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ZUM THEMA<br />

6<br />

Stark wie der Tod<br />

ist die Liebe<br />

Das Hohelied der Liebe im Alten Testament<br />

von P. Anselm Grün OSB<br />

Das Hohelied der Liebe – oder wie es im<br />

Alten Testament heißt: das Lied der Lieder<br />

– ist eine Sammlung von wunderbaren Liebesliedern,<br />

in denen die Liebe zwischen<br />

Mann und Frau gepriesen wird, zwischen<br />

Braut und Bräutigam, zwischen Freund<br />

und Freundin. Diese Lieder sind kunstvolle<br />

Dichtung. Da fi nden sich neckische Locklieder,<br />

in denen der Bräutigam die Braut<br />

lockt, ihm zu folgen. Da gibt es Bewunderungslieder,<br />

in denen der Freund die Schönheit<br />

der Freundin preist oder die Freundin<br />

den schönen und kraftvollen Körper des<br />

Freundes beschreibt. Da gibt es Wechselgespräche,<br />

Beschwörungslieder und Sehnsuchtslieder.<br />

In all diesen Liedern kommt<br />

zum Ausdruck, dass die erotische und sexuelle<br />

Liebe zwischen Mann und Frau eine<br />

übermächtige Kraft ist und zugleich eine<br />

wunderbare Gabe, die Gott dem Menschen<br />

geschenkt hat und die der Mensch in vollen<br />

Zügen genießen darf. Die Liebe zwischen<br />

Mann und Frau trägt ihren Sinn in sich<br />

selbst. Sie erfüllt die Liebenden mit Sehnsucht<br />

und mit Glück.<br />

Sehnsucht<br />

Wenn wir die wunderbaren Gedichte hören,<br />

wird in uns die Sehnsucht nach Liebe<br />

entfacht. Wir spüren die Liebe in uns selbst,<br />

wenn die Braut sagt: „Stört die Liebe nicht<br />

auf, weckt sie nicht, bis es ihr selbst gefällt.“<br />

(Hld 1,7), oder wenn der Bräutigam sagt:<br />

„Steh auf, meine Freundin, meine Schöne,<br />

so komm doch! Denn vorbei ist der Winter,<br />

verrauscht der Regen. Auf der Flur erscheinen<br />

die Blumen; die Zeit zum Singen ist<br />

da.“ (Hld 1,10–12) Das können sich Verliebte<br />

auch heute zurufen und damit ihrer<br />

Liebe Ausdruck verleihen. Ein Mann kann<br />

seine Liebe zu seiner Frau kaum schöner<br />

ausdrücken als mit den Worten: „Verzaubert<br />

hast du mich, meine Schwester Braut;<br />

ja verzaubert mit einem Blick deiner Augen,<br />

mit einer Perle deiner Halskette. Wie schön<br />

ist deine Liebe, meine Schwester Braut; wie<br />

viel süßer ist deine Liebe als Wein, der<br />

Duft deiner Salben köstlicher als alle Balsamdüfte.“<br />

(Hld 4,9f) Und die Braut kann<br />

kaum angemessenere Worte für ihre Liebe<br />

fi nden als: „Ich bin krank vor Liebe.“ (Hld<br />

5,8) oder: „Ich gehöre meinem Geliebten,<br />

und ihn verlangt nach mir. Komm, mein Geliebter,<br />

wandern wir auf das Land, schlafen<br />

wir in den Dörfern.“ (Hld 7,11f) Kann eine<br />

Frau schönere Worte fi nden für ihre Liebe<br />

als das Sehnsuchtslied eines Mädchens in<br />

Hld 8,6f: „Leg mich wie ein Siegel auf dein<br />

Herz, wie ein Siegel an deinen Arm! Stark<br />

wie der Tod ist die Liebe, die Leidenschaft<br />

ist hart wie die Unterwelt. Ihre Gluten sind<br />

Feuergluten, gewaltige Flammen. Auch<br />

mächtige Wasser können die Liebe nicht<br />

löschen; auch Ströme schwemmen sie nicht<br />

weg. Böte einer für die Liebe den ganzen<br />

Reichtum seines Hauses, nur verachten<br />

würde man ihn.“<br />

Doch die Liebeslieder sind nicht einfach<br />

nur Beschreibungen der Liebe zwischen<br />

Mann und Frau. Sie sind voller Bilder. Die<br />

Bilder schöpft das Hohelied aus den Liebesliedern<br />

Ägyptens, Syriens, Mesopotamiens<br />

und Palästinas. Dabei werden Attribute<br />

vorderasiatischer Liebesgöttinnen für<br />

die Beschreibung der Braut herangezogen.<br />

Wenn ihr Hals wie ein Turm beschrieben<br />

wird, dann ist damit nicht nur die äußere<br />

Gestalt des Halses gemeint. Vielmehr geht<br />

es um die Uneinnehmbarkeit der Braut.<br />

Oder wenn sie als verschlossener Garten,<br />

als versiegelter Quell beschrieben wird,<br />

dann geht es um die Unerreichbarkeit der<br />

Frau. Auf der einen Seite kommt da ein<br />

Geheimnis zwischen Mann und Frau zum<br />

Ausdruck, dass der Mann die Frau nicht<br />

einfach erobern kann, sondern dass er sich<br />

ihr behutsam nähern soll. Auf der anderen<br />

Seite bekommt die Frau hier quasi göttliche<br />

Attribute. Sie wird wie eine Liebesgöttin<br />

beschrieben.<br />

Vielfältige Auslegung<br />

Diese metaphorische Sprache, die den Liedern<br />

innewohnt, hat dazu geführt, dass<br />

schon die Juden diesen Text metaphorisch<br />

gedeutet haben und zwar auf die Liebe<br />

zwischen Jahwe und Israel. Es gab bei den<br />

Juden einen Streit, ob man dieses Buch<br />

überhaupt in den biblischen Kanon aufnehmen<br />

solle. Das Buch entstammt vermutlich<br />

den Kreisen der Weisheit und ist<br />

etwa um 300 vor Christus entstanden.<br />

Zunächst war es sicher ein Preislied auf<br />

die erotische und sexuelle Liebe zwischen<br />

Mann und Frau. Doch vermutlich schon um<br />

das Jahr 100 haben die Juden an dieser<br />

rein menschlicher Sicht Anstoß genommen<br />

und haben die Lieder als Beschreibung der<br />

Liebe zwischen Gott und seinem Volk verstanden.<br />

Auf diese Weise haben sie es in<br />

den Kanon aufgenommen und lesen es bis<br />

heute aus der Festrolle beim Paschafest.<br />

Und so wurde es hochgeschätzt. Rabbi<br />

Akiba sagt vom Hohenlied: „Alle Zeiten<br />

sind nicht dem Tage ebenbürtig, an dem<br />

Israel das Hohelied verliehen wurde; denn<br />

alle Schriften (des Kanons) sind heilig, aber<br />

das Hohelied ist das heiligste von allen.“<br />

Pinchas Lapide führt sechs verschiedene<br />

Weisen an, wie Juden in der Geschichte<br />

– auch unter dem Einfl uss griechischer Philosophie<br />

– das Hohelied ausgelegt haben:<br />

„1. Als Hochzeitslied zweier Menschen, die<br />

die Liebe befl ügelt; 2. Als Sehnsuchtslied

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