
hochgradig geladen, aus irgendwelchen Problemen aus <strong>der</strong> Schule heraus. Und <strong>der</strong><br />
Junge war dann <strong>der</strong> Blitzableiter, sozusagen. Den hat es getroffen. Und mehr ist da<br />
gar nicht passiert. Und aufgr<strong>und</strong> dieser Geschichte habe ich für eine<br />
www.haus<strong>der</strong>demokratie.de/unverzichtbar 7
Körperverletzung, also diese Ohrfeige, <strong>der</strong> war auch nicht schwer verletzt o<strong>der</strong><br />
irgendwas, dafür habe ich zwei Monate zusätzliche Haft bekommen. Und war dann<br />
für acht Monate das erste Mal richtig im Jugendstrafvollzug. (00:23:28-2)<br />
Die Bewährung ist ja aufgehoben worden für diese Moped-Geschichten. Da standen<br />
sechs Monate Freiheitsentzug sozusagen auf dem Zettel <strong>und</strong> für die<br />
Körperverletzung noch zwei Monate drauf macht acht Monate. Und dann war ich<br />
wirklich bis Ende Februar '84 im Jugendstrafvollzug. Habe da recht üble Sachen<br />
auch miterleben müssen.<br />
Und wurde dann entlassen. War dann drei Monate in Berlin wie<strong>der</strong> in diesem<br />
Jugendwohnheim, sozusagen in Freiheit. Hab meine angefangene Ausbildung weiter<br />
geführt. Und dann kam noch eine dritte Sache hinzu. Und zwar hatten wir in diesem<br />
Jugendwohnheim eines Abends eine angekündigte Heimvollversammlung. Und da<br />
ging es darum, dass ein Heiminsasse einen an<strong>der</strong>en Heiminsassen massiv<br />
zusammen geschlagen hatte. Und <strong>der</strong> Täter, <strong>der</strong> war schon in Untersuchungshaft<br />
genommen worden, war schon inhaftiert. Und diese Straftat dieses Mitinsassen in<br />
diesem Jugendwohnheim sollte ausgewertet werden. Da waren Vertreter von <strong>der</strong><br />
Kriminalpolizei dabei, ein Leutnant. Und natürlich die ganze Heimleitung <strong>und</strong> die<br />
meisten Erzieher <strong>und</strong> natürlich wir Insassen, wir Jugendlichen. Und dann wurde über<br />
diesen vermeintlichen, o<strong>der</strong> wirklichen Täter total hergezogen, was das denn für ein<br />
asoziales Element ist <strong>und</strong> <strong>der</strong>, den müsse jetzt die volle Härte des sozialistischen<br />
Strafrechts treffen <strong>und</strong> tralala. Und da ich ja schon acht Monate Jugendstrafvollzug<br />
hinter mir hatte, <strong>und</strong> die Hintergründe von <strong>der</strong> Straftat des an<strong>der</strong>en Insassen kannte,<br />
ist mir irgendwann <strong>der</strong> Kragen geplatzt. Dann bin ich aufgestanden <strong>und</strong> habe mal<br />
erzählt wie es wirklich in <strong>der</strong> Jugendhaft aussieht. Diese vermeintliche<br />
Resozialisierung <strong>und</strong> die Umerziehung. Und habe über meine Erfahrungen von<br />
Gewalt <strong>der</strong> Haftinsassen im Jugendstrafvollzug berichtet. Habe öffentlich auf dieser<br />
Heimversammlung davon gesprochen, dass die Angestellten im Strafvollzug, das<br />
waren damals alles Polizisten, die unterstanden alle dem Ministerium des Inneren,<br />
dass die ebenfalls gewalttätig gegenüber den Insassen sind. Also sehr gerne ihren<br />
Schlagstock benutzt haben <strong>und</strong> sehr gerne Einzelhaft ver...ver...verhängten. Und das<br />
habe ich eben dort alles erzählt <strong>und</strong> habe ganz deutlich gesagt, dass <strong>der</strong>, <strong>der</strong> jetzt<br />
hier zur Debatte steht mit seiner Strafe dort untergehen wird, weil es ein total<br />
sensibler <strong>und</strong> eigentlich zurückgezogener <strong>und</strong> schüchterner junger Mensch ist, <strong>der</strong><br />
sich nur in einem Moment nicht mehr unter Kontrolle hatte, weil er eben ständig<br />
drangsaliert <strong>und</strong> gehänselt wurde von dem vermeintlichen Opfer. Das war <strong>der</strong><br />
Hintergr<strong>und</strong>. So, <strong>und</strong> weil ich darüber offen gesprochen habe <strong>und</strong> die Zustände im<br />
Strafvollzug eben öffentlich kritisiert habe auf dieser Heimversammlung, <strong>und</strong> zwar<br />
massiv kritisiert habe, bin ich nur wenige Tage später in meinem Betrieb verhaftet<br />
worden, das ist, ist kein Scherz. Bin in Handschellen abgeführt worden in die<br />
Untersuchungshaft wie<strong>der</strong> gebracht worden. Und die, <strong>der</strong> Anklagevorwurf war<br />
Paragraph 220 vom Strafgesetzbuch <strong>der</strong> DDR, öffentliche Herabwürdigung von<br />
staatlichen Einrichtungen <strong>und</strong> Institutionen. Früher nannte man das Boykott-Hetze in<br />
<strong>der</strong> DDR. Ist ein Gummi-Paragraph, also Staatsverleumdung würde man das heute<br />
beschreiben. Ich hätte halt eine sozialistische Einrichtung, sprich den<br />
Jugendstrafvollzug, in Misskredit gebracht, mit meinen öffentlichen Ein...Aus...o<strong>der</strong><br />
Einlassung. Und darauf stand eine Strafandrohung von bis zu zwei Jahren<br />
Freiheitsentzug. Und dann bin ich plötzlich in <strong>der</strong> Haft, kann natürlich meine<br />
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Ausbildung nicht fortsetzen <strong>und</strong>, <strong>und</strong>, <strong>und</strong>... Und das dauert mehrere Monate diese,<br />
diese Verhandlung. Und ich werde zwar von diesem Tatvorwurf dann freigesprochen<br />
vor dem Stadtbezirksgericht Berlin Prenzlauer Berg aber wegen Rowdytum <strong>und</strong>, <strong>und</strong>,<br />
<strong>und</strong> Drangsalierung eines an<strong>der</strong>en Jugendlichen im Wohnheim, die ich nie begangen<br />
habe, werde ich dann wie<strong>der</strong> zu einem halben Jahr verurteilt. Sonst hätten sie mir<br />
Haftentschädigung zahlen müssen. Da bin ich ein zweites Mal im Jugendstrafvollzug<br />
in Halle wegen dieser Geschichte. Hat natürlich einen gewissen Vorteil gehabt, also<br />
mal abgesehen von <strong>der</strong> Haftunterbringung, aber ich konnte wenigstens meine<br />
theoretische Facharbeiterausbildung zu Ende bringen. Und dort abschließen… mir<br />
hat dann nur noch in <strong>der</strong> praktischen Ausbildung ein viertel Jahr gefehlt, dann wäre<br />
ich vollständiger Facharbeiter gewesen.<br />
3. Jugendwerkhof Freital: „Ich habe mich dort total verweigert“<br />
Ja <strong>und</strong> im November, also während dieser zweiten Haftzeit im Jugendstrafvollzug in<br />
Halle, hatte die Heimleitung diesen Antrag beim Jugendamt gestellt, wenn <strong>der</strong><br />
entlassen wird, den wollen wir nicht mehr zurück haben <strong>und</strong> so. Der bringt hier zu viel<br />
Unruhe ins Jugendwohnheim. Der muss in den Jugendwerkhof. Da müssen härtere<br />
Erziehungsmaßnahmen her, <strong>und</strong> die Jugendwerkhöfe. ..Man weiß das heute, weil es<br />
eben äh ja, ja recherchiert wurde, würde ich es mal vorsichtig bezeichnen, von vielen<br />
Leuten die sich mit dieser Thematik beschäftigen heute. Und.. die, die<br />
Erziehungsmethoden im...in Jugendwerke in <strong>der</strong> DDR <strong>und</strong> da gab es 1990 noch<br />
zwei<strong>und</strong>dreißig Stück von. Das hieß dann nicht mehr Erziehung zur sozialistischen<br />
Persönlichkeit son<strong>der</strong>n Umerziehung mit aller Konsequenz <strong>und</strong> ohne Duldung von<br />
Diskussionen. Und was das bedeutet, .. ja, da kann man sich mittlerweile<br />
ausreichend Literatur zu besorgen. Das ging ab wie in einer Militärkaserne, in diesen<br />
Jugendwerkhöfen. Da warst du plötzlich kein Individuum mehr <strong>und</strong>, <strong>und</strong> ... da wurde<br />
nicht gefragt ... mit welchen För<strong>der</strong>maßnahmen man das hier machen kann <strong>und</strong> wie<br />
kann ich dir denn helfen, dass du ein ganz normaler Mensch wirst <strong>und</strong> sonst<br />
irgendwie. Dir wurde nur noch befohlen was du zu tun <strong>und</strong> zu lassen hast. Und das<br />
in meiner Situation, gerade aus <strong>der</strong> Haft raus, ich habe mich auf die Freiheit gefreut<br />
<strong>und</strong> dachte, dass ich jetzt meinen Facharbeiter in Ostberlin zu Ende bringen kann.<br />
Und dann habe ich ja bloß noch ein halbes/dreiviertel Jahr, dann bin ich 18 <strong>und</strong> dann<br />
eine Arbeitsstelle, eine eigene Wohnung. Das war meine Zukunftsperspektive. Und<br />
dann werde ich da abgeholt aus <strong>der</strong> Haftanstalt <strong>und</strong> werde in den Jugendwerkhof<br />
gebracht. Ohne, ohne Vorwarnung. ... Das war ein riesen Schock für..für mich.<br />
(00:29:40-5)<br />
…<br />
Das wird heute immer ganz, ganz gerne behauptet, dass die Insassen <strong>der</strong><br />
Jugendwerkhöfe ja alle durchweg kriminell gewesen wären o<strong>der</strong> sonst irgendwas.<br />
Also mal ganz abgesehen davon, dass viele Straftaten in <strong>der</strong> DDR politisch<br />
motivierte Taten gewesen sind, die heute überhaupt gar nicht mehr justiziabel sind. ..<br />
Wir waren keine Straftäter. Also in meinem Fall, natürlich hatte ich als 14-jähriger<br />
Mopeds entwendet <strong>und</strong> bin damit unbefugt durch die Gegend gefahren. Bin dafür in<br />
Jugendhaft gekommen. Und ich habe einem Jugendlichen eine Backpfeife gegeben<br />
<strong>und</strong> wurde wegen Körperverletzung verurteilt. Aber das war ja nicht <strong>der</strong><br />
Einweisungsgr<strong>und</strong> für den Jugendwerkhof. Der Einweisungsgr<strong>und</strong> bei mir, <strong>und</strong> das<br />
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deckt sich mit vielen, vielen Lebensläufen von ehemaligen Insassen von den<br />
Jugendwerkhöfen, das war mein rebellisches aufmüpfiges Verhalten <strong>und</strong> mein<br />
Wi<strong>der</strong>stand gegen meine Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit. Das war <strong>der</strong><br />
Einweisungsgr<strong>und</strong>, weil sie mich in diesem offenen Jugendwohnheim nicht unter<br />
Kontrolle gekriegt haben, keinen Einfluss auf mich hatten. Da müssen eben an<strong>der</strong>e,<br />
härtere Erziehungs- o<strong>der</strong> Umerziehungsmaßnahmen her. So waren die<br />
Jugendwerkhöfe ausgelegt. Für einen jugendlichen Straftäter, <strong>und</strong> das ist ja an<br />
meinem Beispiel recht gut nachvollziehbar, da waren die Jugendwerkhöfe gar nicht<br />
gedacht. Dafür gab es mehrere, also ich glaube fast 15 o<strong>der</strong> 20 Jugendhaftanstalten<br />
in <strong>der</strong> DDR. Die sogenannten Jugendhäuser. Man hatte genügend Platz für<br />
jugendliche Straftäter ... (00:31:28-8)<br />
Ein Intensivtäter o<strong>der</strong> ein Straftäter, <strong>der</strong> kam vor Gericht, vors Jugendstrafgericht <strong>und</strong><br />
wurde verurteilt <strong>und</strong> wenn er zur Freiheitsstrafe verurteilt wurde, kam er in den<br />
Jugendstrafvollzug. Also diese, diese Mär, was ja immer gerne benutzt wird, dass wir<br />
alle schwerstkriminell gewesen wären – Mör<strong>der</strong>, Räuber <strong>und</strong> so. So haben sich<br />
ehemalige Erzieher nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung Deutschlands auch schon mal<br />
wirklich öffentlich geäußert. Wir wären ja alle Mör<strong>der</strong>, Vergewaltiger, Räuber <strong>und</strong><br />
sonst was gewesen, die in den Jugendwerkhöfen gewesen sind. Es stimmt einfach<br />
nicht. Es stimmt nicht. (00:32:06-5)<br />
SL: Alt-Stralau ist ein sogenanntes Durchgangsheim <strong>der</strong> DDR gewesen. Und<br />
Durchgangsheime gab es in je<strong>der</strong> größeren Stadt in <strong>der</strong> DDR. Das waren weit über<br />
fünfzig Durchgangsheime DDR-weit. Und diese Durchgangsheime in <strong>der</strong> DDR, die<br />
waren vorgesehen für Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche im Alter zwischen sechs bis achtzehn<br />
Jahren. Und diese Durchgangsheime waren Haftanstalten letzten Endes. Wenn man<br />
sich die Räumlichkeiten anschaut <strong>und</strong>, <strong>und</strong> Einzeljugend...äh...Durchgangsheime<br />
sich mal etwas genauer anschaut, wie zum Beispiel Alt-Stralau in Berlin o<strong>der</strong> Bad<br />
Freienwalde zum Beispiel im Land Brandenburg. Das sind tatsächlich ehemalige<br />
Haftanstalten. Vergitterte Fenster, die Türen sind verschlossen, man hat keinen<br />
Freigang, Ausgang sowieso nicht <strong>und</strong> <strong>der</strong> Tagesablauf ist militärisch<br />
durchstrukturiert. Und das schon für sechsjährige Kin<strong>der</strong>. Und die sind nun weiß<br />
Gott, we<strong>der</strong> strafmündig noch straffällig gewesen o<strong>der</strong> sonst was. Und die sind aus<br />
ihren Familien heraus gelöst worden, aus normalen Gründen, wie heute auch Kin<strong>der</strong><br />
o<strong>der</strong> Jugendliche in Heimerziehung kommen können. Alt-Stralau war nach meiner<br />
Haftentlassung im November '84 für 14 Tage meine Zwischenstation (…) Und ich<br />
wurde dann von dort in diesen sogenannten offenen Jugendwerkhof nach Freital<br />
verlegt, das ist bei Dresden in Sachsen. Das war ja schon mal <strong>der</strong> größte Fehler,<br />
also einen Ostberliner Punk nach Sachsen zu verlegen. Das ging gar nicht. Und<br />
diese sogenannten offenen Jugendwerkhöfe, das hört sich ganz niedlich an, aber<br />
das war nichts an<strong>der</strong>es als Haftanstalten letzten Endes. Man hatte keine Papiere,<br />
also <strong>der</strong> Personalausweis wurde einem abgenommen. Man hatte kein Geld zur<br />
Verfügung, also ganz, ganz minimales Taschengeld gab es da pro Woche, ich<br />
glaube eine Mark fünfzig o<strong>der</strong> so. Und damit hätte man auch zu DDR-Preisen nicht<br />
einfach irgendwohin fahren können. Man durfte das Werkhofsgelände sowieso nicht<br />
unerlaubt verlassen. Und <strong>der</strong> Tagesablauf, <strong>der</strong> war durchstrukturiert. So nannten die<br />
das noch hochtrabend. Das heißt nichts an<strong>der</strong>es, als dass <strong>der</strong> Erzieher bis hin zum<br />
Direktor jede Tages-, also Minute am Tag durchgeplant, im Voraus durchgeplant<br />
hatte. Und dann gab es nur für jede Gruppe den Anweisungen des Erziehers zu<br />
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folgen. Das war alles vorgeschrieben. Also selbst wenn wir zum Frühstück gegangen<br />
sind, o<strong>der</strong> zum Mittag o<strong>der</strong> zum Abendbrot, .. <strong>und</strong> das in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Gruppe machen<br />
musste, dann hieß es antreten, ausrichten, durchzählen, Meldung an Erzieher, rechts<br />
rum <strong>und</strong> im Gleichschritt Marsch in den Speiseraum. Das ist nichts an<strong>der</strong>es, als<br />
wenn ich heute einen 18- o<strong>der</strong> 20-jährigen frage, wie ist denn dein Gr<strong>und</strong>wehrdienst<br />
bei <strong>der</strong> B<strong>und</strong>eswehr. Und das ist genau das Gleiche. (00:35:15-6)<br />
So <strong>und</strong> die Freizeit, das kann man sich auch nicht vorstellen, wie fröhliches<br />
Fußballspielen o<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> wir gehen mal jetzt Tischtennis spielen <strong>und</strong>...nichts. Der<br />
Erzieher hat gesagt was zu machen war. Und das ging wirklich soweit, wir mussten<br />
da ja im Rahmen dieser, dieser Teilfacharbeiterausbildung, die angeboten wurde, an<br />
<strong>der</strong> vormilitärischen Gr<strong>und</strong>ausbildung teilnehmen. Und dann sind wir als gesamte<br />
Gruppe wirklich st<strong>und</strong>enlang über das Werkhofsgelände marschiert, in Kolonne. Und<br />
haben da irgendwelche Arbeiterkampflie<strong>der</strong> singen sollen <strong>und</strong>, <strong>und</strong> trallala.<br />
(00:35:49-8)<br />
Es … war nicht freies Leben. Das war Knast. Und das ohne dass man Straftaten<br />
begangen hatte. In Freital war das so, dass wir, wir waren ja ausschließlich Jungs.<br />
Zwischen hun<strong>der</strong>tzwanzig <strong>und</strong> hun<strong>der</strong>tvierzig Insassen gab es da, in mehreren<br />
Gruppen unterteilt, zu je zwanzig Jungs. Und wir mussten dort im Edelstahlwerk <strong>der</strong><br />
Stadt arbeiten. Fünf Tage die Woche <strong>und</strong> ich glaube eine Woche vom Monat hatten<br />
wir dann sogenannten theoretischen Berufsschulunterricht im Werkhof selbst. Aber<br />
ansonsten, drei Wochen im Monat, musste man dort in diesem Edelstahlwerk<br />
arbeiten <strong>und</strong> die nannten das Ausbildung. Wenn man sich das rückblickend heute<br />
anschaut, dann ist das nicht an<strong>der</strong>es als Zwangsarbeit gewesen. Also wirklich<br />
schwerste körperliche Arbeit in <strong>der</strong> Platinenschleiferei war ich zum Beispiel. Das sind<br />
bestimmte Stahlblöcke, die schon vorgewalzt waren <strong>und</strong> dann mussten Walzfehler<br />
ausgeschliffen werden. Mit riesengroßen schweren Pendelschleifmaschinen am<br />
Fließband. Und da waren, wie gesagt, auch 14-jährige Bengels dabei, die körperlich<br />
überhaupt gar nicht ausgereift waren. Ich war zu diesem Zeitpunkt 17, 17 ½ Jahre<br />
alt. Und da ging das vielleicht schon ein bisschen… (00:37:01-5)<br />
Wir waren schlicht <strong>und</strong> ergreifend billige Arbeitskräfte. (00:37:05-9)<br />
…<br />
Im Regelfall [musste ich] acht St<strong>und</strong>en [am Tag arbeiten]. Ne, also plus die<br />
Pausenzeiten, so dass wir ungefähr achteinhalb, knapp neun St<strong>und</strong>en auf Arbeit<br />
verbracht haben <strong>und</strong> dann wie<strong>der</strong> zurückgeführt wurden in den Werkhof. Und das ist<br />
auch noch eine Beson<strong>der</strong>heit von diesem Jugendwerkhof in Freital, in Sachsen. Der<br />
Werkhof lag o<strong>der</strong> ja, <strong>der</strong> ist ja mittlerweile abgerissen. Der lag auf einer Mülldeponie<br />
des Edelstahlwerks, wo Schlackereste <strong>und</strong> ähnliches verkippt wurden. Wo<br />
wenigstens im Sommer, das ist mir Gott sei dank erspart geblieben, im Sommer war<br />
ich da nicht, wo giftige Dämpfe hoch, also aufgestiegen sind. Und das ist heute auch<br />
bewiesen, deshalb wurde dieses Gelände auch abgerissen, nach <strong>der</strong><br />
Wie<strong>der</strong>vereinigung. Da sind wir über diese Müllkippe, wirklich zwei Kilometer<br />
mussten wir laufen, bis zum Stahlwerk geführt worden <strong>und</strong> dann wie<strong>der</strong> zurück. <strong>und</strong><br />
unsere Freizeit haben wir auf dieser Müllkippe dort verbracht. Die Räumlichkeiten<br />
waren zwei langgestreckte Baracken. Die eine Baracke bestand aus Holz <strong>und</strong><br />
Asbestplatten. Das war die Unterbringung, Schlafräume <strong>und</strong> Gruppenräume für die<br />
Jugendlichen. In <strong>der</strong> Mitte davon aus Stein gebaut, <strong>der</strong> Speisesaal <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
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Sanitärtrakt, also Duschen, Toiletten <strong>und</strong> Waschräume. Ja <strong>und</strong> dem gegenüber, ein<br />
paar Meter entfernt, stand eine zweite langgezogene Steinbaracke, <strong>und</strong> da war die<br />
Verwaltung untergebracht, also Direktion <strong>und</strong> trallala. Und <strong>der</strong> Umklei<strong>der</strong>aum, wo<br />
man seine Arbeitsklamotten vor <strong>der</strong> Arbeit angezogen hat. Und dann gab es noch<br />
einen Schulungsraum dort, eine Klei<strong>der</strong>kammer <strong>und</strong> eine ganz, ganz kleine<br />
Sporthalle, die ich nie gesehen habe. Also von innen. Zu meiner Zeit. Und das<br />
nannten die Jugendwerkhof. Das nannten die Umerziehung. (00:38:58-1)<br />
…<br />
In <strong>der</strong> DDR war ja eigentlich eine zehnjährige Schulpflicht. Aber in den<br />
Jugendwerkhöfen war es <strong>der</strong> Regelfall, dass man nur den Abschluss <strong>der</strong> achten<br />
Klasse machen konnte <strong>und</strong> anschließend eine Teilfacharbeiterausbildung. Um das<br />
für heutige Begriffe zu übersetzen, ist das eine Anlerntätigkeit. Das ist wirklich so, als<br />
wenn jemand von <strong>der</strong> Hauptschule entlassen wird ohne Abschluss <strong>und</strong> dann in einen<br />
Betrieb kommt <strong>und</strong> dort eine ja berufsför<strong>der</strong>nde Maßnahme o<strong>der</strong> irgendwas macht,<br />
um später eine Tätigkeit auf Anlernniveau im großen Betrieb ausführen zu können.<br />
Um es mal etwas global zu bezeichnen. Das hatte keinen, keinen großen Wert diese,<br />
diese Ausbildung. Und das war ja in meinem Fall dann sowieso alles null <strong>und</strong> nichtig.<br />
Ich habe da zwar arbeiten müssen in diesem Stahlwerk <strong>und</strong> auch an diesem<br />
Berufsschulunterricht teilnehmen müssen. Und ansonsten habe ich mich komplett<br />
dort verweigert. Also ich bin ja auch abgehauen aus, aus Freital recht schnell nach<br />
Ostberlin geflüchtet in einer Nacht- <strong>und</strong> Nebelaktion. Da hat man mich dann wie<strong>der</strong><br />
aufgegriffen <strong>und</strong> wie<strong>der</strong> zurück gebracht. Ich habe mich dort permanent allen Sachen<br />
verweigert. Also ich hatte damals schon Knieprobleme. Schon als junger Mensch.<br />
Und habe mich so oft wie es ging krankschreiben lassen vom Arzt. Und, <strong>und</strong> mich<br />
also <strong>der</strong> Arbeit teilweise dort verweigert. Ich habe mich dieser, dieser<br />
Umerziehungsversuche <strong>der</strong> Erzieher total verweigert. Ich habe von meinem ersten<br />
bis zu meinem letzten Tag, die den ich dort verbracht habe in dieser Einrichtung alle<br />
Erzieher geduzt bis hin zum Direktor. Also morgens raus: „Wie war die Nacht?“, <strong>und</strong><br />
nichts hier mit „Ja Herr“, weiß ich nicht, „Müller“ o<strong>der</strong> so. Und ich habe die richtig<br />
provoziert. Also richtig auf die Palme gebracht. Die wollten mich wie<strong>der</strong> gegen<br />
meinen Willen in die FDJ einglie<strong>der</strong>n. Die wussten also aus den Unterlagen, dass ich<br />
aus <strong>der</strong> FDJ ausgetreten war <strong>und</strong>, <strong>und</strong>, <strong>und</strong>. Und dass ich staatsfeindlich eingestellt<br />
war. Das wollten die natürlich än<strong>der</strong>n in dem Werkhof. Ich habe immer nein gesagt.<br />
Also ich habe vorher in meinem Leben nie so oft dieses Wort benutzt <strong>und</strong> auch<br />
später nicht. Ich habe dort mindestens am Tag fünfzigmal das Wort nein gesagt,<br />
einfach nein. Und das konnten die sich auf Dauer nicht gefallen lassen. Und da diese<br />
Aufsässigkeiten, wie sie es nannten, von mir also die Frechheiten <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Wi<strong>der</strong>stand auch noch gruppendynamisch wurde. Ich war dann irgendwann nicht<br />
mehr <strong>der</strong> einzige Jugendliche in meiner Gruppe o<strong>der</strong> von an<strong>der</strong>en Gruppen machten<br />
das auch einige nach. Die dann guten Morgen Horst gesagt haben <strong>und</strong> gelächelt<br />
haben. Und das hat einfach um sich gegriffen. Und .. ich habe auch eine<br />
Massenflucht organisiert. Wirklich mit dreißig Jugendlichen, ungefähr dreißig. Ich<br />
habe gar nicht gezählt. Wir sind aus dem Werkhof unerlaubt raus gegangen <strong>und</strong><br />
haben uns versteckt irgendwo <strong>und</strong> haben dann genüsslich zugeguckt wie die<br />
Erzieher <strong>und</strong> die DDR-Volkspolizei durch, also wirklich mit Blaulicht durch die Stadt<br />
gerast sind, um uns zu suchen <strong>und</strong> wie<strong>der</strong> einzufangen. Und wir haben uns wirklich<br />
köstlich amüsiert. Dann sind wir wie<strong>der</strong> zurück in den Werkhof <strong>und</strong> haben uns da<br />
totgelacht. Über die Erzieher. Und da waren noch viele, viele an<strong>der</strong>e Sachen. Ich<br />
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habe sonntags zum Beispiel, das war <strong>der</strong> einzige Tag in <strong>der</strong> Woche, da gab es zum<br />
Frühstück Bohnenkaffee. Na ja, <strong>und</strong> ich habe mir immer zwei Tassen genommen <strong>und</strong><br />
eine Kanne <strong>und</strong> habe verbotener Weise den Speisesaal verlassen, die Tür offen<br />
gelassen mitten im Winter. Und drei Meter davor war unsere Raucherinsel, <strong>der</strong><br />
einzige Ort im Werkhof wo geraucht werden durfte. Vor dem Speisesaal. Da standen<br />
eine Straßenlaterne, eine Parkbank <strong>und</strong> ein Aschenbecher. Da habe ich mich<br />
hingesetzt, die beiden Tassen hingestellt <strong>und</strong> hab eingegossen <strong>und</strong> habe mit <strong>der</strong><br />
Straßenlaterne zusammen Kaffee getrunken. Können sie mal ausprobieren am<br />
Wochenende, im Regelfall trinken Straßenlaternen nicht mit. Und das war dort halt<br />
auch so, die hat nie mitgetrunken. Und dann hab ich immer lauthals mit dieser<br />
Straßenlaterne geschimpft. Dass das nicht in Ordnung sei, <strong>der</strong> Kaffee ist gar nicht so<br />
schlecht. Nun trink doch endlich mal mit! Das haben halt meine, meine Kameraden<br />
im Speisesaal, waren wie gesagt hun<strong>der</strong>tzwanzig bis hun<strong>der</strong>tvierzig Jugendliche, ein<br />
paar waren ja immer auf Flucht. Die haben das mitgekriegt <strong>und</strong> die haben lauthals<br />
gelacht. Und das war auch Sinn <strong>der</strong> Übung. Dass richtig Unruhe reinkommt. Und da<br />
waren meistens zwischen zwölf <strong>und</strong> fünfzehn Erzieher dabei, unsere<br />
Gruppenerzieher halt. Die mit uns gefrühstückt haben <strong>und</strong> die fanden das nicht so<br />
lustig. (00:43:47-3)<br />
Die waren total wütend. Die hatten das nicht unter Kontrolle. Und <strong>der</strong> einzige <strong>der</strong> an<br />
diesen Sonntagen noch Spaß hatte in dieser Einrichtung, das war Stefan. Weil die<br />
Erzieher hatten wirklich bis zur Nachtruhe größte Mühe <strong>und</strong> Not wie<strong>der</strong> Ruhe,<br />
Ordnung, Disziplin herzustellen. Wie sie es nannten. Und ähnliche Aktionen habe ich<br />
immer wie<strong>der</strong> gestartet. Also nicht nur das Kaffee trinken, bin auch mit <strong>der</strong><br />
Zahnbürste an einer drei Meter langen Strippe durch den Werkhof <strong>und</strong> sogar, wenn<br />
wir Gruppenausgang in die Stadt hatten mit den Erziehern, habe ich die Zahnbürste<br />
hinter mir her gezogen <strong>und</strong> habe verdutzten Einwohnern <strong>der</strong> Stadt erklärt, dass sie<br />
jetzt ganz artig sein müssen, weil das ist mein H<strong>und</strong> Waldi. Na <strong>und</strong> das war die<br />
reinste Provokation für die Erzieher. Und das führte dazu, dass sie mich eines<br />
Nachts aus, aus dem Bett rausgerissen haben, mich in die Einzelarrestzelle gesteckt<br />
haben. Alle Jugendwerkhöfe <strong>der</strong> DDR haben über Isolierungszellen, also richtige<br />
Gefängniszellen, verfügt, die man zur Disziplinierung benutzte. Und ein paar St<strong>und</strong>en<br />
später war ich in dem einzigen geschlossenen Jugendwerkhof <strong>der</strong> DDR, in Torgau in<br />
Nord Sachsen. (00:44:54-4)<br />
4. Der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau: „Schlimmer als Knast“<br />
Und das war ein richtiger Knast. Und das nur weil ich fre<strong>und</strong>lich Erzieher geduzt<br />
habe, weil ich meine Zahnbürste allen Menschen zeigen musste, die ich hinter mir<br />
hergezogen habe, <strong>und</strong> weil ich Kaffee getrunken habe. Und weil ich mal abgehauen<br />
war, aus dieser, dieser offenen Jugendhilfeeinrichtung, wie sie das ja nannten. Und<br />
um solch schlimme Leute wie mich dann endgültig in den Griff zu kriegen, hatte man<br />
einen kleinen Kin<strong>der</strong>knast. Und das nannte die Boulevardpresse nach <strong>der</strong> Wende,<br />
nannte das mal Kin<strong>der</strong>-KZ von Margott Honecker. Margot Honecker seit 1963<br />
Volksbildungsministerin <strong>der</strong> DDR <strong>und</strong> sozusagen First Lady, war ja die Ehefrau vom<br />
Staatschef. Die war für die Jugendwerkhöfe <strong>und</strong> Kin<strong>der</strong>heime in <strong>der</strong> DDR mit<br />
verantwortlich. Das waren ihre Ressorts. Und die hatten einen eigenen Knast. Und<br />
die Jugendlichen, die in den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau gekommen sind,<br />
die haben nicht nur keine Straftaten begangen, son<strong>der</strong>n sie haben auch nie einen<br />
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Richter gesehen. Sie hatten kein Gerichtsurteil, von wegen jetzt hast du das <strong>und</strong> das<br />
angestellt <strong>und</strong> jetzt kommst du für ein halbes Jahr o<strong>der</strong> ein Jahr o<strong>der</strong> zwei Jahre in<br />
so ein Zuchthaus. Und <strong>der</strong> geschlossene Jugendwerkhof, es gibt ja Fotos davon<br />
heute, <strong>und</strong>, <strong>und</strong> auch Filmdokumentationen. Es war nichts an<strong>der</strong>es als eine richtige<br />
Haftanstalt. Und die wurde auch so geführt. Das ist ein Verbrechen gegen die<br />
Menschlichkeit. Also so ist es auch nach <strong>der</strong> Wende eingestuft worden, vom<br />
deutschen B<strong>und</strong>estag <strong>und</strong> von recht hohen Gerichten mittlerweile. (00:46:28-2)<br />
…<br />
SL: Das werde ich recht oft gefragt. Was für mich das schlimmste Erlebnis o<strong>der</strong> die<br />
schlimmste Rückerinnerung an den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau gewesen<br />
ist <strong>und</strong> das kann ich so gar nicht sagen. Weil die gesamte Unterbringung, überhaupt<br />
dieses unberechtigt in ein Zuchthaus gebracht zu werden, ohne richterlichen<br />
Beschluss o<strong>der</strong> das man auch keine Möglichkeit hatte sich gegen diese Maßnahme<br />
irgendwie zu wehren. Ich konnte mir keinen Rechtsanwalt nehmen, ich konnte keinen<br />
Kontakt nach außen aufnehmen. Nichts, also man hatte überhaupt gar keine<br />
Möglichkeit <strong>der</strong> Beschwerde gegen diese staatliche Maßnahme. Man war <strong>der</strong><br />
absoluten Willkür ausgesetzt. Ein Einzelerlebnis da heraus zu tun, <strong>und</strong> ich habe<br />
einige schlimme Sachen im Jugendwerkhof Torgau erlebt, auch persönlich erlebt.<br />
Das gibt da keinen Einzelmoment, kein Einzelereignis was ich als das schlimmste<br />
o<strong>der</strong> weniger schlimm... die gesamte Unterbringungszeit, alles was ich dort in <strong>der</strong><br />
Summe erlebt habe, ist so schlimm, so dramatisch <strong>und</strong> so schrecklich gewesen,<br />
dass ich das unter ein Gesamtergebnis nur noch abhaken kann. Das ist ... in Worten<br />
kaum zu beschreiben. (00:49:14-3)<br />
4.1. Ankunft: In <strong>der</strong> Regel benötigen wir drei Tage, um die Jugendlichen auf unsere<br />
For<strong>der</strong>ungen einzustimmen“<br />
SL: Ja. Also wie gesagt. Ich war ja in <strong>der</strong> Nacht im offenen Jugendwerkhof Freital<br />
nach .. wirklich aus dem Bett gerissen worden <strong>und</strong> dann in die Einzelzelle dort<br />
gebracht worden. Man hatte mir meine Privatsachen, meine .. Kleidung hinterher<br />
geworfen mit dem Befehl anziehen. Und .. da fehlten die Schnürsenkel schon in den<br />
Schuhen, die Uhr war nicht mehr dabei, <strong>der</strong> Gürtel war weg <strong>und</strong> .. Zigaretten o<strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>e Sachen sowieso, alles weg. Und dann ab diesem Zeitpunkt, hatte ich nur<br />
noch, aber wirklich knallharte Befehle zu befolgen. Und .. ich wurde in einem Dienst-<br />
Pkw des offenen Werkhofs, Pkw Wartburg nannte man diese Autos, dann nach<br />
Torgau gebracht. Und war halt zwei o<strong>der</strong> drei St<strong>und</strong>en später halt in Torgau. Und<br />
komme dort an, <strong>und</strong> sehe ein richtiges Zuchthaus mit Gefängnisschleuse, die öffnet<br />
sich, das Fahrzeug fährt mit mir da rein <strong>und</strong> hinter mir geht diese Gefängnisschleuse<br />
wie<strong>der</strong> zu. Die Mauern sind vier bis fünf Meter hoch. Die Fenster alle vergittert. Also<br />
richtig, <strong>der</strong> äußere Eindruck täuschte auch nicht, es war ein Zuchthaus. .. Und ich<br />
werde aus diesem Pkw rausgezerrt <strong>und</strong> in dieses <strong>Haus</strong> rein getreten, rein geführt<br />
kann man gar nicht mehr sagen, <strong>und</strong> auf einen ganz, ganz kleinen schmalen Flur<br />
abgestellt. .. Kein Fenster nichts, noch nicht mal Glasbausteine o<strong>der</strong> irgendwas wo<br />
man halt so sehen kann ob Tag o<strong>der</strong> Nacht ist. Da war halt bloß eine Neonlampe <strong>und</strong><br />
ansonsten vier Wände <strong>und</strong> vier Türen, die verschlossen waren. Und dann wurde ich<br />
da abgestellt. Ich sollte militärische Gr<strong>und</strong>haltung, also stramme Haltung annehmen.<br />
Und <strong>der</strong> Befehl lautete Fresse halten. Das war alles. Und da habe ich mehrere<br />
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St<strong>und</strong>en wirklich, mehrere St<strong>und</strong>en gestanden, ich kann das nicht mehr heute sagen<br />
ob das vier o<strong>der</strong> sechs o<strong>der</strong> acht St<strong>und</strong>en waren. .. Ich hatte den ganzen Tag noch<br />
nichts gegessen.. nichts zu trinken bekommen. Ich konnte keine Toilette aufsuchen.<br />
Ich konnte mich nicht irgendwo hinsetzen o<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> ja nicht mal entspannen.<br />
Ständig sind Erzieher o<strong>der</strong> Verwaltungsangestellte, die hat man ja an ihren<br />
Knastschlüsseln erkannt, wie sie sich durchgeschlossen haben, die sind an mir<br />
vorbei. Die haben bloß mal geguckt ob ich auch ordentlich stehe <strong>und</strong> alles in<br />
Ordnung ist sozusagen. Und .. da stehe ich da mehrere St<strong>und</strong>en. Und irgendwann ist<br />
ein Erzieher vorbei gekommen <strong>und</strong> ich habe mich wirklich getraut, o<strong>der</strong> mich gewagt,<br />
den zu fragen, ganz ruhig ganz ....sss...sachlich, fast verschüchtert, wie es denn jetzt<br />
weiter geht. Also ich hatte Hunger, ich wollte mal auf Toilette <strong>und</strong> ich hatte Durst.<br />
Und habe den nur gefragt, wie geht es denn jetzt weiter. (00:51:55-6)<br />
Und <strong>der</strong> hat mir nicht geantwortet, <strong>der</strong> war eigentlich schon fast an mir richtig vorbei.<br />
Der drehte sich bloß um, hatte sein ganz massiven Schlüsselb<strong>und</strong> in <strong>der</strong> Hand, <strong>und</strong><br />
den hat er mir einfach ins Gesicht gefeuert. Also mit <strong>der</strong> Faust ins Gesicht<br />
geschlagen. Also diesen großen .. Schlüsselb<strong>und</strong> in <strong>der</strong> Hand, den kann man sich<br />
heute in <strong>der</strong> Gedenkstätte im Jugendwerkhof Torgau ansehen. Der wiegt knapp<br />
eineinhalb Kilo. Und dann knallt <strong>der</strong> mir einen Satz an den Kopf, den werde ich auch<br />
nicht vergessen. Du hast hier nicht ungefragt Fragen zu fragen. Hier fragen wir. Und<br />
dann drehte er sich wie<strong>der</strong> um <strong>und</strong> verschwindet. Und dann stehe ich da noch mal<br />
eine St<strong>und</strong>e o<strong>der</strong> zwei, keine Ahnung. … Anschließend werde ich von dem gleichen<br />
Erzieher dort dann endlich abgeholt, von diesem kleinen Flur, schloss dann eine<br />
weitere Tür auf, dahinter befindet sich die Klei<strong>der</strong>kammer, da hatte man sich<br />
splitternackt auszuziehen vor wildfremden Menschen. In meinem Fall waren zwei<br />
männliche Erzieher dabei.., eine weibliche Zivilangestellte, die dort gearbeitet hat,<br />
<strong>und</strong> zwei junge Mädchen, die dort tagsüber arbeiten mussten, offensichtlich ebenfalls<br />
Insassen. Und dann musste ich mich im Alter von 17 ½ Jahren vor wildfremden<br />
Menschen splitternackt ausziehen. Es ist in sämtliche Körperöffnungen nicht nur<br />
reingeschaut son<strong>der</strong>n auch nachgetastet worden, ob man irgendwelche verbotenen<br />
Gegenstände in diese Einrichtung mit rein schmuggelt, die die Sicherheit hätten<br />
gefährden können. Ich weiß nicht, was die gesucht haben. Also ich kam aus einer<br />
an<strong>der</strong>en Heimeinrichtung, also ja. Und da waren ja auch schon alle verbotenen<br />
Gegenstände total verboten. Was hätte ich denn besitzen können. Weiß ich nicht.<br />
Maschinengewehre? Kettensägen? Keine Ahnung. … Das ganze Aufnahmeritual,<br />
was dort stattfand, knapp eine halbe St<strong>und</strong>e, diente ausschließlich zur persönlichen<br />
Demütigung <strong>und</strong> Entwürdigung als Mensch. .. So betrachte ich das heute<br />
rückblickend <strong>und</strong> da stehe ich nicht alleine mit meiner Einschätzung. Und wie ich das<br />
ja mittlerweile von, von vielen, vielen an<strong>der</strong>en politischen Häftlingen in <strong>der</strong> DDR nach<br />
<strong>der</strong> Wende von ihren Schil<strong>der</strong>ungen, was sie persönlich erlebt haben, erfahren habe.<br />
Das war ja in den U-Haftanstalten des MfS zum Beispiel ganz genauso. Dieses<br />
persönliche Entwürdigen. Diese persönlichen körperlichen Untersuchungen <strong>und</strong>, <strong>und</strong><br />
ja das Wegnehmen <strong>der</strong> persönlichen Kleidung. Man bekam Anstaltskleidung. .. Im<br />
Jugendwerkhof Torgau kamen noch zwei Sachen hinzu, die extrem demütigend<br />
waren. Das eine ist <strong>der</strong> Verlust <strong>der</strong> Haarpracht. Nicht so wie heute, wo ich aus<br />
natürlichen Gründen verdammt kurze Haare habe. Damals hatte ich noch ein paar<br />
Haare. Und es gibt da noch, Gott sei dank, ein paar Fotos von mir aus dieser Zeit,<br />
die das auch belegen können. Aber innerhalb von zwei Minuten hatte ich dann so<br />
einen Haarschnitt wie jetzt. Und auch die jungen Mädchen, ob die 14 o<strong>der</strong> 16 waren<br />
o<strong>der</strong> 18, die dort angekommen sind, am ersten Tag waren die Haare weg. Und das<br />
ist, das ist ein tiefer Einschnitt für einen jungen Menschen. Weil, .. das ist eine<br />
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Beson<strong>der</strong>heit vom Jugendwerkhof Torgau. Vom ersten Tag <strong>der</strong> Einweisung bis zum<br />
Tag <strong>der</strong> Entlassung wusste man nicht, wann man entlassen wird. Das ist etwas ganz,<br />
ganz Perfides, also nicht nur für einen jungen Menschen. Wenn man jemanden<br />
einsperrt <strong>und</strong> <strong>der</strong> weiß nicht, wie lange er jetzt in dieser dramatischen<br />
Lebenssituation verbleiben muss. Also, also je<strong>der</strong>, je<strong>der</strong> Vergewaltiger, je<strong>der</strong> Mör<strong>der</strong>,<br />
je<strong>der</strong> Räuber nach Rechtskraft seines Strafurteils kennt den Tag <strong>der</strong> Entlassung o<strong>der</strong><br />
kennt das Strafmaß lebenslänglich. Dann hat er halt den Tod sozusagen als sein<br />
Ziel. Und im Jugendwerkhof Torgau wusstest du nicht, bin ich hier zwei Tage, zwei<br />
Wochen, zwei Jahre? Keine Ahnung. (00:55:29-6)<br />
Und dir werden am ersten Tag die Haare abgeschnitten. Das ist an Dra.. Dramatik<br />
eigentlich kaum noch zu überbieten. Man bekommt die Anstaltskleidung. Das war im<br />
Regelfall die Arbeitsbekleidung, die man ansonsten dort in dieser Einrichtung zu<br />
tragen hat. Also für uns Jungs war es ein Arbeitsoverall, baumwollene Unterwäsche,<br />
natürlich ohne Gummilitze übrigens, damit man keine Möglichkeit hatte sich<br />
aufzuhängen, ein paar Wollstrümpfe <strong>und</strong> Arbeitsschuhe. Das war alles. Und dann ist<br />
man noch in den Duschraum geführt worden. Und das war auch eine recht schlimme<br />
Erfahrung für die meisten von uns. Also für mich zumindest auch. Dieser Duschraum<br />
war ungefähr dreißig, vierzig Quadratmeter groß. Natürlich vollständig gefliest. .. Und<br />
aus <strong>der</strong> Decke schauten, ich glaube sechs o<strong>der</strong> acht Duschköpfe raus. Und das<br />
Wasser wurde von außen über so ein großes Ventil vom Erzieher reguliert. (…) Und<br />
dann hatte ich mich zu desinfizieren. Das dauerte eine halbe St<strong>und</strong>e. Ja er hat eben,<br />
wie gesagt, kurz Wasser angemacht, dann meine Rückerinnerung, das war wirklich<br />
kaltes Wasser, maximal lauwarm <strong>und</strong> ich bin ja da im Winter am 8. Februar<br />
hingekommen. Das war arschkalt in diesem Duschraum. Ich steh da ganz alleine,<br />
schmiert <strong>der</strong> mir da so eine Paste in die Hand. Ist so ein Körperentlausungsmittel<br />
gewesen. Deditex, das weiß ich noch wie heute. Da hatte ich meinen gesamten<br />
Körper mit einzureiben. Das Wasser war dann in dem Moment abgeschaltet <strong>und</strong><br />
dann hatte ich mit wirklich ausgestreckten Armen dort eine halbe St<strong>und</strong>e zu stehen.<br />
Um diese Einwirkzeit ja … ablaufen zu lassen <strong>und</strong> dann nach einer halben St<strong>und</strong>e<br />
hat er wie<strong>der</strong> das Wasser angedreht. Ich hatte mich abzuduschen. Das hat wirklich<br />
höllisch gebrannt auf <strong>der</strong> Haut. Überall. Gerade im Schambereich. Und dann durfte<br />
ich mich abtrocknen, wie<strong>der</strong> diese Arbeitsklamotten anziehen (…) Ich hatte keinen<br />
Wi<strong>der</strong>stand geleistet, alles gemacht, was sie von mir wollten, alles über mich<br />
ergehen lassen, <strong>und</strong> ich werde in eine Gefängniszelle gesteckt. Einzelisolierung. Drei<br />
Tage. (00:58:43-3)<br />
Heute weiß ich, dass das jedem Einzelnen von den über viertausend, die jemals dort<br />
gewesen sind … dass es allen so ergangen ist, dass es eine ganz normale<br />
Maßnahme, in Anführungszeichen, eine ganze normale Maßnahme für die Erzieher<br />
<strong>und</strong> vor allem für diesen langjährigen Direktor Horst Kretzschmar gewesen ist. Man,<br />
man sollte wirklich mit dieser gesamten Einweisungsprozedur, inklusive <strong>der</strong> ersten<br />
drei, vier o<strong>der</strong> fünf Tage Einzelarrest <strong>der</strong>maßen eingeschüchtert <strong>und</strong>, <strong>und</strong> ja<br />
gebrochen werden. Regelrecht gebrochen werden. Ja das war Ziel, dass man keinen<br />
Wi<strong>der</strong>stand mehr leistet für die gesamte Unterbringungszeit in dieser Einrichtung.<br />
Und bei den meisten haben sie das erreicht. .. Der Wille <strong>und</strong>, <strong>und</strong> die Psyche des<br />
einzelnen Insassen, <strong>der</strong> dort angekommen ist, sollte vom ersten Tag an total zerstört<br />
werden. #00:59:34-8#<br />
Ich brauch eine Pause (SL schüttelt den Kopf, trinkt). (00:59:38-9) (Pause)<br />
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SL: Also wenn man überhaupt sagen kann, was wirklich das schlimmste an, das war<br />
dieser erste Tag. … Das ist... <strong>und</strong> ich hatte Hafterfahrung. Und ich habe gedacht,<br />
schlimmer kann es nicht mehr kommen, als, als die U-Haft Rummelsburg zum<br />
Beispiel (…) Ich hatte ja auch schon richtig schlimme, schlimme Sachen erlebt. Ich<br />
habe gedacht, das ist eigentlich nicht zu toppen. .. Aber <strong>der</strong> Jugendwerkhof Torgau,<br />
<strong>der</strong> hat alles getoppt. (01:00:18-7)<br />
Pause (SL trinkt) (01:00:23-3)<br />
…<br />
SL: Na diese Eingangserfahrung, wo <strong>der</strong> Erzieher mich da mit dem Schlüsselb<strong>und</strong><br />
schlägt [ist eine körperliche Misshandlung]. Das Wegsperren, ich habe ja dort über<br />
fünf Wochen in Einzelhaft verbracht, ist für mich eine körperliche Misshandlung. ..<br />
Und die permanente Androhung, die hatten da ja Schlagstöcke, Gummiknüppel, ..<br />
Handschellen <strong>und</strong> Knebelketten, so eine Zuführungskette, wie man das nannte. Das<br />
alles sind körperliche Misshandlungen. .. Dann <strong>der</strong> alltägliche Drillsport, den man dort<br />
machen musste. Also nicht nur bis zur körperlichen Erschöpfung, son<strong>der</strong>n darüber<br />
hinaus. Ist für mich absolute körperliche Misshandlung, rückblickend. Essenszwang<br />
o<strong>der</strong> Essensentzug sind für mich körperliche Misshandlungen. Selbst das<br />
Abschneiden <strong>der</strong> Haare gegen den persönlichen Willen ist für mich eine absolute<br />
körperliche Misshandlung. Eigentlich die gesamte Unterbringungszeit ist nicht nur<br />
psychische son<strong>der</strong>n auch körperliche Misshandlung gewesen. (1:04:20-1)<br />
…<br />
4.2. Einzelarrest: „Man hatte in Richtung Türspion zu schauen“<br />
SL: Das war absolut Willkür. Also das hat <strong>der</strong> Erzieher entscheiden können. In <strong>der</strong><br />
Situation, wo <strong>der</strong> Erzieher es für nötig gehalten hat jemanden zu isolieren, dann hat<br />
er das getan. Er hat am selben Tag dann einen Antrag beim Direktor geschrieben,<br />
wo er eine Arrestdauer vorgeschlagen hat. Und <strong>der</strong> Dirik...Direktor war <strong>der</strong> Einzige,<br />
<strong>der</strong> über die tatsächliche Arrestdauer entschieden hat. Es ist bis heute nicht ein<br />
einziger Fall von Arrestierung von Insassen des GJWH Torgau bekannt, wo <strong>der</strong><br />
Direktor eine Arrestierung aufgehoben hätte o<strong>der</strong> untersagt hätte. (räuspert sich) Die<br />
Misshandlung von Jugendlichen untereinan<strong>der</strong>, wenn die dann vorgekommen sind,<br />
war ein Gr<strong>und</strong> für Einzelarrestierung. Das Nichtbefolgen von Anweisungen <strong>der</strong><br />
Erzieher war ein Gr<strong>und</strong> für Arrestierung. Der Versuch ja verbotenerweise aus dieser<br />
Einrichtung zu fliehen natürlich war, war ein Gr<strong>und</strong> dafür. Die Verweigerung zu<br />
arbeiten war ein Gr<strong>und</strong> für Einzelarrestierung. Ja aber auch, weiß ich nicht, wenn<br />
man zum Beispiel bei <strong>der</strong> allabendlichen Zeitungsschau, wie sie es nannten. Da<br />
hatten wir das „Neue Deutschland“ <strong>und</strong> die „Junge Welt“ dort auf dem Tisch zu<br />
liegen. In jedem Gruppenraum lagen halt mehrere Zeitschriften <strong>und</strong> die hatten wir<br />
halt durchzulesen, Zeitungen. Und dann wurden wir abgefragt vom Erzieher, ob wir<br />
das denn auch verstanden hätten <strong>und</strong> wie wir das beurteilen <strong>und</strong> bewerten, was da<br />
steht. Und das war, wenn man die Tagespresse <strong>der</strong> DDR kennt, natürlich die<br />
üblichen kommunistischen Phrasen, die Parolen, die verbreitet wurden, <strong>und</strong> die<br />
Erfolgsmeldungen aus <strong>der</strong> DDR-Wirtschaft <strong>und</strong> wie überlegen <strong>der</strong> Sozialismus <strong>und</strong><br />
trallala... ist. Und natürlich gab es da auch negative Wortmeldungen von den<br />
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Insassen, die ja einfach mal eine ganz an<strong>der</strong>e politische Auffassung hatten. So wie<br />
ich zum Beispiel. Und wer sich dort politisch negativ geäußert hat, in dieser<br />
Zeitungsshow, dem drohten drei o<strong>der</strong> fünf o<strong>der</strong> zehn Tage Einzelarrest. Also selbst<br />
solche Banalitäten .. führten zum Einzelarrest. Für die Kontaktaufnahme zum<br />
an<strong>der</strong>en Geschlecht, das war strengstens verboten, größtenteils auch eigentlich<br />
räumlich gar nicht möglich. Aber wer dort versucht hat, Kontakt zum an<strong>der</strong>en<br />
Geschlecht aufzunehmen <strong>und</strong> dazu gehörte schon Blickkontakt. Also wenn ich Ihnen<br />
jetzt in die Augen schaue <strong>und</strong> Sie sind eine Frau <strong>und</strong> ich bin ein Mann <strong>und</strong> da steht<br />
ein Erzieher von Torgau, dann wären wir jetzt beide für drei o<strong>der</strong> fünf Tage auf<br />
Einzelarrest, nur weil wir uns angucken. (1:07:05-0)<br />
…<br />
Dann muss man sich vor Augen halten, wie die Einzelarrestzellen aussahen. Die<br />
waren also noch nicht mal acht o<strong>der</strong> neun Quadratmeter groß. Da stand ein<br />
Zehnlitereimer für die Notdurft drin. Man hatte also kein Trinkwasser in dieser<br />
Einzelzelle. Man hatte kein Wasserklosett, son<strong>der</strong>n wirklich nur so einen Eimer mit<br />
ein bisschen Chlorkalk drin, wo man halt drauf gehen sollte, seine Notdurft<br />
verrichten. Und es stand in <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Zelle, dort hat ja zumindest auf Anweisung<br />
<strong>der</strong> Erzieher zu stehen, ein Holzhocker. Und da, wenn <strong>der</strong> Erzieher das erlaubt hatte<br />
vorher, durfte man den eben tagsüber benutzen, also sich rauf setzen. Immer mit<br />
Blick Richtung Tür. Da war so ein Türspion, wie in so einer Gefängniszelle, wo dann<br />
in unregelmäßigen Abständen <strong>der</strong> Erzieher durchgeschaut hat, ob auch alles in<br />
Ordnung ist. Also auf Anweisung alles befolgt wurde. Und es stand eine Holzpritsche<br />
in dieser Zelle. Tagsüber hochkant, durfte nur in <strong>der</strong> Nachtruhe zwischen<br />
ein<strong>und</strong>zwanzig <strong>und</strong> weiß ich nicht früh halb sechs benutzt werden. .. Und die stand<br />
da halt hochkant drin. Und mehr war da nicht drin. Man hatte dort keine Zeitung,<br />
keine persönlichen Gegenstände, keine Stifte o<strong>der</strong> irgendwas. Man hatte nur diese,<br />
diese Arbeitsbekleidung an. Keine persönlichen Gegenstände <strong>und</strong> dann wie von mir<br />
beschrieben diese Inneneinrichtung, man hatte in <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Zelle zu stehen o<strong>der</strong><br />
auf dem Hocker zu sitzen <strong>und</strong> in Richtung Türspion zu schauen. Und immer wenn die<br />
Tür aufging, hatte man Gr<strong>und</strong>haltung anzunehmen, also aufzuspringen, stramm,<br />
militärische Gr<strong>und</strong>haltung. Man hatte Meldung zu machen. Also wirklich so,<br />
Jugendlicher <strong>Lauter</strong> arrestiert wegen Wi<strong>der</strong>stand o<strong>der</strong> Nichtbefolgen einer<br />
Anweisung eines Erziehers zehn Tage Einzelarrest, vier Tage verbüßt. Das war die<br />
Meldung, die man zu machen hatte. So in etwa. Und wenn das alles nicht exakt <strong>und</strong><br />
ordentlich passierte, dann konnte es passieren, dass entwe<strong>der</strong> <strong>der</strong> Erzieher mit<br />
einem zweiten Erzieher die Einzelzelle sogar betreten hat mit Gummiknüppel in <strong>der</strong><br />
Hand. Und dann hatte man eben den, wie ich das nachträglich nenne, den<br />
sozialistischen Wegweiser gespürt. Also man wurde verprügelt, das war eine<br />
Möglichkeit. Die häufigste Sanktion, die auf solche Verstöße, wie sie es nannten,<br />
erfolgte war aber Strafsport. Also wirklich, da wurde man rausgeholt aus <strong>der</strong><br />
Einzelzellen <strong>und</strong> auf den Flur geführt. Und da hatte man dann hun<strong>der</strong>t Liegestütze,<br />
Kniebeuge o<strong>der</strong> den sogenannten „Torgauer Dreier“ zu machen. Der „Torgauer<br />
Dreier“ ist eine, ja, Sportübung in flüssiger Form. Wo man aus dem Stand in den<br />
Liegestütz fällt, Liegestütz ausführt, zurück springt in die Hocke, eine Kniebeuge<br />
macht <strong>und</strong> dann einen Hockstrecksprung. Und dann macht man wirklich in<br />
Zehnerfolgen zweihun<strong>der</strong>t, dreihun<strong>der</strong>t o<strong>der</strong> fünfhun<strong>der</strong>t davon. Bis man also<br />
körperlich total zusammen gebrochen ist. Und dann wurde man zurück gebracht in<br />
die Einzelzelle. Und dann war man wie<strong>der</strong> auf dem sozialistischen Weg. (1:10:08-2)<br />
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Das war so <strong>der</strong> Tagesablauf im Einzelarrest. (1:10:13-9)<br />
...<br />
Ich habe nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung knapp vier-/ fünfhun<strong>der</strong>t ehemalige Insassen<br />
mittlerweile kennengelernt, auf Ehemaligentreffen. Und die Erzählungen gleichen<br />
sich. Man hatte das Gefühl <strong>der</strong> Hoffnungslosigkeit, <strong>der</strong> .. <strong>der</strong> Leere <strong>und</strong> auch Angst.<br />
Man wusste gar nicht, wie man die Zeit totschlagen sollte dort. Also man bekam<br />
reduziertes Essen, ja ein Frühstück da, bekam ein viertel Liter zu trinken <strong>und</strong>, <strong>und</strong><br />
zwei dünn beschmierte Mischbrotscheiben. Mittagessen war das gleiche wie, wie auf<br />
Gruppe. Auch noch mal einen viertel Liter zu trinken, meist Tee o<strong>der</strong> Muckefuck, also<br />
ein Ersatzkaffee. Und abends gab es dann auch wie<strong>der</strong> bloß zwei dünn beschmierte<br />
Stullen <strong>und</strong>, <strong>und</strong> wie<strong>der</strong> so einen viertel Liter Tee zu trinken. Das war es. Und wenn<br />
man da, am Vormittag meistens, wenn die Gruppen auf dem Arbeitsbereich waren,<br />
dann hatten die Erzieher sozusagen Langeweile <strong>und</strong> dann haben sie sich die<br />
Arresttanten geschnappt. Entwe<strong>der</strong> einzeln o<strong>der</strong> auch mal zwei zusammen. Und<br />
dann haben wir dort entwe<strong>der</strong> st<strong>und</strong>enlang auf allen Vieren diesen Fliesenflur<br />
geschrubbt mit Handwaschbürsten <strong>und</strong>, <strong>und</strong> Scheuerpulver. O<strong>der</strong> es wurde<br />
Strafsport gemacht bis zum Umfallen. Damit haben die Erzieher ihren, ihren<br />
Vormittag überbrückt sozusagen. Wenn sie nicht irgendwelche Berichte geschrieben<br />
haben. .. Und das war <strong>der</strong>...<strong>der</strong> sogenannte Tagesablauf für einen Arresttanten.<br />
(1:11:49-9)<br />
4.3. Der „normale“ Tagesablauf: „Keine Minute (…) individueller persönlicher<br />
Freiheit“<br />
SL: Der Direktor Horst Kretzschmar, <strong>der</strong> die Einrichtung drei<strong>und</strong>zwanzig Jahre, also<br />
wirklich bis zum Frühjahr '89 geleitet hat, <strong>der</strong> hat das mal in seiner Diplomarbeit so<br />
beschrieben. Der Tagesablauf im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau ist<br />
durchstrukturiert. Rückblickend heißt das, es gibt nicht eine einzige Minute, nicht eine<br />
Sek<strong>und</strong>e individueller persönlicher Freizeit. Und das fängt wirklich mit dem Wecken<br />
früh um halb sechs an, Meldung im Schlafraum: keine beson<strong>der</strong>en Vorkommnisse.<br />
O<strong>der</strong> es gab beson<strong>der</strong>e Vorkommnisse, dann musste das gemeldet werden. Wenn<br />
sich zum Beispiel Jugendliche nachts da geprügelt haben im Schlafraum o<strong>der</strong><br />
irgendwas. Dann wurden die Betten gebaut wie bei <strong>der</strong> Armee o<strong>der</strong> im Knast. In den<br />
Schlafräumen gab es auch kein Trinkwasser. Auch kein Wasserklosett. Da waren<br />
zwölf bis sechzehn Jugendliche jeweils untergebracht, da gab es auch nur diesen<br />
Zehnliter..., wie ich immer sage, Scheißeimer. Der musste früh morgens auf dem Hof<br />
in so einer Klärgrube, in so einen Kanalschacht ausgeschüttet werden. Und dann<br />
danach wurde er ausgewaschen. Jeden Tag musste <strong>der</strong> Schlafraum mindestens<br />
gefegt werden. Wenn nicht sogar gebohnert. Dann wurde <strong>der</strong> verschlossen. Und<br />
dann haben, dann hatten wir eine halbe, dreiviertel St<strong>und</strong>e, im kurzen Sportzeug<br />
übrigens, bei Wind <strong>und</strong> Wetter. Wie gesagt, ich kam im Winter '85 dort in diese<br />
Einrichtung. Im kurzen Sportzeug auf dem Freihof Frühsport machen. Und Frühsport<br />
war nichts an<strong>der</strong>es als jeden Morgen drei Kilometer Ausdauerlauf, teilweise mit<br />
Hanteln in den Händen beschwert. Im Kreis laufen, R<strong>und</strong>e um R<strong>und</strong>e. Und dann in<br />
<strong>der</strong> Gruppe wie<strong>der</strong> antreten, wie eine Sportriege. Also wirklich so nebeneinan<strong>der</strong>,<br />
ne? Der Kleinste rechts, <strong>der</strong> Größte links. Und dann auf Anweisung des Erziehers<br />
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mehrere Hun<strong>der</strong>te von Liegestütze o<strong>der</strong> Kniebeuge, Torgauer Dreier,<br />
Hockstrecksprünge. Also wirklich bis man nicht mehr konnte. Das nannten die<br />
Frühsport. Und dann ging es in den Waschraum. Jeden frühen Morgen mit kaltem<br />
Wasser, wirklich mit kaltem Wasser. An einem ganz großen Waschbecken, wie man<br />
das vielleicht von DDR-Zeltplätzen kennt, konnte man sich Zähne putzen <strong>und</strong> sich<br />
ein bisschen waschen. Dann hatte man seine Arbeitskleidung im Gruppenraum<br />
anzuziehen <strong>und</strong> das Sportzeug alles, wie beim Militär, wurde alles ordentlich<br />
zusammen gepackt. Päckchen bauen nennt man das, ne? Und die Schuhe wurden<br />
vielleicht noch kurz gesäubert <strong>und</strong> gereinigt. Alles ordentlich aufgestellt. Und dann<br />
wurde man übergeben an den Arbeitserzieher, <strong>der</strong> den Arbeitsablauf dann im<br />
Arbeitsbereich für jede einzelne Gruppe, getrennt übrigens, ja zu überwachen,<br />
anzuleiten hatte. Dann hat man acht St<strong>und</strong>en am Tag dort gearbeitet. Vier Tage die<br />
Woche. Ein Tag in <strong>der</strong> Woche war sogenannter Schultag. Das werde ich noch mal<br />
kurz extra erklären. Der Schultag für jede Gruppe, auch wie<strong>der</strong> einzeln getrennt, fand<br />
in <strong>der</strong> dritten Etage des Gebäudes, also in <strong>der</strong> Haftanstalt statt. Wo man aus<br />
mehreren Einzelzellen einen größeren Raum durch Entfernen <strong>der</strong> Trennwände<br />
irgendwann mal geschaffen hatte. Da standen ganz normale Schultische drin <strong>und</strong><br />
Stühle. Und dann bekam man Bleistift, noch nicht mal einen Füller o<strong>der</strong>, o<strong>der</strong><br />
Kugelschreiber, son<strong>der</strong>n Bleistifte <strong>und</strong> ein Lineal <strong>und</strong> dann Hefte. Das war alles. .. Ja<br />
<strong>und</strong> da hatte man vier Unterrichtsst<strong>und</strong>en. Mehr gab es gar nicht. Mathe, auf dem<br />
Niveau <strong>der</strong> siebten Klasse ungefähr. Deutschunterricht auf einem Niveau <strong>der</strong> siebten<br />
Klasse, also <strong>der</strong> allgemeinen DDR-Schule. Staatsbürgerk<strong>und</strong>eunterricht. Na wen<br />
wun<strong>der</strong>t es? Und dann gab es einfach, was ich halbwegs für sinnvoll gesehen habe,<br />
Lehrunterweisung, nannten die das. Und das hat damit zu tun, die älteren Jungs, in<br />
meinem Fall, also die Gruppe eins, wo ich mit untergebracht war, im Erdgeschoss.<br />
Wir haben in zwei Maschinenräumen gearbeitet tagsüber. An Stän<strong>der</strong>bohrmaschinen<br />
<strong>und</strong>, <strong>und</strong> haben dort Normteile gebohrt <strong>und</strong> Gewinde geschnitten. Also<br />
Metallverarbeitung. Ja wo kamen denn die Insassen her, die waren vielleicht aus<br />
irgendeinem Jugendwerkhof, wo die sogenannte Teilfacharbeiterausbildung im<br />
gärtnerischen Bereich war. Und die Mädchen, die aus dem Werkhof kamen, die dort<br />
zu Küchenhilfen ausgebildet wurden. Die hatten doch keine Ahnung von<br />
Elektrotechnik o<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> Metallverarbeitung o<strong>der</strong> überhaupt irgendeine technische<br />
Erfahrung. Und deshalb hatte man dieses vierte Fach. Und das war alles. Das<br />
nannten die Schulbildung. (1:16:15-4)<br />
Na das kannst du in die Tonne kloppen, so was. Der Arbeitstag, die an<strong>der</strong>en vier<br />
Tage waren wirklich von früh um achte bis 16 Uhr, nur unterbrochen durch eine<br />
Zehnminutenpause für ein zweites Frühstück, was wir im Stehen eingenommen<br />
haben. Also da bekam man kurz was zu trinken <strong>und</strong> vielleicht einen halben Apfel<br />
o<strong>der</strong> eine halbe Stulle o<strong>der</strong> irgendwas. Das nannten die zweites Frühstück. Dann<br />
gab es mittags im Speiseraum, davon gab es übrigens nur einen, ein einziger<br />
Speiseraum für drei Gruppen. Das heißt die drei Gruppen haben zeitversetzt<br />
gegessen. Jede Gruppe hatte nur 15 Minuten pro Mahlzeit. … Also wie gesagt,<br />
Mittagessen <strong>und</strong> dann 16 Uhr wie<strong>der</strong> Übergabe im Gruppenbereich an die<br />
pädagogischen Erzieher. Und dann wurden die Arbeitsleistungen ausgewertet. Und<br />
das hatte dann auch wie<strong>der</strong> Konsequenzen o<strong>der</strong> auch einen Sinn sozusagen. Also<br />
aus Sicht <strong>der</strong> Erzieher einen Sinn. Wer schlecht für seine Arbeitsleistung<br />
eingeschätzt wurde, benotet o<strong>der</strong> bewertet wurde, <strong>der</strong> bekam zum Abendbrot<br />
entwe<strong>der</strong> die Hälfte o<strong>der</strong> gar nichts zu Essen. Und wenn man Arbeitsverweigerung<br />
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o<strong>der</strong> Sabotage dem Jugendlichen unterstellt wurde, dann drohte sogar Einzelarrest.<br />
Habe ich ja schon mal erwähnt. … Ja. (1:17:31-6)<br />
Nach <strong>der</strong> Arbeitsübergabe im Gruppenbereich an den Erzieher, hatte man dann nicht<br />
irgendwie Freizeit, ne? So wie man sich das heute vorstellt, wenn ich, weiß ich nicht,<br />
Lehrling o<strong>der</strong> Azubi meinetwegen im Einzelhandel bin. Dann habe ich da meine<br />
Berufsschule <strong>und</strong> dann fahre ich nach <strong>Haus</strong>e <strong>und</strong> hab dann meine Freizeit. Ist im, im<br />
geschlossenen Jugendwerkhof Torgau nicht so. Son<strong>der</strong>n (lacht) wir hatten nach <strong>der</strong><br />
Arbeitszeit meist die Möglichkeit zum, zum Duschen. Dann wurden wir zum<br />
Duschraum geführt, <strong>der</strong> tagsüber immer verschlossen war. Nur wenn <strong>der</strong> Erzieher<br />
uns dort hin geschlossen hat, durften wir halt eben in <strong>der</strong> Gruppe duschen. Dann<br />
wurden wir zurückgeführt in den Gruppenraum. Und dann hieß es wie<strong>der</strong> Sportzeug<br />
anziehen <strong>und</strong> dann haben wir den ganzen Nachmittag dieselbe Soße gemacht wie<br />
zum Frühsport. Sind wir wie<strong>der</strong> auf den Hof geführt worden. Und wie<strong>der</strong><br />
Ausdauerlauf bis zum Umfallen. Wie<strong>der</strong> Kniebeuge, Torgauer Dreier,<br />
Hockstrecksprünge o<strong>der</strong> was auch immer. Und wir hatten eine militärische<br />
Sturmbahn auf dem, auf dem Gelände. Da gibt es heute auch, Gott sei Dank, Fotos<br />
von. Und über diese Sturmbahn sind wir in Arbeitsklamotten drüber gejagt worden.<br />
Also mit den schweren Arbeitsschuhen <strong>und</strong> diesen Arbeitsoverall. Immer zu zweit,<br />
man sieht es auf den Fotos recht gut. Da sind zwei Wippen <strong>und</strong> zwei Kriechgänge<br />
nebeneinan<strong>der</strong> <strong>und</strong> die Eskaladierwand. Immer zweie nebeneinan<strong>der</strong>. R<strong>und</strong>e um<br />
R<strong>und</strong>e. Zwanzig, dreißig, vierzig Mal drüber. Bis <strong>der</strong> Erste endlich zusammen<br />
gebrochen ist <strong>und</strong> <strong>der</strong> Erzieher dann zu weiteren Sanktionen, ja, vorgegangen ist.<br />
(1:18:59-8)<br />
…<br />
SL: Das ist. … Also rückblickend für die Jugendhilfeeinrichtungen, die ich<br />
durchlaufen bin ein Novum gewesen. Für das Fehlverhalten o<strong>der</strong> Nichterbringen<br />
einer Leistung eines Einzelnen ist immer die gesamte Gruppe bestraft worden. Das<br />
nannten die Kollektiverziehung. … Also wenn Stefan nach hun<strong>der</strong>tfünfzig<br />
Liegestützen zusammen gebrochen ist, dann hat <strong>der</strong> Erzieher angewiesen, dass die<br />
gesamte Gruppe weitere fünfzig Liegestütze macht. Nur weil ich das nicht geschafft<br />
habe. Und das hatte Konsequenzen, diese sogenannte Selbsterziehung o<strong>der</strong><br />
Kollektiverziehung. Das führte nämlich dann, in <strong>der</strong> Nachtruhe, wo <strong>der</strong> Erzieher nicht<br />
dabei war. Der hat da wirklich nur alle halbe St<strong>und</strong>e durch den Spion geguckt. In den<br />
Schlafräumen waren die Jugendlichen ja unter sich. Und das führte dann zur<br />
wirklichen Selbsterziehung. Da hast du nämlich ein paar auf die Fresse gekriegt von<br />
den an<strong>der</strong>en. .. Du, weil du versagt hast, dich wi<strong>der</strong>setzt hast o<strong>der</strong><br />
zusammengebrochen bist, hast dafür gesorgt, dass alle noch mehr gequält wurden.<br />
Also kriegst du jetzt ein paar auf die Fresse. Und morgen schaffst du deine<br />
zweihun<strong>der</strong>t Liegestütze. Und wehe nicht. Dann kriegst du wie<strong>der</strong> ein paar auf die<br />
Fresse. (1:20:10-7)<br />
Und das funktionierte. Also ich habe in meiner Zeit in Torgau einige Jugendliche<br />
erlebt, die das aus körperlichen Gründen wirklich nicht geschafft haben. Also an<br />
einen kann ich mich erinnern, <strong>der</strong> ist noch nicht mal einsfünf<strong>und</strong>sechzig gewesen,<br />
wog aber ungefähr hun<strong>der</strong>tzwanzig Kilo. Also leicht adipös. Dass <strong>der</strong> nicht über die<br />
Eskaladierwand gekommen ist beim, beim Bewältigen <strong>der</strong> Sturmbahn, das ist ja wohl<br />
nachvollziehbar. Der bekam nachts ein paar auf die Fresse <strong>und</strong> am nächsten Tag<br />
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kam er drüber. .. So funktioniert die menschliche Psyche schlicht <strong>und</strong> ergreifend. Und<br />
ja diesen Umstand o<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> diese Tatsache hat sich diese Einrichtung <strong>und</strong> das<br />
haben sich die Erzieher <strong>und</strong> vor allem <strong>der</strong> Direktor zu Nutze gemacht. (1:20:54-4)<br />
SL: Wenn es nachts zu massiven Übergriffen gekommen ist in diesen<br />
Schlafräumen… natürlich haben die Erzieher das mitbekommen. Aber das gab, wie<br />
ich es heute weiß, damals wusste ich es nicht, habe ich mich nur gewun<strong>der</strong>t, warum<br />
<strong>der</strong> Erzieher nicht die Tür aufschließt. Es gab eine Dienstanweisung des Direktors,<br />
dass nachts wegen <strong>der</strong> Unterbesetzung vom Personal es nur im aller, aller äußersten<br />
lebensbedrohlichen Notfall den Erziehern gestattet ist, die Schlafräume zu öffnen,<br />
aufzuschließen. Ansonsten erst nach Beendigung <strong>der</strong> Nachtruhe ist eben auf solche<br />
Ereignisse erzieherisch einzuwirken, sprich mit Einzelisolierung, Arrestierung. Zack.<br />
Die haben nachts die Schlafräume da nicht geöffnet. Und auch wenn sie das<br />
mitgekriegt haben, meist haben sie es ja gar nicht mitgekriegt. Das ist so wie in<br />
normalen Haftanstalten, in Anführungszeichen, normalen Haftanstalten, dass<br />
Häftlinge ja auch nicht blöd sind. Wenn da jemand über den Flur läuft, das hörst du.<br />
Wenn <strong>der</strong> Metalldeckel vom Türspion sich bewegt, das hörst du. Dass du gerade<br />
beobachtet wirst. Da wirst du ja auch keinen an<strong>der</strong>en drangsalieren, ne? Und wenn<br />
dann die Schritte sich wie<strong>der</strong> entfernen, dann haust du wie<strong>der</strong> zu. Und genauso ist<br />
das eben meist gewesen, dass das eben nicht gleich entdeckt wurde. Entwe<strong>der</strong> gab<br />
es körperliche Spuren, sodass die Erzieher darauf gekommen sind, dass da eine<br />
Misshandlung stattgef<strong>und</strong>en hat unter den Jugendlichen, o<strong>der</strong> das Opfer hat sich den<br />
Erziehern sozusagen anvertraut. Mit an<strong>der</strong>en Worten er wurde zur Petze, zum<br />
Anscheißer. Das war denn <strong>der</strong> nächste Weg, um solche Sachen sozusagen<br />
aufzudecken. Und dann haben die Erzieher erst mit ihren Sanktionen eingegriffen.<br />
(1:22:26-7)<br />
Ja <strong>und</strong> nach diesem Nachmittagssport auf diesem Hof o<strong>der</strong> diese, diese sogenannte,<br />
nannten die ja auch vormilitärische Ausbildung, diese Sturmbahn da ständig, ständig<br />
zu überwinden. Dann war das halt irgendwann 16 nein, 16 Uhr sind wir ja raus.<br />
17:30, knapp 18 Uhr Vorbereiten zum Abendbrot. Und dann wurde man wie<strong>der</strong> in<br />
den Speiseraum geführt. Mit dem Speiseraum, das ist noch mal eine ja Demütigung<br />
hoch zehn gewesen. Nicht nur das man eine begrenzte Essenszeit hatte, son<strong>der</strong>n in<br />
diesem Speiseraum hatte absolute Stille zu herrschen. Wirklich absolute Stille. Und<br />
das war nicht ganz so einfach. Da standen vier Tische mit sechs Hockern, die Hocker<br />
hatten ein Stahlgerüst. Und unten an den Füßen von diesen Stahlhockern fehlten die<br />
Gumminoppen. Jetzt schauen sie sich mal ihren Stuhl an. Da sind solch kleine<br />
Plastikschoner. Hat man heute, ne? Hartplastik. Zu DDR-Zeiten waren das wirklich<br />
Gumminoppen, die da meistens unten an den Stühlen unten dran waren. Die fehlten.<br />
Ja <strong>und</strong> <strong>der</strong> Fußboden, das waren Terrazzoplatten. Das waren Steinplatten. Nehmen<br />
sie mal ihren Wohnungsschlüssel <strong>und</strong> gehen mal auf den Bürgersteig <strong>und</strong> ziehen<br />
den Schlüssel mal so über den Steinfußboden. Entstehen immer Geräusche. So, da<br />
hatten wir einzurücken <strong>und</strong> uns hinter den Stuhl zu stellen, in ordentlicher<br />
militärischer Gr<strong>und</strong>haltung. Der Erzieher gab den Befehl „Setzen“. Wenn auch nur<br />
ein Geräusch entstanden ist beim Hinsetzen: „Auf…setzen!“. Bis es klappte. Können<br />
sie sich vorstellen, dass 15 Minuten schnell um sind. Und <strong>der</strong> letzte Befehl ist dann<br />
nicht mehr „Auf…setzen!“, son<strong>der</strong>n „Raus!“. (1:24:00-0)<br />
Und .. das ist eine <strong>der</strong> hauptsächlichen Möglichkeiten gewesen, Essensentzug<br />
durchzuziehen, ohne es auszusprechen. Dann hast du schlicht <strong>und</strong> ergreifend nicht<br />
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essen können. Und ich kann ihnen versichern in den 16 Wochen, die ich da war,<br />
hatte ich jeden Tag so einen Kohldampf aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> psychischen <strong>und</strong> körperlichen<br />
Überbelastung. Wenn da eine Mahlzeit ausgefallen ist, <strong>und</strong> dann stand halt die<br />
Kartoffelsuppe vor dir. Und du hast den Geruch in <strong>der</strong> Nase, weil es noch warm war<br />
<strong>und</strong> dann durftest du nicht essen. Und dann hieß es rausrücken <strong>und</strong> weiter arbeiten.<br />
Und dann den körperlichen, ja die körperliche Überbelastung beim Strafsport<br />
draußen wie<strong>der</strong> auf dem Hof den ganzen Nachmittag. Und dann hast du erst zum<br />
Abendbrot wie<strong>der</strong> was gekriegt. Das ist nicht nur zwei-/ dreimal die Woche die<br />
Woche passiert, son<strong>der</strong>n sieben-, acht-, zehnmal. Verschiedene Mahlzeiten, die<br />
einfach ausgefallen sind. Also ich habe erheblich an Körpergewicht in diesen<br />
Wochen verloren. Ich bin mit knapp achtzig Kilo reingekommen <strong>und</strong> mit<br />
drei<strong>und</strong>sechzig Kilo, das werde ich nie vergessen, mit drei<strong>und</strong>sechzig Kilo entlassen<br />
worden. (1:25:02-1)<br />
Und wie ich heute weiß, das ist ja auch aus den Unterlagen <strong>der</strong> einzelnen<br />
ehemaligen Insassen nachvollziehbar heute, also belegbar. Ich war da nicht <strong>der</strong><br />
Einzige. Wirklich durch die Bank weg, die Insassen haben an Körpergewicht<br />
verloren. Na wen wun<strong>der</strong>t es denn? … Ja <strong>und</strong> nach dem Abendbrot wie<strong>der</strong> zurück in<br />
den Gruppenbereich. Übrigens man ist von Örtlichkeit zu Örtlichkeit immer wie eine<br />
Sportriege durch den Werkhof durchgeschlossen worden. Die einzelnen Bereiche<br />
waren ja immer durch Gittertüren voneinan<strong>der</strong> getrennt. Die Sanitärräume waren<br />
tagsüber immer verschlossen. Man wurde immer nur vom Erzieher hingeführt. Und<br />
durchgeschlossen <strong>und</strong> trallala. Alle Bewegungen im Laufschritt. .. Im ja leichten<br />
Dauerlauf mit angewinkelten Armen. Alles militärisch exakt. Nur im Arbeitsbereich<br />
durfte kein Dauerlauf ausgeführt werden, weil dort von dieser Bohrmilch <strong>der</strong><br />
Fußboden halt rutschig war. (1:25:55-9)<br />
Man wurde also nach dem Abendbrot wie<strong>der</strong> zurückgebracht in den Gruppenbereich.<br />
Dann lagen die Zeitungen im Gruppenraum ja auf dem Tisch. Diese von mir schon<br />
angesprochene Zeitungsshow, wo man dann möglichst auswendig lernen musste,<br />
was da drin stand. Und während dieser Zeitungsshow, da gab es immer drei, fünf<br />
manchmal mehr Jugendliche pro Gruppe, die auf dem Stationsbereich, also auf dem<br />
Flur, Strafsport machen mussten. Das waren irgendwelche Sanktionen für<br />
irgendwelche Fehlleistungen am Tage. Und die wurden genau in dieser Zeit<br />
ausgeführt. Und <strong>der</strong> Erzieher sitzt in seinem Erzieherzimmer, hat den Flur im Blick<br />
<strong>und</strong> den Gruppenraum, <strong>der</strong> ist ja gleich um die Ecke, hat er im Ohr sozusagen. Hat<br />
die Sache unter Kontrolle <strong>und</strong> kann aber genüsslich, heute weiß man das von dem<br />
einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en, da gab es auch Alkoholiker unter den Erziehern. Der eine hat<br />
Zigarre gepafft, die meisten haben sowieso geraucht, also Zigaretten. Und die haben<br />
sich dann diese viertel o<strong>der</strong> halbe St<strong>und</strong>e, während die Jugendlichen, also wir,<br />
Zeitung lesen mussten, das auswendig lernen mussten, in ihrem Erzieherzimmer<br />
aufgehalten. Und wenn es irgendwelche Streitigkeiten gab, ist es gelegentlich<br />
vorgekommen, also dann Prügeleien zum Beispiel unter den Jugendlichen im<br />
Gruppenraum während dieser Zeitungsshow kam, aus nichtigsten Anlässen. Da sind<br />
die Erzieher dann eingeschritten. Im Erzieherraum hatten sie immer drei<br />
Gummiknüppel zu liegen (…) Da sind die Erzieher gekommen, hatten den<br />
Gummiknüppel in <strong>der</strong> Hand <strong>und</strong> hatten dazwischen gedroschen <strong>und</strong> für Ruhe <strong>und</strong><br />
Ordnung gesorgt. Ja <strong>und</strong> nach <strong>der</strong> Zeitungsshow wurde <strong>der</strong> Tag ausgewertet. Dann<br />
mussten wir auf dem Flur antreten <strong>und</strong> dann wurde eben <strong>der</strong> gesamte Tag noch mal<br />
ausgewertet vom Erzieher. Ja <strong>und</strong> dann wurden Bestrafung <strong>und</strong> Belobigung<br />
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ausgesprochen. Belobigung, also in meinem Fall habe ich das drei Mal erlebt. Dann<br />
in <strong>der</strong> zweiten Etage gab es einen extra Gruppenraum, da stand ein Aquarium drin.<br />
Also war irgendwie ein bisschen an<strong>der</strong>s ausgestattet, als man sich eine gewöhnliche<br />
Gefängniszelle vorstellte. Da stand ein Fernseher drin, ein Aquarium <strong>und</strong> gepolsterte<br />
Stühle, was man sonst nicht hatte. Also so ähnliche Stühle wie hier. Und dann durfte<br />
man da eine halbe St<strong>und</strong>e Fernsehen gucken auf den Abend. Das war eine<br />
Belobigung, wenn Du vier o<strong>der</strong> ja sämtliche vier Tage in <strong>der</strong> Woche immer als<br />
Tagesbester ausgewertet wurdest von <strong>der</strong> Arbeitsleistung. Dann konnte dir das<br />
passieren, dass du Wochenbester deiner Gruppe wurdest. Und dann durftest du am<br />
Montag <strong>der</strong> Folgewoche abends eine halbe St<strong>und</strong>e Fernsehen gucken. Jetzt halten<br />
sie sich fest, abends neunzehn Uhr dreißig, was lief auf a...ähm nee auf ARD hätte<br />
ich beinahe gesagt, was lief im ersten DDR Fernsehen? Die<br />
Hauptnachrichtensendung Aktuelle Kamera. (1:28:44-5)<br />
…<br />
Es soll auch zu Aufenthaltsverkürzungen gekommen sein, in Einzelfällen, die <strong>der</strong><br />
Direktor dann veranlasst hat. Wenn jemand sich permanent mehr als positiv im<br />
Jugendwerkhof Torgau verhalten hat. Und dem man nicht unterstellt hat, <strong>und</strong> das ist<br />
auch noch recht perfide, das ist in meinem Fall zum Beispiel passiert. Wer sich dort<br />
normal verhalten hat <strong>und</strong> alle Anweisungen befolgt hat, unauffällig war <strong>und</strong> sonst<br />
was, dem wurde unterstellt, dass er seinen wahren Charakter noch nicht zeigt. Sein<br />
wahres Gesicht noch nicht zeigt. Dass er also schauspielert. Weil er muss ja so ein<br />
schlimmer Finger gewesen sein, so einen Wi<strong>der</strong>stand geleistet haben, so verbohrt<br />
gewesen sein, sonst wäre er ja niemals nach Torgau gekommen. Und plötzlich<br />
verhält er sich ganz normal, macht alles. Alles auf Anweisung. Nein, das kann nicht,<br />
also da kann was nicht stimmen. In meiner Akte kann man das nachlesen, da steht<br />
es drin. Schon nach drei o<strong>der</strong> vier Wochen. In meinem Berichtsbogen schreibt ein<br />
Erzieher, <strong>der</strong> zeigt uns seinen wahren Charakter noch nicht. Wir werden noch viel<br />
Freude an ihm haben. Freude in Anführungszeichen. Aber bei den Jugendlichen, wo<br />
<strong>der</strong> Direktor, o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gruppenerzieher das eingeschätzt hat, dass <strong>der</strong> eben sich<br />
nicht verstellt, das ist alles ehrlich gemeint. Da konnte es im Einzelfall schon mal<br />
passieren, dass ihm, weiß ich nicht, drei o<strong>der</strong> vier Wochen erspart geblieben sind<br />
<strong>und</strong> er vorzeitig entlassen wurde. Aber das war in meinem Fall auch nicht so. Und<br />
das ist so, da ist Ende <strong>der</strong> Fahnenstange mit irgendwelcher Form von Belobigung.<br />
Das Strafregister, das ist wesentlich umfangreicher. (1:32:18-0)<br />
4.4. Körperliche <strong>und</strong> seelische Ges<strong>und</strong>heit: „…ohne Bef<strong>und</strong>“<br />
(…) Es gab einen Anstaltsarzt. Es soll auch zeitweise dort eine Krankenschwester<br />
angestellt gewesen sein. Zu meiner Zeit gab es keine Krankenschwester. Vom<br />
Sozialarbeiter <strong>und</strong> Psychologen ist da überhaupt keine Rede. Obwohl es da eine<br />
Planstelle für gab, eine Arbeitsstelle. Es gab dort nie einen Psychologen o<strong>der</strong>, o<strong>der</strong><br />
eine Sozialarbeiterin. Es gab einen Anstaltsarzt. Und das war immer <strong>der</strong> Leiter <strong>der</strong><br />
Poliklinik. Also eines Gemeinschaftsärztehauses, wie man das heute bezeichnet. Der<br />
Leiter <strong>der</strong> städtischen Poliklinik von Torgau ist einmal die Woche für zwei, drei o<strong>der</strong><br />
vier St<strong>und</strong>en zur Sprechst<strong>und</strong>e im Jugendwerkhof erschienen. Er hatte dort mehrere<br />
Behandlungszimmer <strong>und</strong> sogar eine Einzelzelle, die als Krankenzimmer fungierte.<br />
Das war eine etwas größere Einzelzelle mit einem richtigen Bett, keine Holzpritsche,<br />
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son<strong>der</strong>n ein richtiges Bett sogar mit Matratzen. Hatte man im Arrest nicht. Und<br />
richtiger Bettwäsche <strong>und</strong> da stand sogar ein Schrank <strong>und</strong> Tisch <strong>und</strong> Stuhl. Und da<br />
war auch ein Wasserklosett. Und wer dort ernsthaft erkrankt war <strong>und</strong> nicht ins<br />
Krankenhaus musste, son<strong>der</strong>n vor Ort behandelt werden konnte. Für einen einzigen<br />
Insassen war so eine Zelle vorgesehen. Und dann hat er eben zwei, drei<br />
Behandlungszimmer gehabt. Dieser Mann war ausgebildeter… ausgebildeter<br />
Allgemeinarzt. Ne, also heute würde man sagen <strong>Haus</strong>arzt. Dieser Mann hat unter<br />
an<strong>der</strong>em HNO-Arzt gespielt, Chirurg, Orthopäde, Gyn, Facharzt für Inneres. Der hat<br />
alles gemacht. Der hat also bei Mädchen gynäkologische Untersuchungen <strong>und</strong> sogar<br />
Behandlungen vorgenommen. Der hat Tätowierungen entfernt, also Chirurg gespielt.<br />
Der hat auch kleinere Verletzungen genäht <strong>und</strong> ähnliche Geschichten. Das war <strong>der</strong><br />
Arzt. Und als ich dort eingeliefert wurde, im Jugendwerghof, die Zeit davor, hatte ich<br />
ja schon erzählt, dass ich mehrfach mich hab krankschreiben lassen wegen meinem<br />
Knie, um nicht arbeiten zu müssen. Weil ich das körperlich auch kaum gekonnt hätte.<br />
Bin also mit einer Meniskusverletzung schon, auch leicht entzündetem Knie, in den<br />
Jugendwerghof Torgau eingewiesen worden. Und in meiner Akte bin ich …<br />
nachweislich von dem Arzt die ersten sechs Wochen nicht behandelt worden. Der hat<br />
bei <strong>der</strong> Einweisungsuntersuchung am dritten o<strong>der</strong> vierten o<strong>der</strong> fünften Tag in meine<br />
Akte reingeschrieben, ohne Bef<strong>und</strong>. Ich wäre also kernges<strong>und</strong>. Ja, aber in meiner<br />
Akte, die an- also in sechs Wochen nach meiner Einweisung kamen erst meine<br />
Einweisungsunterlagen. Und da steht wirklich von den Erziehern <strong>und</strong> vom Direktor<br />
des offenen Jugendwerkhofs Freital, die den Nachtrag geschrieben hatten, auf<br />
Einweisung nach Torgau. Da schreiben die schon rein, dass Stefan eben krank ist.<br />
Mit dem Knie <strong>und</strong> möglicherweise eine Operation notwendig wäre. Aber <strong>der</strong> Arzt hat<br />
das nicht erkannt. Na ja, <strong>und</strong> als er das erkannt hat, da war es schon sozusagen viel<br />
zu spät. Ich hatte wirklich schon so ein dickes Knie. Und das war hochgradig<br />
entzündet. Und dann hat er mir eine Mullbinde verschrieben <strong>und</strong> eine Wärmesalbe.<br />
Elacur, den Namen vergesse ich auch nicht. Da sollte ich mein Knie mit so einer,<br />
also so einer Schlangengiftsalbe sozusagen, ne? Weiß ich, was da alles drinnen war<br />
in diesem Zeug. Da sollte ich mein Knie mit so einer Wärmesalbe einreiben <strong>und</strong> als<br />
Stützverband hatte ich eine Mullbinde. Weil die Mullbinde habe ich als äußeres<br />
Signal nach außen gezeigt, damit die Erzieher auch ja nicht vergessen, mich von den<br />
Kniebeugen im Torgauer Dreier zu befreien, die ich sowieso nicht hätte ausführen<br />
können. Ja <strong>und</strong> die Salbe habe ich mir dann zwei o<strong>der</strong> dreimal am Tag hinten in den<br />
Rücken geschmiert. Da hat sie wenigstens gewärmt.<br />
(1:40:43-8)<br />
Also, ja ist so. Wenn ich da früh auf dem Werkhofs- …hof geführt wurde, mit <strong>der</strong><br />
Gruppe, <strong>und</strong> wenn die Kniebeuge gemacht haben, fünfzig o<strong>der</strong> hun<strong>der</strong>tfünfzig Stück<br />
dann hatte ich ja zu stehen, weil ich das nicht machen konnte. Und dann hatte ich ja<br />
gefroren. Na dank <strong>der</strong> Salbe hat <strong>der</strong> Rücken nicht ganz so dolle, ne, hier gefroren.<br />
Und das war die Behandlung. Mehr habe ich da nicht erfahren. Ich bin entlassen<br />
worden, wie gesagt, mit deutlichem Körpergewichtsverlust. Das war auch nicht das<br />
Einzige. Nach meiner Entlassung, wie gesagt, ich hatte eine eigene Wohnung <strong>und</strong><br />
dann eine Woche später sollte ich anfangen auf so einem Hilfsarbeiterjob zu<br />
arbeiten. Ich weiß, dass ich das erste Jahr nach meiner Entlassung aus Torgau recht<br />
häufig krank war. Häufig krankgeschrieben war. Ich hatte Skorbut. Ich hatte Mineral<strong>und</strong><br />
Vitaminmangel, <strong>der</strong> nachgewiesen wurde. Und ich habe nie wie<strong>der</strong>, hinterher<br />
<strong>und</strong> vorher auch nicht, ich habe noch nie so viele Tabletten auf einmal gefressen.<br />
Das meiste waren wirklich Kombipräparate, Mineralien <strong>und</strong> Vitamine von A bis weiß<br />
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ich nicht. Und das hat <strong>der</strong> Arzt nicht erkannt <strong>und</strong> nicht behandelt während meiner<br />
Zeit. Das war für den normal. Anscheinend. Dass er Jugendliche in solchem Zustand<br />
vor sich gesehen hat mit Mangelernährungserscheinungen <strong>und</strong>, <strong>und</strong>, <strong>und</strong>. Das<br />
einzige Mal, wo ich das Krankenhaus gesehen habe, ist ja in meinem Fall<br />
vorgekommen, das war im April irgendwann. Auf ein Wochenende. Da hatten wir<br />
sozusagen generelle Gr<strong>und</strong>reinigung <strong>der</strong> Station, des Gruppenraumes. Da wurden<br />
alle Sanitär-…räume, Duschen, Toiletten <strong>und</strong>, <strong>und</strong>, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Waschraum eben<br />
geöffnet. Und die Gruppenmitglie<strong>der</strong> hatten dort eben gründlichst zu reinigen. Wie im<br />
Knast, wie bei <strong>der</strong> Armee. Und <strong>der</strong> Flur wie<strong>der</strong> mal gescheuert. Und sämtliche Gitter<br />
wurden gereinigt <strong>und</strong> sonst was. Und da habe ich mir an so einer schweren Gittertür<br />
den Daumen gequetscht. Und zwar so massiv gequetscht, dass <strong>der</strong> Erzieher Angst<br />
hatte, dass <strong>der</strong> gebrochen ist. Hat auch massiv geblutet. Und dann wurde ich in<br />
Handschellen <strong>und</strong> an <strong>der</strong> Knebelkette ins Auto gesetzt <strong>und</strong> dann zur Notambulanz<br />
ins Krankenhaus gefahren <strong>und</strong> wurde da, sozusagen behandelt, notoperiert.<br />
Übrigens ohne Betäubung genäht. Wurde geröntgt, ob gebrochen ist. Gebrochen war<br />
es nicht. War eine ziemlich heftige Quetschw<strong>und</strong>e hier am Daumen, die stark<br />
geblutet hatte. Das wurde also mit ein paar Stichen genäht. Dann kamen ein Pflaster<br />
<strong>und</strong> ein leichter Verband drüber, fertig. Das war das einzige Mal, wo ich das<br />
Krankenhaus gesehen habe. (1:43:06-9)<br />
Ohne die Möglichkeit da abzuhauen. Wie gesagt, selbst bei <strong>der</strong> Behandlung auf<br />
diesem, diesem Behandlungstisch habe ich da gelegen. Und an meiner ges<strong>und</strong>en<br />
Hand hatte ich die ganze Zeit diese Knebelkette. Und da machst du alles, was man<br />
dir sagt. Ja. Also soviel zur medizinischen Behandlung dort. (1:43:26-8)<br />
…<br />
(…) Also vom Gr<strong>und</strong>sätzlichen war das so, dass man keine Möglichkeit hatte, sich<br />
dieser, dieser also Tagesablauffolge, sich in irgendeiner Form zu entziehen. Man<br />
stand wirklich vier<strong>und</strong>zwanzig St<strong>und</strong>en unter totaler Überwachung, Beobachtung <strong>und</strong><br />
bekam nur Anweisungen. Auf Anweisung hatte man dort irgendwas zu machen. Man<br />
durfte noch nicht mal sprechen, ohne aufgefor<strong>der</strong>t zu werden. Also sich<br />
untereinan<strong>der</strong> zu unterhalten, das war eigentlich nur im Arbeitsbereich möglich. Und<br />
das möglichst nur im Flüsterton, damit das <strong>der</strong> Arbeitserzieher nicht mitkriegt. Und in<br />
<strong>der</strong> Nachtruhe. Und das möglichst auch nur mit flüstern. Wir hatten also tatsächlich<br />
vier<strong>und</strong>zwanzig St<strong>und</strong>en die ganze Woche Redeverbot. (1:44:26-9)<br />
Ja, alles an<strong>der</strong>e wie gesagt auf Anweisung <strong>der</strong> Erzieher. Und wer sich dem<br />
wi<strong>der</strong>setzte, <strong>der</strong> wurde sanktioniert. Man hatte nicht die Möglichkeit, sich dem zu<br />
entziehen. Die einzige Möglichkeit, <strong>und</strong> davon wurde relativ rege Gebrauch gemacht,<br />
das war <strong>der</strong> Versuch schwer krank zu werden. Also immer in <strong>der</strong> Hoffnung, ich<br />
komme ins Krankenhaus <strong>und</strong> dann bin ich aus diesem Erziehungsprozess raus, aus<br />
dieser lebensbedrohlichen o<strong>der</strong> wenigstens die Ges<strong>und</strong>heit bedrohenden Situation,<br />
dieser Haftsituation. Na <strong>und</strong> was haben die Jugendlichen gemacht? Die meisten,<br />
o<strong>der</strong> ja die meisten von denen, die es gemacht haben, die haben versucht sich<br />
umzubringen. Aber das nur als Demonstrativhandlung <strong>und</strong> um sich diesem<br />
Erziehungsprozess eben, dieser Situation zu entziehen. Und dann ist es wirklich von<br />
vielen so gemacht worden, dass die Nägel o<strong>der</strong> Schrauben, Muttern irgendwas sich<br />
im Arbeitsbereich in den M<strong>und</strong> gestopft haben, runter geschluckt haben. Die meisten<br />
hatten halt keine Ahnung, dass es da einen natürlichen Werdegang gibt von solchen<br />
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geschluckten Gegenständen, die tatsächlich auf dem natürlichen Weg wie<strong>der</strong> raus<br />
kommen, nach ein paar Tagen o<strong>der</strong> so. Ja <strong>und</strong> die sind nicht ins Krankenhaus<br />
gekommen, son<strong>der</strong>n die sind sogar bestraft worden für diese Selbstverstümmelung.<br />
Diese Selbstkörperverletzung, wie man das nannte. Im Zweifel, wenn es behauptet<br />
wurde von einem Jugendlichen o<strong>der</strong> sogar nachgewiesen wurde, aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
fehlenden Einzelteile, die verschluckt wurden, dass es massiv gewesen ist, also nicht<br />
nur zwei drei Stück, son<strong>der</strong>n wirklich massiv, sind sie im Einzelfall tatsächlich ins<br />
Krankenhaus o<strong>der</strong> in die Poliklinik gefahren worden zum Röntgen. Um dann<br />
festzustellen, wie viele Fremdkörper, welche Fremdkörper an welchem Ort sich<br />
gerade im Körper befinden. Ja <strong>und</strong> die Behandlungsgeschichte bei solchen Sachen,<br />
Vorkommnissen, also verschluckte Gegenstände, das war reines rohes Sauerkraut.<br />
… Dann hat <strong>der</strong> betreffende Jugendliche wirklich, wenn, wenn wir als Gruppe, <strong>der</strong><br />
musste ja weiter arbeiten, <strong>und</strong> so weiter, hat am Tagesablauf teilgenommen. Alles,<br />
vollkommen egal, was da gerade mit seinem Körper passiert. Bei den Mahlzeiten,<br />
früh, mittags, abends hat er aber kein Brot bekommen, son<strong>der</strong>n reines rohes<br />
Sauerkraut. Eine Schüssel voll. Das musste <strong>der</strong> aufessen. Und wehe er hat das nicht<br />
gemacht, dann ist er mit Strafsport sanktioniert worden. Zum Mittagessen hat er nicht<br />
das normale Mittagessen gekriegt, son<strong>der</strong>n reines rohes Sauerkraut <strong>und</strong> zum<br />
Abendbrot dasselbe Spiel. Und das passierte so lange, bis in <strong>der</strong> Situation Toilette,<br />
das kann ich dann gleich im Anschluss ein bisschen näher erläutern. Da waren wir ja<br />
auch nicht alleine. Und wenn <strong>der</strong> Jugendliche dann endlich diese Gegenstände<br />
verloren hat, beim Stuhlgang, hatte er dem Erzieher Meldung zu machen. Der hatte<br />
dann so...ich kann es mir körperlich kaum vorstellen, dass die da, die haben einfach<br />
in die Kloschüssel reingeguckt, <strong>und</strong> wenn da irgendwo Metallschrauben zu sehen<br />
waren, sonst was, dann war klar, jetzt ist das beendet <strong>und</strong> dann durfte er bei <strong>der</strong><br />
nächsten Mahlzeit dann wie<strong>der</strong> normal daran teilnehmen. (1:47:27-6)<br />
Das war die einzige Behandlungsform. Und die Schätzungen, die gehen heute<br />
wirklich bis, also davon aus, dass bis zu 40 Prozent aller ehemaligen Insassen<br />
versucht haben, auf diese Art <strong>und</strong> Weise, nicht ums Leben zu kommen, son<strong>der</strong>n aus<br />
dieser Erziehungseinrichtung raus zu kommen. Aus diesem Zuchthaus. Und drei<br />
haben es tatsächlich geschafft sich das Leben zu nehmen. Das war 1983 <strong>der</strong> Rainer<br />
Furkert, <strong>der</strong> sich im Krankenzimmer verbrannt hat. Nach einer Blinddarmoperation,<br />
ein paar Tage später hat man ihm Bohnerwachs reingegeben. Und er sollte seine<br />
Zelle säubern. Postoperativ nach dem dritten, vierten Tag. Postoperativ,<br />
Blinddarmoperation, sollte er seine Zelle bohnern <strong>und</strong> er hat diesen Bohnerwachs<br />
genommen <strong>und</strong> diesen Schrank damit eingeschmiert. Das war ein Holzschrank. Und<br />
er hatte so ein, anscheinend aus dem Krankenhaus geschafft o<strong>der</strong> bei dem Besuch<br />
seiner Mutter ein paar Tage später, Zigaretten <strong>und</strong> Streichhölzer in seine<br />
Krankenzelle zu schmuggeln. Er hat diesen Bohnerwachs angezündet <strong>und</strong> die<br />
Todesursache ist nicht ersticken durch Rauchvergiftung, son<strong>der</strong>n verbrennen. Der ist<br />
jämmerlich verbrannt. … Der Zweite ist am Tage seiner, seiner Entlassung, seiner<br />
Rückführung. Übrigens war das einer aus Freital, aber 1987. Der ist am Tage <strong>der</strong><br />
Rückführung abgehauen. Also wollte fliehen. Ist in die Elbe gesprungen, wollte da<br />
rüber schwimmen an das an<strong>der</strong>e Ufer. Hat es nicht erreicht. Ist ertrunken. Der Gr<strong>und</strong><br />
dafür war, das geht aus seiner Akte hervor, dass <strong>der</strong> Erzieher von, von Torgau, <strong>der</strong><br />
ihn nach Freital zurück transportierte, auf dem Rücktransport gesagt hatte, wir sehen<br />
uns bald wie<strong>der</strong>. Und <strong>der</strong> wollte nie wie<strong>der</strong> nach Torgau. Darum wollte er abhauen.<br />
(1:49:09-3)<br />
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Und <strong>der</strong> Dritte bekannte Fall, wo <strong>der</strong> Suizid wirklich gelungen ist. Da weiß ich jetzt<br />
bloß den Vornamen Steven. Der hat sich am zweiten Tag seiner Einweisung im<br />
Einzelarrest, also sein Aufnahmeeinzelarrest, mit seinem eigenen Pullover erhangen.<br />
… Tja <strong>und</strong> dann hat irgendwann ein Erzieher ihn ge .. gef<strong>und</strong>en beim Aufschluss des<br />
Einzelarrestes. Da war er tot. Ein paar Wochen später kamen seine<br />
Einweisungsunterlagen. … Da war ein ärztliches Attest drin, dass er unter Platzangst<br />
leidet <strong>und</strong> nicht in Einzelunterbringung also keine Arrestierung <strong>und</strong> so weiter. Ein<br />
ärztliches Attest. Da war er schon ein paar Wochen tot. (1:49:52-7)<br />
…<br />
SL: Also wir hatten bis auf in <strong>der</strong> Zeit wo wir gearbeitet haben, da hatten wir ein<br />
Plumpsklo im Arbeitsbereich. Bis 1989 soll es dieses Plumpsklo gegeben haben.<br />
Also ohne Wasser. Aber immerhin. Aber ansonsten hatten wir keinen freien Zugang<br />
zu den Sanitärräumen. Also we<strong>der</strong> zum Waschraum, noch zum Duschraum. Aber<br />
auch nicht zu den Toiletten. In unserer sogenannten Gruppenfreizeit, wenn wir dann<br />
meinetwegen bei <strong>der</strong> Zeitungsshow abends gewesen sind, wenn da jemand auf<br />
Toilette musste, dann hatte er sich beim Erzieher zu melden. Meldung zu machen.<br />
„Na Herr, Herr sowieso“, mit Namen haben wir die angesprochen, „Ich habe ein<br />
dringendes Bedürfnis ich müsste mal auf Toilette“. Die Antwort war in einhun<strong>der</strong>t<br />
Prozent <strong>der</strong> Fälle: „Du bist doch jetzt aber nicht alleine, Jugendlicher <strong>Lauter</strong>? Nein,<br />
nein, es sind noch vier die Jugendlichen A, B, C, D, E.“ „Antreten auf dem Flur,<br />
zack!“, <strong>und</strong> dann hat <strong>der</strong> Erzieher die vier o<strong>der</strong> fünf Jugendlichen kurz gemustert <strong>und</strong><br />
dann gab es wirklich bloß Befehl: „Stramm stehen, rechts um, zack“, <strong>und</strong> dann hat<br />
<strong>der</strong> Erzieher uns zu <strong>der</strong> Toilette durchgeschlossen, zu dem Toilettenraum. Da<br />
standen wirklich fünf WCs nebeneinan<strong>der</strong> ohne Trennwand, ohne Tür davor. Dann<br />
hast du dein Geschäft verrichtet. Der Erzieher stand die ganze Zeit am Türrahmen<br />
<strong>und</strong> hat dabei zugesehen. (01:51:30-1)<br />
Also die haben wirklich sprichwörtlich beim Scheißen zugesehen. Dann hast du dein<br />
Geschäft da absolviert <strong>und</strong> dann, na ja, wie das halt so ist ne, spülen <strong>und</strong> trallala,<br />
wie<strong>der</strong> draußen antreten, wie<strong>der</strong> im Laufschritt zurück zum Gruppenraum. Erledigt.<br />
Das war Toilettengang. Das ist nicht beson<strong>der</strong>s lustig gewesen in dem Falle. Und<br />
das kam ja öfter vor. Es gab ja nicht nur männliche Erzieher in dieser Einrichtung,<br />
son<strong>der</strong>n auch Frauen. Wir hatten des Öfteren auch Frauen bei uns als Erzieher. Die<br />
standen dann genauso in <strong>der</strong> Tür, wie gesagt, ich bin 17 ½ Jahre, fast, also ich fühlte<br />
mich damals schon fast wie ein erwachsener Kerl. Und dann schaut mir da eine<br />
vierzig- o<strong>der</strong> fünfzigjährige Frau bei meinem Toilettengang zu. Das ist äußerst<br />
demütigend <strong>und</strong> entwürdigend. Aber stellen sie sich mal den umgedrehten Fall vor.<br />
Was ist denn mit <strong>der</strong> 14- o<strong>der</strong> 16-jährigen, wenn da meinetwegen ein<br />
acht<strong>und</strong>fünfzigjähriger Erzieher in <strong>der</strong> Tür steht <strong>und</strong> ihr bei dieser Notdurft-<br />
Verrichtung zuschaut? Und alle vier Wochen hat ja so ein junges Mädchen noch ein<br />
ganz an<strong>der</strong>es Problem. Und da schaut dieser männliche Erzieher genauso zu. Also<br />
ich kann mir das heute als .. als Mann natürlich kaum vorstellen, aber das muss doch<br />
grauenvoll sein. Das sind über mehrere Erzieher bis hin zum Direktor heute ja .. nicht<br />
nur Vermutungen, son<strong>der</strong>n sogar Nachweise gesichert worden, dass die pädophil<br />
waren. (…) Ehemalige Insassinnen <strong>und</strong> Insassen vom geschlossenen<br />
Jugendwerkhof haben sich bis heute in <strong>der</strong> Gedenkstätte gemeldet <strong>und</strong> von<br />
sexuellen Übergriffen bis hin zur Vergewaltigung berichtet. Diese Berichte sind<br />
glaubhaft. Die sind mehr als glaubhaft. Und mehrfach taucht <strong>der</strong> Name von Horst<br />
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Kretzschmar auf, <strong>der</strong> wie gesagt, von 1968, Ende '68 ist er Direktor geworden. Da<br />
hat er noch nicht mal eine pädagogische Ausbildung übrigens. Sein Fernstudium hat<br />
er 1972 erst gemacht an <strong>der</strong> Humboldt-Uni. Und er hat bis Frühjahr '89 dort den<br />
Direktor gemacht. Den wirklich prägenden Direktor dieser Einrichtung. Der war<br />
pädophil. Das ist wirklich verbrieft, dass Horst Kretzschmar einen Kurzurlaub in Prag<br />
mit zwei weiblichen Insassen gemacht hat. Der schnappt sich also zwei junge<br />
Mädchen, weiß ich nicht, 14, 15, 16 Jahre alt. Die nimmt er aus <strong>der</strong> Gruppe raus,<br />
Kraft seines Amtes, schnappt sich die Personalausweise, die er ja in den Akten hat,<br />
<strong>und</strong> da fährt er mal in die Tschechoslowakei <strong>und</strong> macht ein paar Tage Ferien mit<br />
ihnen im Hotel. Da muss ich doch kein, kein ja Prophet sein, um, um zu wissen, was<br />
da gelaufen ist. Das gibt verbriefte … Unterlagen. Also es gibt wirklich einen<br />
Schriftwechsel zwischen einem, bei <strong>der</strong> Entlassung 16- o<strong>der</strong> knapp 17-jährigen<br />
Mädchen, was aus Torgau entlassen wird. Und da gibt es einen Briefwechsel<br />
zwischen dem Direktor <strong>und</strong> diesem Mädchen nach <strong>der</strong> Entlassung. Sie schreibt die<br />
ganze Zeit, mein lieber Onkel Horst, <strong>und</strong> er antwortet adäquat mit ihrem Vornamen.<br />
Er hat dafür gesorgt, dass sie, obwohl sie noch nicht volljährig ist, mit einer Wohnung<br />
versorgt wird in Dresden, mit einem vernünftigen Ausbildungsplatz o<strong>der</strong> Arbeitsplatz,<br />
das weiß ich jetzt nicht ganz genau. Ja <strong>und</strong> dieser Briefwechsel, <strong>der</strong> ist ja ziemlich<br />
intim. Und <strong>der</strong> soll ihr nachts, wenn sie mal auf Einzelarrest war, aus welchen<br />
Gründen auch immer. Die, also solche Sanktionen traf dieses Mädel ja auch, <strong>der</strong> soll<br />
nach Beginn <strong>der</strong> Nachtruhe, die Einzelarrestzelle mehrf...also nicht nur in einer<br />
Nacht, son<strong>der</strong>n mehrfach aufgeschlossen haben, sich auf den Hocker neben ihre<br />
Holzpritsche, wo sie lag, gesetzt haben <strong>und</strong> dann soll er ihr vorgelesen haben.<br />
(01:56:19-4)<br />
Das war eine Eins-zu-eins-Situation. Es gibt glaubhafte Berichte von ehemaligen<br />
Jungs <strong>und</strong> ehemaligen Mädchen, dass sie in <strong>der</strong> Nachtruhe von den Erziehern o<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Nachtwache, wer da auch immer zuständig war, sexuell miss..misshandelt o<strong>der</strong><br />
sogar missbraucht worden sind. Und die Fälle sind glaubhaft. Und in einem Fall gab<br />
es sogar ein strafrichtlich...strafrechtliches Verfahren. Das nächste, was ziemlich<br />
merkwürdig ist, aber was eben verbrieft ist, <strong>der</strong> Horst Kretzschmar hat Mitte <strong>der</strong><br />
siebziger Jahre, '75, 1975 o<strong>der</strong> 1976 zwei Insassen des Jugendwerkhofs Torgau<br />
nicht rechtlich aber körperlich adoptiert <strong>und</strong> in seiner Dienstwohnung, die damals<br />
noch im Verwaltungsbereich, also auf dem Werkhofgelände war, die hat er da<br />
aufgenommen. Hintergründe sind mir völlig schleierhaft <strong>und</strong> unbekannt. Aber <strong>der</strong> hat<br />
also zwei Jungs in seiner Dienstwohnung aufgenommen, als seine eigenen Kin<strong>der</strong>,<br />
<strong>und</strong> die sind dann draußen zur Lehre o<strong>der</strong> irgendwas gegangen. Die haben bei ihm<br />
in <strong>der</strong> Dienstwohnung gelebt. Und einer von diesen beiden Jungs, als Horst also<br />
Papa Horst in <strong>der</strong> Nacht geschlafen hat, da hat <strong>der</strong> eine von den beiden, weiß ich<br />
nicht, wie alt <strong>der</strong> damals war, 16 ½ o<strong>der</strong> 17, sich den Anstaltsschlüssel geschnappt<br />
<strong>und</strong> ist in den Stationsbereich <strong>der</strong> Mädchen eingedrungen, hat eine Arrestzelle<br />
aufgeschlossen <strong>und</strong> wollte ein Mädchen vergewaltigen. Und die Nachtwache, ich<br />
weiß nicht, ob es ein ganz normaler Typ gewesen ist, <strong>der</strong> dann wirklich nur als<br />
Nachtwache eingesetzt wurde, o<strong>der</strong> ob es ein Erzieher war, <strong>der</strong> dann nachts eben<br />
Kontrolle hatte, <strong>der</strong> hat diesen Jungen bei dieser Tat überrascht. Und diese<br />
Nachtwache lebt heute nicht mehr. Dieser Adoptivsohn sozusagen, auch ehemaliger<br />
Insasse, hat in dieser Tat o<strong>der</strong>, ja wo er ertappt wurde in diesem Moment diese<br />
Nachtwache umgebracht. Darum hat sich eine Staatsanwaltschaft überhaupt nur um<br />
diesen Fall gekümmert. Weil es da zu dieser Tötungshandlung gekommen ist. …<br />
Das, das muss recht häufig vorgekommen sein. Mindestens im geschlossenen<br />
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Jugendwerkhof. Sexueller Missbrauch. Aber auch viele an<strong>der</strong>e Heimeinrichtungen,<br />
angefangen von normalen Kin<strong>der</strong>heimen, aber vor allem in den Spezialkin<strong>der</strong>heimen<br />
o<strong>der</strong> Jugendwerkhöfen soll es häufig zu solchen Fällen gekommen sein. Und da<br />
sprechen wir hier nicht von ehemals zwanzig Opfern o<strong>der</strong> hun<strong>der</strong>t Opfern. Das sind<br />
Hun<strong>der</strong>te. Und diese Ermittlungen <strong>und</strong>, <strong>und</strong> die Recherchen zu diesem Thema sind<br />
noch lange nicht beendet. Viele schweigen bis heute aus Scham, aus Angst, aus<br />
weiß ich nicht. (01:59:18-3)<br />
…<br />
(…) Der Kelch <strong>der</strong> sexuellen, des sexuellen Missbrauchs o<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>der</strong> ...bis hin zur<br />
Vergewaltigung. Das ist an mir vorübergegangen. Also das ist mir erspart geblieben.<br />
Also we<strong>der</strong> in <strong>der</strong>, in <strong>der</strong> Strafhaft noch U-Haft noch, noch später im offenen o<strong>der</strong><br />
geschlossenen Werkhof. Das ist mir nicht passiert. Weiß ich nicht warum. Gott sei<br />
dank. Ich habe es ja bei an<strong>der</strong>en in <strong>der</strong> Haftanstalt erlebt. Und .. <strong>und</strong> .. <strong>und</strong> ich<br />
konnte nicht einschreiten, weil ich sonst vielleicht fällig gewesen wäre. Die auch von<br />
an<strong>der</strong>en Insassen vergewaltigt worden sind. Da gab es ja in den Schlafräumen auch<br />
zwanzig bis dreißig Jungs. Da gab es bis hin zur Vergewaltigung alles. Das meiste<br />
lief natürlich im Bereich des <strong>der</strong> sexuellen Nötigung ab, ne? (02:00:25-6)<br />
…<br />
SL: Ja. Also nicht nur, dass sich dort [im Jugendstrafanstalt Halle] Jugendliche, meist<br />
zu viert o<strong>der</strong> zu fünft o<strong>der</strong> so, auch meist in <strong>der</strong> Nachtruhe. Aber manchmal auch<br />
nach <strong>der</strong> Arbeit in <strong>der</strong> Gruppenfreizeit sozusagen. Wenn kein Knastbru<strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />
Nähe war, kam es ja auch häufig zu Schlägereien <strong>und</strong> so war es in <strong>der</strong> Haftanstalt.<br />
So was mitzuerleben das ist schon schlimm genug. Aber wenn man dann erlebt, wie<br />
da ein 14-Jähriger von zwei 18-, 19-, 20-Jährigen vergewaltigt wird, das ist dann<br />
nicht mehr lustig. Solche Sachen habe ich halt in Halle auch erlebt. In Torgau<br />
übrigens, zu meiner Zeit, nicht. Also .. ich war ja in zwei verschiedenen<br />
Schlafräumen. Also vor <strong>der</strong> ersten Dauerarreststrafe von zehn Tagen, da war ich erst<br />
in dem Schlafraum A <strong>und</strong> danach in dem Schlafraum B untergebracht. Warum auch<br />
immer. Da gab es keine sexuellen Übergriffe unter den Jungs. Aber es gab solche<br />
Geschichten auch. Sexueller Missbrauch unter den Insassen selbst. Solche<br />
Einzelfälle gab es auch. Übrigens nicht nur bei den Jungs. Mädchen können da<br />
ziemlich grausam sein. Untereinan<strong>der</strong>. Ja aber wie gesagt, solche Übergriffe von,<br />
von irgendwelchen, denen ich mal anvertraut war, also Erziehern o<strong>der</strong> sonst was, ist<br />
mir persönlich erspart geblieben. Und dafür danke ich Gott. (02:01:54-1)<br />
Pause (02:01:59-0)<br />
SL: Und ich bin Atheist. (lacht) (02:02:03-3)<br />
4.5. Entlassung: „Am liebsten würde ich dich noch länger hier behalten. Bei dir ist<br />
das Erziehungsziel nicht erreicht“<br />
(…) Ich bin ganz genau einen Tag vor meinem 18. Geburtstag entlassen worden.<br />
Also am 28. Mai 1985 an einem Vormittag. Die Uhrzeit weiß ich nicht genau. Ich<br />
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hatte ja keine Uhr. Im Regelfall war das so, dass man vor <strong>der</strong> Entlassung, ohne den<br />
Tag genau zu kennen, ein sogenanntes Vorbereitungsgespräch bei dem Direktor<br />
hatte. Also es gab drei re...reguläre, nach seinem Erziehungssystem,<br />
vorgeschriebene direkte Gespräche beim Direktor. Eine Eins-zu-eins-Situation. Das<br />
war kurz nach <strong>der</strong> Einweisung, wo <strong>der</strong> Direktor dir gesagt hat, warum du überhaupt<br />
da bist, was die Einweisungsgründe sind <strong>und</strong> dass jetzt Schluss ist hier mit lustig.<br />
Und dann gab es ... ja ein sogenanntes Zwischengespräch, das war dann meist so<br />
während <strong>der</strong> Mitte o<strong>der</strong> kurz über <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Haftdauer, wo <strong>der</strong> Jugendliche nicht<br />
wusste, dass jetzt die Mitte erreicht ist o<strong>der</strong> sonst was. Der wurde einfach bloß zum<br />
Direktor geführt, hatte ein Gespräch <strong>und</strong> wurde wie<strong>der</strong> zurückgeführt. Zack. Und kurz<br />
vor <strong>der</strong> Entlassung wurde ein Gespräch geführt. Und bei mir hat dieses<br />
Entlassungsgespräch auch drei o<strong>der</strong> vier Tage vor meiner tatsächlichen Entlassung<br />
stattgef<strong>und</strong>en. Und ich war schon für drei Wochen auf Dauerarrest. Ich war bis zum<br />
Moment meiner Entlassung die letzten Wochen nur noch von <strong>der</strong> Gruppe<br />
weggesperrt. Wurde lediglich rausgeholt, um die acht St<strong>und</strong>en mitzuarbeiten, also<br />
die vier Tage in <strong>der</strong> Woche. Ansonsten war ich dauerisoliert von <strong>der</strong> Gruppe. (…) Der<br />
Gr<strong>und</strong> war, dass sie Angst hatten, dass mein aufmüpfiges Verhalten, obwohl das<br />
ziemlich gedämpft war, also so wie ich es vorhin von, von Freital, dem offenen<br />
Werkhof, erzählt habe, das habe ich mir in Torgau alles nicht getraut. Aber ich habe<br />
angefangen, mich irgendwie verbal zu wehren. Das haben sie mitgekriegt. Die sind ja<br />
nicht blöd gewesen, die Erzieher. Die haben mich von <strong>der</strong> Gruppe dauerisoliert. Also<br />
wenn die am Nachmittag nach <strong>der</strong> Arbeit, wie gesagt, diese Sportübungen o<strong>der</strong> über<br />
die Sturmbahn. Ich war auf Einzelarrest. Ich war in <strong>der</strong> Einzelarrestzelle. In <strong>der</strong><br />
Nachtruhe war ich nicht im Schlafraum, wo zehn, zwölf o<strong>der</strong> sechzehn Jugendliche<br />
waren, ich war in <strong>der</strong> Einzelarrestzelle. Nur die acht St<strong>und</strong>en an vier Tagen die<br />
Woche, wo meine Gruppe zur Arbeit geführt wurde, da wurde ich mit zur Gruppe<br />
zugeführt, sollte mitarbeiten, nach <strong>der</strong> Arbeit gleich wie<strong>der</strong> weggeschlossen. Ja .. bei<br />
meinem Entlassungsgespräch hat mir <strong>der</strong> Direktor so ein paar Sätze um die Ohren<br />
gehauen. Das dauert auch bloß ein paar Minuten. Der meinte, dass meine<br />
Entlassung unmittelbar bevorsteht. Stefan, du wirst ja 18 <strong>und</strong> so weiter. Das weißt<br />
du. Also er hat mich prinzipiell geduzt dort. Und er meinte, dass ich noch einmal nach<br />
Freital zurückkomme, für einen Tag, <strong>und</strong> dort eben meine Unterlagen, meine Papiere<br />
bekomme <strong>und</strong> Entlassungsgespräche, meine persönlichen Gegenstände, Sachen,<br />
mein Eigentum, <strong>und</strong> dass ich dann in Berlin o<strong>der</strong> nach Berlin fahren soll <strong>und</strong> zu<br />
meiner Mutter zu gehen habe. Und die hätte einen Arbeitsvertrag, das wisse er<br />
schon alles von meinem Jugendamt aus, aus Berlin. Meine Mutter hätte für mich<br />
einen Arbeitsvertrag auf dem Tisch zu liegen <strong>und</strong> ein Wohnungs-, Mietvertrag <strong>und</strong><br />
einen Wohnungsschlüssel. Und meine erste Wohnung, also eine Einraumwohnung<br />
mit Küche <strong>und</strong> Innen-WC, die wäre schon eingerichtet, von meiner Mutter <strong>und</strong> so.<br />
Und dann hat er noch mir an den Kopf geknallt: „Am liebsten würde ich dich noch<br />
länger hier behalten. Bei dir ist das Umerziehungsziel, das Erziehungsziel nicht<br />
erreicht.“ Das ist <strong>der</strong> einzige Satz, wo er aus meiner Sicht aus meiner rückblickenden<br />
Sicht heute nicht gelogen hat. Also das Umerziehungsziel war bei mir nicht erreicht.<br />
Also in dem Moment war mir das nicht nur bewusst, son<strong>der</strong>n ich hatte auch schon<br />
wie<strong>der</strong> die innere Stärke. Und er meinte wirklich, am liebsten würde er mich noch drei<br />
Jahre hier behalten damit er auch mich kriegt. Und das klingt wirklich, wenn ich das,<br />
ja wenn ich daran zurück denke heute, das klingt wirklich so, als hätte er fast jeden<br />
dort knacken können. Bei mir war er traurig o<strong>der</strong> sauer, dass er es, dass er nicht<br />
ausreichend Zeit hatte. Das war mein Entlassungs..gespräch. Und dann kam ich da<br />
wie gesagt noch für zwei drei Tage auf Einzelarrest bis <strong>der</strong> Entlassungstag war. Und<br />
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dann wurde ich dort rausgeholt. Kurz, kurz nach dem Wecken. Und ich hatte nur, nur<br />
meine Arrest-, also diese Arbeitskleidung anzuziehen <strong>und</strong> das war ganz merkwürdig.<br />
Ich durfte den Kübel nicht mehr benutzen. Das war gleich beim Aufschluss <strong>der</strong> Befehl<br />
„Ordnung herstellen“, also Bettwäsche raus <strong>und</strong>, <strong>und</strong>, <strong>und</strong>. Also was heißt<br />
Bettwäsche. Waren ja zwei dünne Wolldecken. Mehr hatte man ja nicht. Keine<br />
Matratze <strong>und</strong> kein Bettzeug, also Laken o<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> so was. Kopfkissen sowieso nicht.<br />
Und da hatte ich Ordnung herzustellen, also die Pritsche hoch zu stellen, den<br />
Holzhocker in die Mitte. Wie gesagt, mich anzuziehen. Und dann wurde ich raus<br />
geführt, zum Waschraum gebracht, dass ich mich waschen kann. Ich durfte auf, auf<br />
dieses Wasserklosett, nebenan war dieser WC-Raum. Und dann wurde ich zur<br />
Klei<strong>der</strong>kammer geführt, so wie am ersten Tag. Da habe ich die Klei<strong>der</strong>kammer das<br />
zweite Mal gesehen.<br />
Und dann bekam ich meine Privatkleidung, die hatte ich anzuziehen. Und dann<br />
wurde ich in so eine Art Besucherraum geführt, wo da wirklich zwei Tische standen,<br />
ganz normal gepolsterte Stühle <strong>und</strong> da hatte ich zu warten. Und dann wurde noch<br />
ein Mädchen reingeführt, was am selben Tag entlassen wurde, <strong>und</strong> noch ein Junge<br />
aus <strong>der</strong> zweiten Jungengruppe. Die hatten auch schon alle so ihre Privatkleidung.<br />
Und es dauerte gar nicht lange, vielleicht eine viertel, halbe St<strong>und</strong>e später, stand<br />
genau <strong>der</strong>, <strong>der</strong> mich nach Torgau gebracht hat, nämlich <strong>der</strong> stellvertretende Direktor<br />
meines Jugendwerkhofes mit seinem Dienst-Pkw wie<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Gefängnisschleuse.<br />
Und dann hat er uns raus gebeten in die Schleuse. Wir sind raus. Da wurden wir<br />
dann nicht mehr gedrängelt <strong>und</strong> geschubst. Da wurden wir dann nicht mehr<br />
angebrüllt. Und dann hatten wir im Auto Platz zu nehmen. Und dann ist <strong>der</strong> mit uns<br />
losgefahren. Das war die Entlassung. Kurz <strong>und</strong> schmerzlos, die Gefängnisschleuse<br />
geht wie<strong>der</strong> auf <strong>und</strong> fährt raus mit uns. Dann ist ja schon Ende Mai <strong>und</strong> ja <strong>der</strong><br />
Frühling im vollen Gange <strong>und</strong> auf dem Rücktransport, das war ein großer<br />
Unterschied. Da hat er eine Pause mit uns gemacht, angehalten, hat uns Zigaretten<br />
angeboten. Das erste in meiner Freizeit.. in meiner Freiheit, was ich gemacht habe,<br />
das war rauchen. Das war in Torgau total verboten. (02:09:14-6)<br />
…<br />
(…) Das muss <strong>der</strong> stellvertretende Direktor gewesen sein, <strong>der</strong> mir das [die<br />
Schweigepflichterklärung] hingelegt hat. Und ich habe es einfach nicht<br />
unterschrieben, ohne irgendwas zu sagen. Auch keine Protesthaltung. Nichts.<br />
Son<strong>der</strong>n ich habe einfach dagesessen o<strong>der</strong> dagestanden, weiß ich nicht mehr, <strong>und</strong><br />
vor mir auf dem Tisch lagen eben ein Kugelschreiber <strong>und</strong> diese<br />
Schweigeverpflichtung. Ja püh ich habe nicht unterschrieben. Und dann kam ja<br />
schon relativ schnell dieser stellvertretende Direktor von Freital, <strong>und</strong> dann bin ich<br />
einfach mit rausgegangen. Fertig. Ich habe nicht unterschrieben. (02:10:00-1)<br />
…<br />
SL: Ja man wurde mit dieser Schweigeverpflichtung aufgefor<strong>der</strong>t, nach dem Moment<br />
<strong>der</strong> Entlassung, wo man das Gelände verlässt o<strong>der</strong> wegtransportiert wird, nie wie<strong>der</strong><br />
in seinem Leben über sämtliche Vorkommnisse, die in dieser Einrichtung o<strong>der</strong><br />
Abläufe <strong>und</strong> vor allem nicht über die Sicherheitsvorkehrungen dieser Einrichtung,<br />
dass darüber nicht gesprochen wird. Dass man nichts erzählen darf. Also die meisten<br />
sind ja noch nicht volljährig bei <strong>der</strong> Entlassung gewesen. Und die haben ja dann<br />
noch eineinhalb o<strong>der</strong> zwei Jahre o<strong>der</strong> wenigstens ein paar Monate noch im offenen<br />
www.haus<strong>der</strong>demokratie.de/unverzichtbar 32
Werkhof o<strong>der</strong> Spezialheimen verleben müssen, verbringen müssen. Die durften nicht<br />
über ihre Erlebnisse o<strong>der</strong> .. ja Vorkehrungen, Sicherheitsvorkehrungen vor allem des<br />
geschlossenen Jugendwerkhofes Torgau berichten. Also nicht mit ihren Fre<strong>und</strong>en,<br />
den an<strong>der</strong>en Insassen darüber reden. Sie durften mit den Erziehern <strong>der</strong> offenen<br />
Einrichtungen darüber nicht reden. Mit ihren Familienangehörigen, mit denen sie<br />
vielleicht Briefkontakt hatten. Da durften sie nicht darüber sprechen o<strong>der</strong> schreiben.<br />
Keinem. Und selbst wer aus <strong>der</strong> Heimerziehung komplett entlassen wurde, so wie ich<br />
mit 18. Es war dir strengstens verboten über diese Einrichtung Jugendwerkhof<br />
Torgau in <strong>der</strong> Öffentlichkeit zu reden. Das gab ja einen politischen Straftatbestand<br />
dafür. Das ist <strong>der</strong> Paragraph 220, öffentliche Herabwürdigung von staatlichen<br />
Einrichtungen <strong>und</strong> Institutionen. Und wegen diesem Schwachmaten-Paragraphen<br />
stand ich ja schon mal mit 16 vor Gericht, als ich über die Haftumstände im<br />
Jugendstrafvollzug, im offenen Jugendwohnheim, berichtet hatte. Und ich hatte<br />
überhaupt gar keinen, keinen Bedarf in <strong>der</strong> DDR noch jemals irgendwas zu erzählen,<br />
was ich erlebt hatte. … Das war meine Entlassung. Dann kam ich nach, nach Freital,<br />
also ich wurde dort hingebracht <strong>und</strong> wurde dort empfangen von meinem<br />
Gruppenerzieher. „Hallo Stefan“, <strong>und</strong> „wie geht’s dir denn?“ Wie? Ich dachte ich bin<br />
wie im falschen Film. Fre<strong>und</strong>lich, entspannt. „Ja <strong>und</strong> jetzt ist doch wie<strong>der</strong> alles gut<br />
<strong>und</strong> jetzt versuch das mal zu vergessen, was du jetzt, also war ja eine harte Zeit, die<br />
du jetzt gerade hinter dich gebracht hast. Versuch das mal zu vergessen. Ist am<br />
besten so. Hier hast du zwanzig Mark <strong>und</strong> da gehst du heute Abend schön unten da<br />
in die Stadt <strong>und</strong> da, die Kneipe heißt so <strong>und</strong> so <strong>und</strong> da kannst du noch schön essen.<br />
Und da trinkst du mal ein Bierchen <strong>und</strong> so <strong>und</strong> erholst dich ein bisschen.“ Na ja <strong>und</strong><br />
dann, das war so ein, das war dann wirklich meine letzte Nacht im offenen<br />
Jugendwerkhof. Am nächsten Tag wurde ich ja komplett entlassen <strong>und</strong> dann mit Zug<br />
nach <strong>Haus</strong>e ge.. also zu meiner Mutter gefahren nach Berlin. Aber das war <strong>der</strong> letzte<br />
Akt von Wi<strong>der</strong>stand, den ich dort gemacht habe. Ich bin nicht in die Kneipe<br />
gegangen. Ich habe mich dort nicht volllaufen lassen o<strong>der</strong> ein schönes Schnitzel<br />
o<strong>der</strong> sonst was gegessen. Ich bin wirklich nur aus dem Werkhof raus, ein paar<br />
hun<strong>der</strong>t Meter weiter. Da war ein, ein ja Dorfkonsum. Da habe ich ein paar Flaschen<br />
Bier gekauft, zwei, drei Schachteln Zigaretten <strong>und</strong> dann bin ich zurückgegangen in<br />
den Werkhof <strong>und</strong> meine Gruppe hatte frei. Und dann habe ich etwas gemacht, was<br />
eigentlich total verboten war. Ich habe meinen Kumpels aus meiner Gruppe im<br />
offenen Jugendwerkhof Freital alles erzählt. Alles, von den Einzelarrestzellen, von<br />
dem Essensentzug, von dem Strafsport, von den Gummiknüppeln <strong>und</strong> Handschellen<br />
<strong>und</strong> hast du nicht gesehen. Ich habe alles erzählt. Die halbe Nacht, bis wir<br />
irgendwann total erschöpft eingeschlafen sind. Die mussten ja zur Frühschicht raus.<br />
Als ich früh aufgewacht bin, da war es schon um acht o<strong>der</strong> so. Da waren die schon<br />
längst auf Arbeit. Die halbe Nacht habe ich mit denen gequatscht, <strong>und</strong> um<br />
Mitternacht, wir hatten ja in offenen Einrichtungen, hatten wir ja eine Uhr, wir wussten<br />
wann Mitternacht ist. Und da hatte ich ja 18. Geburtstag. Da haben wir mit Bier<br />
angestoßen. Wir haben nachts im Schlafraum da gequalmt, dass das dort nur so<br />
rauchte. Ja das war die … die letzte Nacht dort. Das war <strong>der</strong> letzte provokative Akt<br />
von Stefan <strong>Lauter</strong> in <strong>der</strong> Heimerziehung. Und dann bin ich wirklich nächsten Tag nur<br />
noch in die Verwaltung, habe meinen Ausweis abgeholt <strong>und</strong>, <strong>und</strong> mein<br />
Sozialversicherungsausweis, den man ja damals hatte, wenn man zum Arzt musste<br />
<strong>und</strong>, <strong>und</strong>, <strong>und</strong>. Bekam auch ein Handgeld, das an<strong>der</strong>e Geld, was auf meinem<br />
sogenannten Konto war, das wurde mir ein, zwei Wochen später überwiesen. Ja <strong>und</strong><br />
dann hat man mich zum Bahnhof gefahren, ich bekam die Fahrkarte in die Hand<br />
gedrückt <strong>und</strong> dann bin ich in den Zug gestiegen nach Dresden. Von Dresden nach<br />
www.haus<strong>der</strong>demokratie.de/unverzichtbar 33
Berlin <strong>und</strong> bin dann schnurstracks zu meiner Mutter gefahren. Und die war alleine zu<br />
<strong>Haus</strong>e. Es war mein 18. Geburtstag. Meine Schwester ist nicht da, mein Bru<strong>der</strong> ist<br />
nicht da, meine Fre<strong>und</strong>e sind nicht eingeladen. Sie sind ja auch mal 18 geworden,<br />
ne? Das ist schon irgendwie ein ganz, ganz beson<strong>der</strong>er Geburtstag. Ja <strong>und</strong> da sitzt<br />
meine Mutter alleine in diesem Einfamilienhaus da am Wohnzimmertisch, stellt eine<br />
Flasche Rotkäppchensekt hin <strong>und</strong> zwei Gläser <strong>und</strong> sagt: „Stefan, jetzt feiern wir mal<br />
schön.“ Nein, nicht mit mir. Dann habe ich mir noch vorgenommen, ihr zu erzählen,<br />
was mir gerade passiert ist. Also im Jugendwerkhof Torgau vor allem. Meine...meine<br />
Mutter hat, ach ich kam noch nicht mal drei Sätze weit, „Hör auf zu lügen Stefan, du<br />
hattest als Kind schon eine blühende Phantasie.“ Und das war die zweite verbale<br />
Ohrfeige von meiner Mutter. Heute weiß sie es besser. Ich habe sie nach <strong>der</strong><br />
Wi<strong>der</strong>vereinigung Deutschlands, ich glaube '93 o<strong>der</strong> '94, zum Besuch <strong>der</strong><br />
Gedenkstätte mal mit nach Torgau genommen. Ich habe ihr das gezeigt. Damals war<br />
es noch keine Gedenkstätte. Da war, also bis auf wenige Verän<strong>der</strong>ungen, war dieser<br />
Knast noch fast zu hun<strong>der</strong>t Prozent erhalten. Also bis auf ein paar Beschädigungen,<br />
dass die Erzieher schon die Gitter entfernen lassen haben <strong>und</strong> so. Die lagen da alle<br />
abgeflext auf dem Hof. Meine Mutter hat diesen Haft...also diese Haftanstalt noch<br />
von innen sehen können. Im fast Originalzustand. Da hat sie endlich begriffen, was<br />
eigentlich passiert ist. Ich habe sie auch irgendwann mal meine Son<strong>der</strong>akte lesen<br />
lassen. Das war 1998 während meiner strafrechtlichen Rehabilitierung vorm<br />
Landgericht. Da bekam ich dann auch meine Unterlagen in Kopie ausgehändigt. Und<br />
dann habe ich das meiner Mutter alles zu lesen gegeben. Ja <strong>und</strong> wie gesagt, 1985<br />
am Tag meines 18. Geburtstages, wo ich zu meiner Mutter komme <strong>und</strong> ihr davon<br />
erzähle, glaubt sie ihrem Kind nicht. Dann bin ich einfach aufgestanden, hab den<br />
Mietvertrag <strong>und</strong> den Arbeitsvertrag genommen, die Wohnungsschlüssel, <strong>und</strong> habe<br />
das <strong>Haus</strong> meiner Mutter verlassen. Ich hatte ja ein paar Ostmark Taschengeld in <strong>der</strong><br />
Hosentasche, bin zu meiner Wohnung gefahren, habe da aufgeschlossen <strong>und</strong> habe<br />
meine Privatklamotten bloß hingeschmissen <strong>und</strong> ja, dann bin ich in die nächste<br />
Kneipe. Damals hat das Bier, <strong>der</strong> halbe Liter, in Ostberlin 49 Blechpfennige gekostet.<br />
Und ich glaube, ich hatte zwanzig o<strong>der</strong> fünf<strong>und</strong>zwanzig Mark einstecken. Das war es.<br />
(02:17:08-8)<br />
Das war meine Entlassung, 18. Geburtstag, total lustig. (02:17:16-9)<br />
…<br />
5. Spätfolgen, Verantwortung <strong>und</strong> Rehabilitierung: „Nie wie<strong>der</strong> richtig Fuß<br />
gefasst.“<br />
SL: Also in meinem Fall ist das recht massiv. Ist natürlich von Betroffenen zu<br />
Betroffenen auch individuell unterschiedlich. Also so wie wir alle als Menschen<br />
unterschiedlich sind. Bei mir ist es so, dass ich heute zu fünfzig Prozent<br />
schwerbehin<strong>der</strong>t bin. Das aus mehrfachen Gründen. Also ich habe eine chronische<br />
Darmerkrankung. Ich leide unter sogenannten posttraumatischen<br />
Belastungsstörungen, was <strong>der</strong> Regelfall ist von uns ehemaligen Insassen. Ich habe<br />
zwei kaputte Knie. (…) Ja also pff … da gibt es, gibt es eine ganze Bandbreite von,<br />
von Spätfolgen. Eine <strong>der</strong> häufigsten, in meinem Fall konnte ich das ausgleichen, zur<br />
Wendezeit schon, Gott sei dank. Die meisten haben natürlich berufliche<br />
Schwierigkeiten. Und das hat was mit <strong>der</strong> Verweigerung von Ausbildung o<strong>der</strong><br />
überhaupt Bildung in den Heimeinrichtungen <strong>der</strong> DDR zu tun. Ich habe ja schon<br />
www.haus<strong>der</strong>demokratie.de/unverzichtbar 34
erwähnt, dass <strong>der</strong> Regelfall <strong>der</strong> Schulausbildung die achte Klasse war. Damit konnte<br />
man nur eine Teilfacharbeiterausbildung machen, sprich eine Anlerntätigkeit. Im<br />
Endeffekt bin ich dann heute im wie<strong>der</strong>vereinigten Deutschland nur in <strong>der</strong> Lage<br />
Anlerntätigkeiten, also Hilfsarbeiter zu sein o<strong>der</strong> – ja, solche Arbeiten auszuführen.<br />
Das hat Auswirkungen im sozialen Bereich, also sprich man verdient ja da auch nicht<br />
wahnsinnig gut. Na <strong>und</strong> dann ist man ja schon wie<strong>der</strong> ausgegrenzt <strong>und</strong><br />
ausgeschlossen. Und den wenigsten ist es wirklich gelungen, so wie in meinem Fall,<br />
dass man sich noch mal wirklich zusammen gerissen hat o<strong>der</strong> die Möglichkeit<br />
bekommen hat, überhaupt noch mal einen richtigen Schulabschluss zu machen o<strong>der</strong><br />
eine richtige Facharbeiterausbildung, um auch sein Leben selbst finanziell zu<br />
meistern. Mit dem Finanziellen kommt ja eine ganze Menge sozialer .. ja<br />
Klad<strong>der</strong>adatsch hinten dran, ne? Und wie gesagt, jedes Jahr ist Ehemaligentreffen<br />
<strong>und</strong> man trifft immer wie<strong>der</strong> Neue. Ist ganz merkwürdig. Ehemalige Insassen. Was<br />
heißt merkwürdig, ist ja logisch bei über viertausend. Und manch einer fährt da halt<br />
nicht jedes Jahr hin, son<strong>der</strong>n einmal, <strong>und</strong> dann reicht es ihm für das ganze Leben<br />
wie<strong>der</strong>. Und da hört man das recht oft, frühberentet, teilberentet, Bor<strong>der</strong>line,<br />
posttraumatische Belastungsstörungen, kaputte Knie, kaputter Rücken, an<strong>der</strong>e<br />
Geschichten. Immer wie<strong>der</strong> das Gleiche. Und nie wie<strong>der</strong> richtig Fuß gefasst, also im<br />
Beruflichen nicht. Und dadurch sind halt auch private Bindungen,<br />
Lebenspartnerschaften, Ehen auseinan<strong>der</strong> gegangen, kaputt gegangen. Das sind für<br />
mich recht dramatische Folgen. (02:22:03-0) Pause<br />
SL: Es hätte die Möglichkeit gegeben, einige sind recht früh nach <strong>der</strong><br />
Wie<strong>der</strong>vereinigung verstorben. Ja, Ironie <strong>der</strong> Geschichte. In dem Augenblick, als ich<br />
in <strong>der</strong> Nacht vom 9. zum, zum 10. De... äh November 1989 über die Brücke im<br />
Prenzlauer Berg laufe, <strong>der</strong> erste geöffnete Grenzübergang innerhalb Deutschlands,<br />
um nach Westberlin zu gelangen, da ist Horst Kretzschmar im Krankenhaus von<br />
Torgau gestorben. Offiziell an Krebs <strong>und</strong> einer schweren Diabetes <strong>und</strong> so weiter.<br />
Schwer krank war er. Das war schon zu meiner Zeit 1985. Wie gesagt, die Berliner<br />
Mauer fällt, Deutschland feiert, Horst Kretzschmar stirbt. Ist die, ja die eine<br />
Geschichte, warum ehemalige Täter halt nicht zur Verantwortung gezogen wurden.<br />
Weil sie halt verstorben sind. Die Hauptverantwortliche für die Heimerziehung in <strong>der</strong><br />
DDR, insbeson<strong>der</strong>e natürlich auch die Spezialkin<strong>der</strong>heime <strong>und</strong> die Jugendwerkhöfe<br />
bis hin zu Torgau, ist ja die Volksverblödungsministerin Margot Honecker gewesen,<br />
die Frau von Erich Honecker. Die hat sich durch Flucht ihrer Verantwortung<br />
entzogen. Ist ja 1991 nach Moskau abgehauen mit ihrem Mann <strong>und</strong> dann 1992 direkt<br />
nach Santiago de Chile. Die war für die deutsche Justiz nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung<br />
schlicht <strong>und</strong> ergreifend nicht mehr erreichbar, nicht mehr greifbar. Ich weiß, dass<br />
mehrere B<strong>und</strong>estagsabgeordnete, dann <strong>der</strong> SPD, Strafanzeige gegen Frau<br />
Honecker gestellt haben. Und auch ich habe, für meine Wenigkeit, Strafanzeige<br />
gegen Frau Honecker gestellt. Und gegen den Anstaltsarzt <strong>und</strong> gegen die Erzieher,<br />
die mir namentlich bekannt waren, <strong>und</strong> den Direktor, weil ich das 1993 noch nicht<br />
wusste, dass <strong>der</strong> schon tot ist. Und dann wurde durch die ZERV [Zentrale<br />
Ermittlungsstelle Regierungs- <strong>und</strong> Vereinigungskriminalität] eine Zeitlang, das ist eine<br />
spezielle Kriminalpolizei in Berlin gewesen, die dann für die<br />
Wie<strong>der</strong>vereinigungskriminalität <strong>und</strong> Regierungskriminalität in <strong>der</strong> DDR zuständig war.<br />
Da ist dann anfänglich noch ein bisschen ermittelt worden. Die Ermittlungsverfahren<br />
sind allesamt eingestellt worden. Bei Frau Honecker ist die Begründung, sie ist nicht<br />
www.haus<strong>der</strong>demokratie.de/unverzichtbar 35
mehr greifbar, <strong>und</strong> bei den Erziehern <strong>und</strong> dem Anstaltsarzt war die<br />
Einstellungsbegründung mangelndes öffentliches Interesse. Wie gesagt, 1993<br />
mangelndes öffentliches Interesse an einer Strafverfolgung. Und <strong>der</strong> Zeitraum<br />
zwischen den angezeigten Straftaten, also Freiheitsberaubung, Körperverletzung,<br />
Nötigung <strong>und</strong> so weiter, Bedrohung, das waren die, die Straftaten, die ich angezeigt<br />
hatte. Der Zeitraum, wo das stattgef<strong>und</strong>en haben soll, 1985 bis 1993, wo die<br />
Ermittlungen jetzt sein sollen, <strong>der</strong> wäre einfach schon zu lang. Also da besteht kein<br />
Zusammenhang mehr zwischen dieser Straftat <strong>und</strong>, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Bestrafung dann<br />
möglicherweise <strong>der</strong> ehemaligen Täter. Fand ich schon ziemlich zynisch diese<br />
Einstellungsbegründung. Der Eberhardt Mannschatz, <strong>der</strong> als persönlicher Referent<br />
von Frau Honecker im Volksbildungsministerium gearbeitet hat, für den Sektor<br />
Heimerziehung bis 1978, <strong>der</strong> ist auch nicht belangt worden. Der ist ja <strong>der</strong> Initiator<br />
zusammen mit an<strong>der</strong>en Direktoren von Spezialkin<strong>der</strong>heimen <strong>und</strong> Jugendwerkhöfen<br />
gewesen. Der 1963 schon die Idee hatte, eben diesen Jugendwerkhof einzurichten.<br />
Der ist bis heute nicht belangt worden. Der lebt noch hochbetagt hier in Berlin. War<br />
auch bis vor wenigen Jahren maßgeblich beim, bei <strong>der</strong> Arbeitsgruppe für<br />
Bildungspolitik, halten sie sich fest, bei <strong>der</strong> PDS im B<strong>und</strong>esvorstand tätig.<br />
Ehrenamtlich. Und hat dort maßgeblich die Bildungspolitik dieser, dieser heute nennt<br />
sie sich ja ‚Die Linke‘. Dieser ehemaligen SED eben mitgestaltet. Der ist auch nicht<br />
belangt worden. Bis heute sind mir namentlich zwei Erzieher bekannt, die zu ganz,<br />
ganz gering Geldstrafen verurteilt wurden, weil sie so blöd waren <strong>und</strong> in den<br />
Son<strong>der</strong>akten, die für uns Insassen ange..gelegt wurden, Körperverletzung<br />
dokumentiert haben. Also persönliche Übergriffe, wo sie sich gegenüber diesem<br />
Direktor haben rechtfertigen müssen, warum dort also Verletzungen vorgelegen<br />
haben. Wie gesagt ganz, ganz geringe Geldstrafen. Ansonsten ist nicht ein einziger<br />
bis heute, belangt o<strong>der</strong> bestraft worden. Also von den Erziehern <strong>und</strong> Direktoren <strong>der</strong><br />
sogenannten offenen Jugendwerkhöfe o<strong>der</strong> Spezialkin<strong>der</strong>heime, sowieso gar keiner.<br />
Und von den Durchgangsheimen auch keiner. Und vom geschlossenen<br />
Jugendwerkhof Torgau, waren es zwei in, in wirklich ganz, ganz individuellen Fällen.<br />
Und was richtig schlimm ist für die ehemals Betroffenen, was ich auch persönlich,<br />
also <strong>der</strong> damaligen B<strong>und</strong>esregierung <strong>und</strong> den dem Abgeordneten im deutschen<br />
B<strong>und</strong>estag sehr, sehr, sehr übel nehme, ist die Generalamnestie für Vergehen <strong>und</strong><br />
Verbrechen, die man in <strong>der</strong> DDR begangen hat bis zum Stichtag 03. Oktober 1990.<br />
Ist halt 1995 per Beschluss im deutschen B<strong>und</strong>estag parteiübergreifend, wirklich<br />
parteiübergreifend, da haben sich nur wenige Abgeordnete von den Grünen,<br />
teilweise von <strong>der</strong> CDU <strong>und</strong> <strong>der</strong> FDP enthalten. Ansonsten ist das eine<br />
parteiübergreifend einstimmige Meinung gewesen, Abstimmungsverhalten. Sämtliche<br />
Verbrechen, die in <strong>der</strong> DDR begangen wurden, egal von wem, zu amnestieren,<br />
straffrei zu stellen bis auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen<br />
aus dem zweiten Weltkrieg <strong>und</strong> Mord <strong>und</strong> ähnlich schwere Straftaten.(…) Also ist<br />
äußerst unbefriedigend für ehemalige Opfer. Also zumindest von solch schweren<br />
Verbrechen, wie sie im geschlossenen Werkhof Torgau stattgef<strong>und</strong>en haben. (…)<br />
…<br />
Ich habe 1996 den Antrag beim Landgericht Berlin gestellt. Erst mal völlig formlos,<br />
auf strafrechtliche Rehabilitierung nach dem SED-Unrechtbehandlungsgesetz. Und<br />
dieser Antrag ist erst mal abgelehnt worden. Und die Begründung war, dass ich ja<br />
kein politisches Strafrechtsurteil habe, son<strong>der</strong>n in meinem Fall eine Einrichtung o<strong>der</strong><br />
mehrere Einrichtungen <strong>der</strong> Jugendhilfe, <strong>der</strong> Volksbildung <strong>der</strong> DDR. Und damit<br />
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unterliege ich nicht den Bestimmungen des SED-Unrechtbereinigungsgesetzes. Dort<br />
sind zu dem Zeitpunkt meistens nur Fälle behandelt worden, bearbeitet worden, die<br />
meinetwegen im MfS- o<strong>der</strong> MdI-Untersuchungshaft waren [MfS: Ministerium für<br />
Staatssicherheit, kurz: Stasi; MdI: Ministerium des Inneren] <strong>und</strong> später im<br />
Strafvollzug. Die, die nach politischen Strafrechtsparagraphen verurteilt wurden in<br />
<strong>der</strong> DDR. Die also einen richterlichen Beschluss hatten. Und dann konnte das<br />
Landgericht Berlin o<strong>der</strong> wer auch immer zuständig war im Wie<strong>der</strong>vereinigten<br />
Deutschland sich das Urteil schnappen, die Anklageschriften, <strong>und</strong> sagen, ja das war<br />
politisch motiviert, deine Haftunterbringung für die Zeit. Mindestens diese Zeit wirst<br />
du rehabilitiert, dieses Urteil aufgehoben, trallala. Und das war für uns, ehemalige<br />
Jugendwerkhöfler o<strong>der</strong> auch Insassen von Spezialheimen <strong>der</strong> DDR eben nicht so<br />
vorgesehen. Und da konnte man im Einzelfall, da gab es ja noch eine<br />
verwaltungsrechtliche Opferschiene in diesem SED-Unrechtbehandlungsgesetz. Da<br />
musste man im Einzelfall nachweisen, dass die Unterbringung in einer Einrichtung<br />
<strong>der</strong> Jugendhilfe <strong>der</strong> DDR wirklich <strong>der</strong> politischen Verfolgung gedient hat. Und was bin<br />
ich heute froh, dass die ehemaligen Täter im Jugendwerkhof Torgau preußisch<br />
pedantisch alles aufgeschrieben haben. Und in meinem Fall steht in meiner<br />
Son<strong>der</strong>akte eben recht umfangreich drin, spätestens im Entlassungsbericht, dass<br />
meine feindlich negative Haltung zur DDR, zur Parteiführung <strong>der</strong> SED nach wie vor<br />
besteht. Da stehen unter, unter den Einweisungsgründen Zitate von mir drin, die ich<br />
schon als Schüler gemacht habe. Ich weiß gar nicht, wo sie diese, diese Zitate alle<br />
her hatten. O<strong>der</strong> aus meiner Zeit im Jugendwerkhof Freital zum Beispiel: „Im Westen<br />
die Freiheit, im Osten das Brot.“ Das habe ich recht häufig gesagt, tatsächlich. Aber<br />
eben schon in meiner Schulzeit. Also muss ja die Schule dann irgendwie weiter an<br />
das Jugendamt gemeldet haben <strong>und</strong> die haben das je<strong>der</strong> Einrichtung weiter<br />
gemeldet. Also in meinem Fall war es relativ einfach nachzuweisen, dass meine<br />
Unterbringung in den Heimeinrichtungen in <strong>der</strong> DDR tatsächlich politischer<br />
Verfolgung gedient hat. Und damit bin ich 1998 vom Landgericht dann auch<br />
rehabilitiert worden. Seit 2004 gibt es die Möglichkeit, ausschließlich für die Insassen<br />
des geschlossenen Jugendwerkhofes Torgau, auf Antrag, Einzelantrag, eine<br />
Rehabilitierung zu erreichen. Man muss nicht mehr nachweisen, ob man dort aus<br />
politischen Gründen eingebuchtet wurde o<strong>der</strong> aus pädagogischen Gründen o<strong>der</strong> wie<br />
auch immer. (02:31:51-5)<br />
Ja. Für die normalen Heimkin<strong>der</strong> <strong>der</strong> DDR ist es recht schwierig. Und da gehen ja die<br />
Schätzungen ziemlich weit auseinan<strong>der</strong>. Zwischen, die niedrigste Zahl, die ich mal<br />
gehört habe, dreihun<strong>der</strong>tfünfzigtausend ehemalige Heimkin<strong>der</strong> <strong>der</strong> DDR seit 1950,<br />
also Staatsgründung '49 bis '89. In vierzig Jahren also dreihun<strong>der</strong>tfünfzigtausend.<br />
Das.. die Schätzungen gehen bis zu circa eine Million. Aber da ist man ziemlich<br />
zerstritten. Das wird noch Jahre brauchen, bis da so halbwegs verlässliche Zahlen<br />
sind. Mittlerweile weiß man aber, dass es ungefähr dreihun<strong>der</strong>tachtzigtausend,<br />
alleine dreihun<strong>der</strong>tachtzigtausend Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche in Spezialkin<strong>der</strong>heimen<br />
<strong>und</strong> Jugendwerkhöfen gegeben hat. Und davon halt über viertausend, die in Torgau<br />
waren, im Geschlossenen. Also die Zahlen sind relativ sicher. Aber es gab ja noch<br />
die Kombinate Son<strong>der</strong>heime, das war für psychisch kranke Kin<strong>der</strong>, die<br />
verhaltensauffällig waren. Vier Einzelheime rings um Ostberlin herum. Dann gab es<br />
die sogenannten Normalkin<strong>der</strong>heime. Dann gab es ja noch diese sogenannten<br />
offenen Jugendwohnheime, wo ich ja auch mal zwei Jahre war. Und noch<br />
Wochenkin<strong>der</strong>heime <strong>und</strong>- die DDR hatte für jede Altersgruppe, für jede Gegebenheit<br />
irgendein Heimchen vorrätig. Also Altersheim, Pflegeheim gab es auch noch. Wer<br />
www.haus<strong>der</strong>demokratie.de/unverzichtbar 37
Pech hatte, ist von Geburt bis zur, zum Tode nur im Heimen gewesen in <strong>der</strong> DDR.<br />
Wäre möglich gewesen, rein theoretisch. (02:33:25-0)<br />
…<br />
SL: [Am meisten gefehlt hat mir] ein normales ziviles Leben. Meine Fre<strong>und</strong>e, meine,<br />
meine Musik. Sich nicht ständig befehlen lassen, was man zu tun <strong>und</strong> zu lassen hat.<br />
Ich sage dazu immer heute, mir hat meine Freiheit gefehlt. Egal ob ich in einer<br />
vermeintlich offenen Heimeinrichtung gewesen bin o<strong>der</strong> später im Zuchthaus im<br />
geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Mir hat meine Freiheit, meine individuelle<br />
Freiheit gefehlt. Wie kommt denn ein, ein..eine Staatsführung dazu, seinem Volk<br />
vorzuschreiben, was es im TV zu sehen hat o<strong>der</strong> für Musik zu hören hat. Wann es<br />
ein Bier zu trinken hat, für die Fa.. Farbe <strong>der</strong> Haare, also wie gefärbte Haare<br />
vielleicht auszusehen haben. Wie, wie kommt denn eine Staatsführung dazu, also<br />
mal ein einfaches Beispiel. Wenn heute B<strong>und</strong>eskanzlerin Angela Merkel mir<br />
vorschreiben will, wie meine Kleidung auszusehen hat, ob ich Punk o<strong>der</strong> Hip Hop<br />
hören darf. … Also die Frau würde man doch einweisen, heute, in eine geschlossene<br />
Psychiatrie. Aber ein Herr Ulbricht <strong>und</strong> ein Herr Honecker als Staatschef in ihrer Zeit,<br />
in <strong>der</strong> DDR, die haben sich das angemaßt. Die haben sich angemaßt ihrem Volk zu<br />
erzählen, dass sie das Westfernsehen, hat man ja heimlich dann gemacht. Aber dass<br />
man das eigentlich nicht sehen soll, dass es unerwünscht ist. Die haben Jugendliche,<br />
die in <strong>der</strong> Öffentlichkeit als Penner erkannt o<strong>der</strong> definiert wurden, also Langhaarige<br />
mit Nickelbrillen mit einem Shell-Parker <strong>und</strong> die dann Westmusik öffentlich gehört<br />
haben <strong>und</strong> vielleicht mal ein Bierchen getrunken in <strong>der</strong> Öffentlichkeit haben, die hat<br />
man einkassiert, denen hat man die Haare geschnitten, denen hat man den Victory-<br />
Aufnäher von <strong>der</strong> Kutte gerissen <strong>und</strong> die Musikkassette weggenommen. Und im<br />
Zweifelsfall hat man sie ins Jugendarbeitslager o<strong>der</strong> in einen Jugendwerkhof<br />
eingesperrt. Für nichts <strong>und</strong> wie<strong>der</strong> nichts. Das war DDR-Realität. Man hat uns die<br />
individuelle Freiheit weggenommen. (...) (02:35:33-7)<br />
Man hat uns als Menschen, wenn wir uns nicht parteipolitisch o<strong>der</strong> staatskonform<br />
verhalten haben, man hat uns entmündigt. Man hat uns Vorschriften gemacht, nicht<br />
nur machen wollen, son<strong>der</strong>n gemacht, wie wir zu leben haben, als sozialistische<br />
Jugend. Ist übrigens einer aus meiner Sicht, <strong>und</strong> damit stehe ich wahrscheinlich auch<br />
nicht ganz alleine, einer <strong>der</strong> Hauptmerkmale, woran man Diktaturen erkennt. Wie<br />
eine Staatsführung in einem geschlossenen Staatssystem mit ihrer Jugend umgeht.<br />
Das war im Dritten Reich so. Man hat sich die Jugend gegriffen <strong>und</strong> den neuen<br />
Menschen formen wollen. Das ist ja die richtige … ja die richtige Vo..Vo..kabel <strong>der</strong><br />
Naziideologie, den neuen Menschen schaffen. (…)<br />
Und das hat mir als Mensch gefehlt. Frei zu sein. (02:36:43-1)<br />
SL: Die Zeit meiner politischen Verfolgung, das ist auch staatlich anerkannt heute,<br />
ich habe ja auch eine berufsrechtliche Rehabilitierung, weil ich in meiner Ausbildung<br />
während meiner Haftzeit dann behin<strong>der</strong>t wurde. Also während meiner<br />
Jugendwerkhofzeit. Ist ja gegen meinen Willen abgebrochen worden. Und da wurde<br />
auch die … persönliche politische Verfolgungszeit geprüft. Wie lange war denn<br />
tatsächlich die politische Verfolgung für den Einzelnen? Wann endet diese? Und in<br />
meinem Fall endet die nicht mit meiner Entlassung zum 18. Geburtstag aus <strong>der</strong><br />
Heimerziehung. Bis 1989 durfte ich keine Ausbildung machen, stand in meiner<br />
Personalakte drin, bis also mindestens für die Zeit von drei Jahren durfte ich keine<br />
www.haus<strong>der</strong>demokratie.de/unverzichtbar 38
Ausbildung, keine Weiterbildung machen <strong>und</strong> keine verantwortungsvollen<br />
Tätigkeiten. So haben sie es geschrieben. Man hatte mich zum Hilfsarbeiter<br />
verdonnert. Nach meiner Entlassung da war ich ein freier Mensch eigentlich,<br />
innerhalb des Gefängnisses DDR. Ich hatte mich über ein Jahr bei <strong>der</strong> Abteilung<br />
„Inneres“ zu melden. Das ist die spezielle Abteilung, die sich um die<br />
Ausreiseantragsteller gekümmert hat <strong>und</strong> auch entlassene Strafhäftlinge. Ob aus<br />
politischen Gründen o<strong>der</strong> kriminellen Gründen im Strafvollzug <strong>der</strong> DDR gewesen. Die<br />
mussten sich ja nach ihrer Entlassung in den Rathäusern o<strong>der</strong> wo auch immer, bei<br />
den Abteilungen Innere Angelegenheiten. Und da hatte ich Woche für Woche zu<br />
berichten, was ich in meiner Freizeit mache, wie das mit meinem Job läuft <strong>und</strong> ob<br />
alles in Ordnung ist. Mit wem ich Umgang habe, also wer sind meine Fre<strong>und</strong>e. Ich<br />
wurde über mein Einkaufsverhalten ausgefragt, über mein, mein ja Freizeitverhalten.<br />
Ich wurde sogar gefragt, wie viel Bier ich am Tag trinke. Das hat sich diese, diese<br />
Staatsführung hier in <strong>der</strong> DDR, also damalige DDR, die haben sich das angemaßt<br />
Menschen so zu kontrollieren. Das macht man heute noch nicht einmal mit …<br />
entlassenen Häftlingen aus dem, aus dem Strafvollzug, die schwerste Verbrechen<br />
begangen haben. Aber das macht man mit Jugendwerkhöflern über dreihun<strong>der</strong>to<strong>der</strong><br />
vierhun<strong>der</strong>ttausend. … Nur weil sie Punk gehört haben, nur weil sie lange<br />
Haaren hatten, nur weil sie von zu <strong>Haus</strong>e ständig ausgerissen sind. O<strong>der</strong> was auch<br />
immer <strong>der</strong> Einweisungsgr<strong>und</strong> für einen ehemaligen Insassen in einen Jugendwerkhof<br />
waren. Die hat man nachträglich solange drangsaliert. In meinem Fall politische<br />
Verfolgungszeit vier Jahre. Und nicht nur die knapp 16 Wochen, die ich in Torgau<br />
war. Ich bin relativ häufig auf Veranstaltungen gefragt worden, ab welchem Moment<br />
ich mich wirklich frei gefühlt habe. Und das ist wirklich die Nacht, wo ich über die<br />
böse Brücke laufe, Bornholmer Straße, nach Westberlin. Die Mauer ist gerade<br />
gefallen. Und auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite stehen Son<strong>der</strong>busse <strong>der</strong> BVG. Und da reicht als<br />
Fahrkarte <strong>der</strong> DDR-Ausweis, den man kurz gezeigt hat. Und dann habe ich so einen<br />
Bus bestiegen. Die haben also die Leute, die über die Grenzübergänge gekommen<br />
sind, die das wollten, von den Grenzübergängen direkt zum Breitscheidplatz, zum<br />
Ku‘damm, gefahren. Wo ich damals von <strong>der</strong>, wirklich schon die ganze Nacht schon<br />
durchgefeiert wurde, ich glaube um drei<strong>und</strong>zwanzig Uhr <strong>und</strong> paar Minuten, da ging<br />
dieser Grenzübergang auf. Und ich bin ja früh um sechse erst drüber gelaufen. Da<br />
war die Party am Ku‘damm schon voll am Kochen. Weiß ich gar nicht,<br />
fünfhun<strong>der</strong>ttausend, zwei Millionen – keine Ahnung. Weiß heute kein Mensch mehr,<br />
wie viele da waren. Und diese Busse waren dafür da, dass man die Menschen dort<br />
eben hinfährt. Als <strong>der</strong> Bus voll war, hat <strong>der</strong> Busfahrer die Türen geschlossen, macht<br />
sein Mikrofon an, das kannten wir Ossis doch gar nicht. Ein Bus <strong>der</strong><br />
Verkehrsgesellschaften <strong>und</strong> <strong>der</strong> Busfahrer hat ein Mikrofon <strong>und</strong> wir haben<br />
Lautsprecher über den Köpfen. Der hat bloß einen Satz gesagt. Ich habe<br />
angefangen zu heulen. Willkommen in <strong>der</strong> Freiheit. Da war ich frei. Am 10.<br />
November 1989. Nicht eine Minute früher. (02:40:39-5)<br />
Da habe ich wirklich Rotz <strong>und</strong> Wasser geheult. Der Busfahrer hat übrigens den Motor<br />
noch mal ausgemacht. Ich habe gleich vorne auf <strong>der</strong> ersten Bank gesessen.<br />
Eigentlich war ich guten Mutes <strong>und</strong> gerade über die Grenze, wo ein Tag vorher noch<br />
scharf geschossen wurde. Und ich wusste, meine Schwester ist hier irgendwo in<br />
Westberlin. Ist mir scheißegal, ich finde die. Und dann quatscht <strong>der</strong> diesen Spruch,<br />
willkommen in <strong>der</strong> Freiheit. Na ja, da schossen die Tränen. Da hat <strong>der</strong> den Motor<br />
ausgemacht, ist zu mir gekommen: „Habe ich irgendwas Falsches gesagt? Ist<br />
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irgendwas?“. Ich sagte: „Nein, nein fahren sie mal los. Ich muss zu meiner<br />
Schwester.“ Dann ist er losgefahren. (02:41:18-1)<br />
6. Durchgangsheim Alt-Stralau „Wir haben Händchen gehalten“<br />
SL: Also in meinem Fall war es ja so, dass ich das erste Mal im Durchgangsheim Alt-<br />
Stralau Ende 1982 war. Da war ich mitten im ersten Halbjahr <strong>der</strong> zehnten Klasse. Ich<br />
war also schulpflichtig <strong>und</strong> kam dann, weil meine Mutter mich nicht mehr aufnehmen<br />
wollte zu <strong>Haus</strong>e, noch vor, vor meinem Gerichtsverfahren für drei o<strong>der</strong> vier Wochen<br />
in dieses Durchgangsheim. Ja, ich konnte meine Schule dort drin nicht fortführen. Es<br />
gab keinen Schulunterricht, es gab keinen Schulunterricht, da gab es keinen Lehrer<br />
<strong>und</strong> keine Schulbücher <strong>und</strong> irgendwas. Jungs <strong>und</strong> Mädchen sind getrennt<br />
voneinan<strong>der</strong> aufbewahrt worden. Auf zwei unterschiedlichen Etagen. Und wir<br />
mussten dort arbeiten. Also alle, die 14 Jahre <strong>und</strong> älter waren, die haben dort<br />
tagsüber gearbeitet. Ich kann mich noch genau erinnern im Durchgangsheim Alt-<br />
Stralau, hier in Ostberlin, haben wir Diarahmen zusammen gesteckt. Also es gab mal<br />
eine Zeit auch im, noch vor dem Beamer <strong>und</strong> Filmprojektor o<strong>der</strong> ähnliches, da hat<br />
man Fotos gemacht <strong>und</strong> <strong>der</strong> Fotograf hat daraus Dias angefertigt, die man sich dann<br />
zu <strong>Haus</strong>e mit dem Diaprojektor an die Wand werfen konnte <strong>und</strong> seine Urlaubsfotos<br />
sich angucken konnte. Und die Plastikrahmen, die haben wir im Durchgangsheim als<br />
Kin<strong>der</strong> ohne Arbeitsentgelt, ohne irgendwas im Akkord zusammen gebastelt. Zu 25<br />
Stück waren das glaube ich immer. Und dann wurden die verkauft. Und davon hat<br />
man diese Heime mitfinanziert. Das ist ja wohl ein Witz. Also wir waren zum größten<br />
Teil schulpflichtige Kin<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> zumindest Kin<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Jugendliche, die in <strong>der</strong><br />
Ausbildung schon waren mit 15 o<strong>der</strong> 16 Jahren. Und diese, diese Geschichten<br />
fanden in diesen Durchgangsheimen nie statt. Und wie gesagt, <strong>der</strong> Name sagt es ja<br />
schon, Durchgangsheim, das war ja keine endgültige Heimunterbringung, son<strong>der</strong>n<br />
nur für den Zeitraum, wo das Jugendamt eben die die Zeit brauchte, um einen<br />
Heimplatz, einen regulären Heimplatz zu finden. So lange blieb man dort in diesem<br />
Durchgangsheim. Dann waren natürlich auch Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche da drin, die<br />
schon längst einen Heimplatz hatten, aber aus den offenen Heimeinrichtungen<br />
abgehauen sind. Und in <strong>der</strong> Stadt, wo sie aufgegriffen wurden, was ja recht schnell<br />
war in <strong>der</strong> DDR, bei <strong>der</strong> Polizeidichte <strong>und</strong> so weiter. Man hatte keine Papiere <strong>und</strong><br />
kein Geld. Da ist man recht schnell von <strong>der</strong> Polizei gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> aufgegriffen<br />
worden. Dann kamen wir in dieses Durchgangsheim. Und je nachdem wie schnell da<br />
ein Transport zusammengestellt werden konnte, wurde man in diese feste<br />
Stammeinrichtung wie<strong>der</strong> zurückgeführt. Und in <strong>der</strong> Zeit kein Kontakt zum an<strong>der</strong>en<br />
Geschlecht, kein Lachen, kein Spaß, kein, keine freie Bewegungsmöglichkeit. Nachts<br />
die Schlafräume zugeschlossen, kein Wasserklosett, kein Trinkwasser. Genauso wie<br />
in Torgau. Da steht auch bloß ein Kübel für die Notdurft. Für sechsjährige kleine<br />
Kin<strong>der</strong>, die von zu <strong>Haus</strong>e rausgelöst werden mussten, weil <strong>der</strong> Vater schwerer<br />
Alkoholiker war o<strong>der</strong> überhaupt asoziale Lebensumstände waren,<br />
Kindesmisshandlung o<strong>der</strong> sexueller Missbrauch in <strong>der</strong> Familie stattgef<strong>und</strong>en hat. Aus<br />
ähnlich dramatischen Familiensituationen herausgelöst werden mussten, die heute<br />
auch zu Heimunterbringung führen können. Die kommen vom Regen in die Traufe.<br />
Der Tagesablauf ist auch streng reguliert o<strong>der</strong> vorgegeben. Noch nicht so schlimm,<br />
wie ich es dann später im offenen <strong>und</strong> vor allem im geschlossenen Jugendwerkhof<br />
erlebt habe. Das war schon ein Stück weit entspannter. Die Erzieher haben dort nicht<br />
nur rumgebrüllt <strong>und</strong> sonst irgendwas. Aber für sogenannte Verstöße gegen die<br />
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<strong>Haus</strong>ordnung, für die verbotene Kontaktaufnahme zum an<strong>der</strong>en Geschlecht,.. da gab<br />
es auch Sanktionen. Unter an<strong>der</strong>em Einzelarrest. Im, im Durchgangsheim Alt-<br />
Stralau, wie gesagt für Kin<strong>der</strong> von sechs bis achtzehn Jahren, hatte dieses<br />
Durchgangsheim im Keller zwei Einzelarrestzellen. Und da sind sogar Sechsjährige<br />
in die Einzelarrestzelle im Keller eingesperrt worden. Noch nicht so wie in Torgau<br />
später für zwölf Tage, aber wenn da so ein Sechsjähriger für zehn St<strong>und</strong>en o<strong>der</strong><br />
auch mal über Nacht in eine Kellerzelle eingesperrt wird. Was hinterlässt denn das<br />
für Spuren bitteschön?<br />
Und die Einzelarrestzellen, die sind lange Zeit geleugnet worden. Auch nach <strong>der</strong><br />
Wende noch von ehemaligen Erziehern. So was hat es alles gar nicht gegeben, das<br />
würden sich die ehemals Betroffenen heute alles ausdenken. Wir sind ja sowieso<br />
bloß Lügner. Es gibt Fotos, die man vor ein paar Jahren gef<strong>und</strong>en hat. Und ich<br />
glaube bei "Schlimmer als Knast“ [Dokumentation zu Jugendwerkhöfen <strong>der</strong> DDR], da<br />
kann man das sehen. Die Einzelarrestzellen, mit dem Lüftungsschacht. Und ich<br />
persönlich habe dort mehrere Tage <strong>und</strong> Nächte verbringen müssen. Übrigens<br />
zusammen mit einem Mädchen. Also nicht zusammen in einer Zelle, son<strong>der</strong>n die war<br />
in einer Zelle <strong>und</strong> ich war in <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Zelle. Und <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> war, auf Arbeit haben<br />
wir nebeneinan<strong>der</strong> gesessen, <strong>und</strong> wir haben Händchen gehalten. Irgendwann mal für<br />
ein paar Sek<strong>und</strong>en o<strong>der</strong> so. Und wir haben miteinan<strong>der</strong> geflüstert. Und <strong>der</strong><br />
Arbeitserzieher hat das gesehen <strong>und</strong> an die an<strong>der</strong>en Erzieher gemeldet <strong>und</strong> „boom“<br />
waren wir für verbotene Kontaktaufnahme für mehrere Tage auf Einzelarrest. Ja, <strong>und</strong><br />
was soll ich sagen, über diesen Lüftungsschacht haben wir uns Tag <strong>und</strong> Nacht,<br />
solange wie wir keinen Erzieher gehört haben, konnten wir uns wun<strong>der</strong>bar<br />
unterhalten. Das war Ende November, Anfang Dezember 1982. Und da hat die mir<br />
da tagelang erzählt, dass ihr, also in Einzelhaft, in <strong>der</strong> Einzelzelle da unten im Keller,<br />
dass sie in mich verknallt ist <strong>und</strong> dann hat sie mir Lie<strong>der</strong> vorgesungen, die neusten<br />
Popsongs <strong>und</strong> so. Also ich fand das total lustig. Also genau für das, was man uns<br />
vorgeworfen hatte, was verboten war, das konnten wir dort unten, also St<strong>und</strong>en<br />
haben wir... Und wenn ich das heute Schülern, Schulklassen erzähle, die lachen<br />
auch immer. Hat nur noch <strong>der</strong> Presslufthammer gefehlt, dann hätte ich die Wand<br />
weggekloppt, dann hätten wir da kuscheln können. Das ist Durchgangsheim Alt-<br />
Stralau. Heute ist das eine Gr<strong>und</strong>schule. Seit Jahren schon, ist umgebaut worden.<br />
Weiß nicht mehr genau wann, 1998 o<strong>der</strong> '99 ist das umgebaut worden. Und die<br />
Gitter sind plötzlich weg, die Einzelzellen gibt es sicher nicht mehr im Keller. Und das<br />
gesamte Gebäude ist damals komplett entkernt worden. Ich habe das, als es eine<br />
Baustelle war, mir noch mal anschauen können. Bin da einfach rein gegangen auf<br />
ein Wochenende. Und <strong>der</strong> Charakter des Gebäudes ist total verän<strong>der</strong>t worden. Also<br />
da erkennt man nichts mehr. Aber das war, das war ein richtig kleines Gefängnis. Für<br />
vierzig, fünfzig Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche im Durchschnittsalter sechs bis achtzehn.<br />
Und an<strong>der</strong>e Durchgangsheime, die sollen von den rein baulichen Voraussetzungen<br />
sogar wirklich ein Gefängnis gewesen sein. Bad Freienwalde zum Beispiel ist jetzt<br />
ganz aktuell im Gespräch. Das war ein richtiges ehemaliges Zuchthaus. Und da<br />
haben sie ein Durchgangsheim eingerichtet für Kin<strong>der</strong> von sechs bis achtzehn<br />
Jahren. Und die hatten im Keller da nicht nur zwei Zellen, son<strong>der</strong>n da hatten die<br />
fünfzehn o<strong>der</strong> zwanzig Zellen. Und da waren dann insgesamt nicht nur 40 o<strong>der</strong> 50<br />
Insassen da, son<strong>der</strong>n da waren vielleicht 120. (02:55:50-4)<br />
7. Gewaltfreie Erziehung: „Da hört <strong>der</strong> Spaß auf“<br />
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SL: Also für mich ist das ein Gr<strong>und</strong>satz im, im Bereich <strong>der</strong> Einhaltung <strong>der</strong><br />
allgemeinen Menschenrechte. Das diese Menschenrechte nicht erst ab dem 18.<br />
Geburtstag einem Menschen, wo man ja heute offiziell volljährig wird, zur Verfügung<br />
stehen, son<strong>der</strong>n qua Geburt einem Menschen zur Verfügung stehen. Für mich<br />
gehören die Kin<strong>der</strong>rechte übrigens in die Verfassung aufgenommen. Das ist ja bis<br />
heute nicht umgesetzt. Son<strong>der</strong>n da gibt es ja lediglich, o<strong>der</strong> was heißt lediglich, ist<br />
immerhin, den Artikel 1 Gr<strong>und</strong>gesetz, die Würde des Menschen ist unantastbar. Und<br />
für mich gehört ja diese Sache erweitert, dass das also qua Geburt einem jeden<br />
einzelnen Menschen zusteht. Ja <strong>und</strong> als deutliches Erkennungsmerkmal einer freien<br />
demokratischen Gesellschaft ist für mich eben die Möglichkeit,<br />
Verwaltungsgerichtsbarkeit zu haben <strong>und</strong> zur Verfügung zu haben <strong>und</strong> jegliche<br />
staatliche Maßnahme, irgendeiner Form, ob das die Anweisung einer, einer<br />
Heimunterbringung o<strong>der</strong> sonst was ist, einer Freiheitsentziehung o<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> was<br />
auch immer <strong>der</strong> Staat an Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung hat. Dass man das<br />
hinterfragen kann <strong>und</strong> auch vor Gericht gehen kann <strong>und</strong> solche Entscheidungen in,<br />
in Frage stellt. Und das war in <strong>der</strong> DDR eben nicht so. Für mich ist das ein<br />
gr<strong>und</strong>legen<strong>der</strong> Punkt, die Menschenrechte verwirklicht zu sehen. (02:43:23-5)<br />
…<br />
SL: Das ist also aus, aus meiner Rückerinnerung, hat es [die Gewalterfahrung in <strong>der</strong><br />
Familie] viel mit Vertrauensverlust zu tun. Also ich habe meine Mutter sicherlich mal<br />
als Kind sehr geliebt. Da kann ich mich auch zurückerinnern. Und es gab auch<br />
Phasen, in meiner Kindheit, die ich als halbwegs ja normal o<strong>der</strong> auch sogar glücklich,<br />
also Momente wo ich richtig glücklich war als Kind. Und ja mit jedem Übergriff<br />
meines Stiefvaters vor allem, aber auch teilweise meiner Mutter, die hat ja auch<br />
geprügelt, war immer Vertrauensverlust verb<strong>und</strong>en. Das war für mich das<br />
Allerschlimmste also. Dass ich dann auch, als ich noch nicht Heimkind war, so mit<br />
13, 14, 15 Jahren, mich in meiner Freizeit teilweise auch nicht zu <strong>Haus</strong>e aufgehalten<br />
habe, weil ich mich unwohl gefühlt habe. Das ist Ausdruck dessen, dass ich von<br />
meiner Mutter zum Teil, meistens aber von meinem Stiefvater massiv misshandelt<br />
wurde. Ich habe mich nicht mehr wohl gefühlt zu <strong>Haus</strong>e. Ich hatte kein Vertrauen zu<br />
meiner Mutter <strong>und</strong> meinem Stiefvater. Dann habe ich mich eben lieber mit<br />
Schulfre<strong>und</strong>en o<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en rumgetrieben in Anführungszeichen. Nur um nicht<br />
verprügelt zu werden. (02:48:03-3)<br />
….<br />
Also in meinem persönlichen Fall ist das halt so, dass [die Gewalterfahrungen] zwei<br />
Auswirkungen hatten. Zum einen bin ich ja heut selbst fast 45 Jahre alt, bin Vater von<br />
zwei Kin<strong>der</strong>n. Und ich habe meine Kin<strong>der</strong> nie misshandelt. Ist für mich ein ganz, ganz<br />
wichtiger Gr<strong>und</strong>satz. Dass ich, egal in welche Lebenssituation komme, egal wie<br />
schwierig o<strong>der</strong> nicht schwierig meine Kin<strong>der</strong> sind o<strong>der</strong> ich mich überfor<strong>der</strong>t fühle, ich<br />
lege niemals Hand an meinen Kin<strong>der</strong>n an. Und wenn ich Sprüche höre von, von<br />
an<strong>der</strong>en Menschen, von wegen na ja die Ohrfeige o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Klaps auf den Hintern<br />
das ist ja, das sei ja keine Gewalt. Also das würde nur zur Maßregelung dienen <strong>und</strong><br />
zur guten Erziehung. Dann geht bei mir schon die Hutschnur hoch. Und das wäre für<br />
mich kein, ja das käme für mich absolut nicht in Frage. So was hinzunehmen. Und<br />
Gewalt in <strong>der</strong> Erziehung in staatlicher Obhut schon gar nicht. Also da hört für mich<br />
<strong>der</strong> Spaß absolut auf. Wenn man sich heute das Klientel <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong><br />
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Jugendlichen anschaut, die in staatlicher Obhut, also in Heimeinrichtungen o<strong>der</strong><br />
betreutem Wohnen o<strong>der</strong> was auch immer heute alles möglich ist, untergebracht ist.<br />
Und wenn man sich dann vorstellt, <strong>der</strong> Staat würde dort mit Gewalt erziehen wollen<br />
o<strong>der</strong> einwirken wollen, ja da, da platzt mir ebenfalls die Hutschnur. Und es gibt ja so,<br />
es gab zumindest solche Vorfälle, auch bis weit in die neunziger Jahre. Bin mir auch<br />
recht sicher, dass es auch bis heute solche Fälle gibt. Aber sie sind eben Gott sei<br />
dank nicht mehr <strong>der</strong> Regelfall. Und dass man dagegen heute vorgehen kann. Dass<br />
ein Kind o<strong>der</strong> ein Jugendlicher die Möglichkeit hat, <strong>und</strong> wenn er es heimlich macht an<br />
einen Fernsehsen<strong>der</strong>, so einen Fall gab es doch mal vor zwei, drei Jahren im Land<br />
Brandenburg. Eine Heimeinrichtung, die von irgendeinem karitativen Verband, da<br />
weiß ich jetzt nicht genau wer, geführt wurde. Und da gab es Misshandlungen an den<br />
Insassen durch die Erzieher, durch die Leiterin <strong>und</strong>, <strong>und</strong>, <strong>und</strong>. Und die Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong><br />
Jugendlichen haben sich an den R<strong>und</strong>funk Berlin/Brandenburg an, an eine<br />
Redaktion von Fakt glaube ich gewendet. Haben einen Brief geschrieben <strong>und</strong> haben<br />
das eben geschil<strong>der</strong>t. Und aufgr<strong>und</strong> dieser Meldung <strong>und</strong>, die Sendung hatte dann,<br />
weil die Redaktion hat das aufgenommen <strong>und</strong> hat einen Beitrag in, in ihrem<br />
Fernsehbericht darüber gemacht. Und dann gab es Ermittlungen durch die<br />
Kriminalpolizei <strong>und</strong> durch die Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> den betreffenden Erziehern<br />
wurde das sogar nachgewiesen. Die Kin<strong>der</strong> haben heimlich mit dem Handy, hatten<br />
wir alles nicht zu DDR Zeiten. Da gab es noch keine Handys. Aber diese Kin<strong>der</strong> in<br />
dieser Einrichtung, jetzt im Jahre 2009 war das, die haben eben Videoaufnahmen<br />
gemacht davon, wie die Heimleiterin die Kin<strong>der</strong> körperlich misshandelt hat <strong>und</strong><br />
angebrüllt <strong>und</strong> beleidigt hat <strong>und</strong> bedroht hat. Die Erzieher sind suspendiert,<br />
zumindest suspendiert <strong>und</strong> ich glaube, die sind sogar schon verurteilt, rechtskräftig.<br />
Dass das heute möglich ist. Das ist ganz wichtig.<br />
(02:46:43-1)<br />
…<br />
Es kommt bei solchen Maßnahmen [einer zwangsweisen Heimunterbringung] immer<br />
darauf an, wie die Unterbringungssituation ist. Inwieweit wird psychischer o<strong>der</strong><br />
tatsächlich auch körperlicher Druck o<strong>der</strong> Gewalt ausgeübt. Was beides aus meiner<br />
Sicht völlig unzulässig ist. Welche Möglichkeiten hat <strong>der</strong> betreffende Jugendliche,<br />
das sind ja meist Jugendliche dann in diesem Moment. Welche ja rechtlichen<br />
Möglichkeiten hat man als Insasse sich dagegen zu wehren? Wie können diese<br />
Möglichkeiten wahrgenommen werden? Welche Kontaktmöglichkeiten meinetwegen<br />
zum ehemaligen Elternhaus <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en Bezugspersonen kann man aus eigenem<br />
Antrieb wirklich wahrnehmen, ohne dass man dabei behin<strong>der</strong>t wird? Das sind für<br />
mich dann Unterbringungen, wo ich sage okay. Da gehe ich ein Stück konform. Kann<br />
nicht sein, dass ein Kind o<strong>der</strong> ein Jugendlicher sich zum Beispiel konsequent seiner<br />
Schulausbildung verweigert. Der eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e hat tatsächlich noch nicht<br />
begreifen wollen, dass er das im späteren Leben dringend braucht, um nicht ständig<br />
arbeitslos zu sein o<strong>der</strong> eben sein Leben nicht selbst in den Griff zu kriegen. Natürlich<br />
gibt es Momente, wo man regulierend eingreifen muss. Wenn ich heute ein zwölfo<strong>der</strong><br />
13-jährigen Dauerserienstraftäter habe, dann müssen ihm auch Grenzen<br />
gezeigt werden. Das gibt eine Schmerzgrenze für uns als Gesellschaft, die eben<br />
auch ein Kind nicht zu überschreiten hat. Auch solange, wie es noch nicht<br />
strafmündig ist. Und hier erst recht ein 14-Jähriger, also mit 14 wird man ja<br />
strafmündig, sowieso nicht überschreiten darf, weil dann die Strafgesetze greifen.<br />
Und die Grenze ist halt, wenn so ein Mensch, so ein junger Mensch unsere<br />
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Freiheitsrechte überschreitet. Also es kann nicht sein, dass ein 12-jähriges Mädchen<br />
zusammen mit drei, vier Fre<strong>und</strong>innen, die genauso dämlich drauf sind, weiß ich nicht,<br />
erst Kampftrinken machen <strong>und</strong> dann auf die Straße gehen, auf den Boulevard <strong>und</strong><br />
einer Oma die Handtasche klauen, nur damit sie wie<strong>der</strong> Geld haben, um die nächste<br />
Flasche Wodka zu kaufen. Das muss das Moment geben, die Möglichkeit geben,<br />
Grenzen zu setzen. Diese Grenzen dürfen konsequent sein, die dürfen auch<br />
meinetwegen institutionell sein. Der Spaß hört dann auf, in Anführungszeichen, <strong>der</strong><br />
Spaß hört dann auf, wenn <strong>der</strong> Staat sich <strong>der</strong> gleichen Mittel bedient, wie <strong>der</strong> jeweilige<br />
Jugendliche o<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> das jeweilige Kind angewendet hat. Und das ist Gewalt. Da<br />
hört <strong>der</strong> Spaß einfach auf. Und im Gegensatz zu Anhängern <strong>der</strong> sogenannten<br />
schwarzen Pädagogik, obwohl ich diesen Begriff sowieso schon erst mal von<br />
vornherein nicht mag, Anhänger <strong>der</strong> schwarzen Pädagogik sagen ja immer, dass es<br />
notwendig ist, auch mittels unmittelbaren Zwangs auf Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche<br />
einzuwirken, um eine Verhaltensän<strong>der</strong>ung herbei zu führen, die dauerhaft ist. Und<br />
dass man das also wirklich mit jedem machen muss, den man denkt nicht an<strong>der</strong>s<br />
erreichen zu können. Ich bin <strong>der</strong> Meinung, man sollte auch loslassen können. Also<br />
wie gesagt, ich bin selbst Vater von zwei Kin<strong>der</strong>n. Der Große wird 24 dieses Jahr <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> hatte auch seine schwierige Phase mit 15, 16 Jahren. Der hat auch fast die<br />
Schule zu dem Zeitpunkt geschmissen. Wenn ich mir vorstelle, dass meinetwegen<br />
das Jugendamt gekommen wäre <strong>und</strong> hätte den Jungen von seiner Mutter, also wir<br />
waren schon getrennt seine Mutter <strong>und</strong> ich, dass er aus dem Elternhaus heraus<br />
gelöst wird, nur weil er mal eine Woche nicht zur Schule gegangen ist. Und hätte ins<br />
Heim gemusst <strong>und</strong> wäre dann so ähnlich behandelt worden wie meinetwegen ich.<br />
Das hätte ich nicht ertragen können. Also ich hätte definitiv, also wenn ich das auch<br />
nur gehört hätte, dass <strong>der</strong> in irgendein Heim- ich wäre dahin gefahren <strong>und</strong> hätte den<br />
da raus geholt. Das ist Fakt. Und das geht einfach nicht, es ist gut, dass man Kin<strong>der</strong>n<br />
Grenzen zeigt. Es ist auch gut, wenn man in <strong>der</strong> Erziehung konsequent bleibt.<br />
Konsequenz hat aber nichts mit Gewalt zu tun. We<strong>der</strong> mit körperlicher noch mit<br />
psychischer. (03:07:05-8)<br />
…<br />
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