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fdw Nr. 4 Dezember 2006 - Bund Freiheit der Wissenschaft eV

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eim Wie<strong>der</strong>aufbau des Bildungswesens<br />

in Hamburg. Er lehrte als Volksschullehrer<br />

in einer halbzerstörten<br />

Schule mit Schichtunterricht und Hooverspeisung<br />

und verstand letztere als einen<br />

Akt demokratischer Selbstvergewisserung<br />

für Schüler und Lehrer. Einige<br />

seiner damaligen Schüler haben ihm<br />

noch zu seinem 80. Geburtstag in Jahrestreffen<br />

die Treue gehalten.<br />

1957 erhielt er einen Ruf an die Wirtschaftshochschule<br />

Mannheim, 1958<br />

folgte er dem Ruf nach Heidelberg und<br />

organisierte dort das Erziehungswissenschaftliche<br />

Seminar und die Forschungsstelle<br />

für vergleichende Pädagogik<br />

im umfassenden Sinn seines <strong>Wissenschaft</strong>sverständnisses.<br />

Sie hat seitdem<br />

viele ausländische Studenten und<br />

<strong>Wissenschaft</strong>ler angezogen und kooperiert<br />

mit Instituten weltweit. Seit 1965<br />

ist er Honorarprofessor in Mannheim.<br />

Einen Ruf nach Köln lehnte er 1966 ab.<br />

Friedenserziehung und Friedenspolitik<br />

Seine kritischen Auseinan<strong>der</strong>setzungen<br />

mit <strong>der</strong> „re-education“, noch in Hamburg<br />

begonnen, verdienen im Zusammenhang<br />

mit seinen Arbeiten zur Friedenserziehung<br />

und Friedenspolitik gelesen<br />

zu werden, denn sie sind heute fast<br />

so aktuell wie damals. Die allgemeine<br />

Erziehung wurde wie heute vernachlässigt<br />

unter den Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> jeweiligen<br />

Sachfächer, <strong>der</strong>en soziale, moralische<br />

und geistige Grundlagen allerdings<br />

ohne eine umfassende Friedenserziehung<br />

nur „unvollkommen gesichert“<br />

werden können. Das ist ein charakteristisches<br />

„un<strong>der</strong>statement“ des Hanseaten.<br />

Hier sieht Röhrs, <strong>der</strong> beim Aufbau <strong>der</strong><br />

Lehrerbildung in Hamburg ebenso wie in<br />

Heidelberg mitgearbeitet hat, jedenfalls<br />

eine <strong>der</strong> wichtigsten zukünftigen Aufgaben<br />

<strong>der</strong> internationalen Erziehung. In <strong>der</strong><br />

Ausbildung <strong>der</strong> Lehrer klafft an dieser<br />

Stelle auf allen Stufen eine entscheidende<br />

Lücke. In diesem Sinn hat Röhrs die<br />

soziale Empirie, Soziologie und Anthropologie<br />

immer als notwendige Ergänzungen<br />

<strong>der</strong> pädagogischen Forschung gesehen.<br />

Auf vielen internationalen Kongressen<br />

und Auslandsreisen in den USA,<br />

nach Afrika, Afghanistan, China, Japan,<br />

Israel, Zypern und in Zusammenarbeit<br />

mit <strong>der</strong> Unesco hat er über seine Erfahrungen<br />

vor allen Dingen mit Blick auf<br />

die Lehrerausbildung und die soziale Lage<br />

<strong>der</strong> Bildung detailliert berichtet.<br />

Im Mittelpunkt seiner Arbeiten steht<br />

ferner die „Reformpädagogik“, die sich<br />

in vielen Län<strong>der</strong>n, vor allem in England<br />

und den USA, aber auch in Europa<br />

gleichzeitig und mit ähnlichen Zielen<br />

entwickelt hat, wobei auch Deutschland<br />

wichtige Beiträge vor allem im 19. und<br />

20. Jahrhun<strong>der</strong>t leistete. „Reformpädagogik.<br />

Ursprung und Verlauf“<br />

(Weinheim 1998) ist ins Englische, Japanische<br />

und Neugriechische übersetzt.<br />

Die Bände über „Allgemeine Erziehungswissenschaft“<br />

(G. S. Band 1),<br />

„Bildungsgeschichte und Bildungsphilosophie“<br />

(G. S. Band 13) gelten inzwischen<br />

als Grundlagen seines Fachs. Zu<br />

den wichtigsten historischen Arbeiten<br />

zählen Studien zur Wirkung <strong>der</strong> deutschen<br />

Bildung auf die USA und umgekehrt<br />

sowie die Arbeiten zu Comenius,<br />

Kurt Hahn und Martin Buber, vor allem<br />

aber die Monographie „Jean-Jacques<br />

Rousseau. Vision und Wirklichkeit“<br />

(Köln, Weimar, Wien 1993, G. S. Band<br />

13, Weinheim 1999) sollten gleichfalls<br />

hervorgehoben werden. Rousseau ist in<br />

den Wi<strong>der</strong>sprüchen <strong>der</strong> Geschichte als<br />

Philosoph und Pädagoge vor allem über<br />

die Reformerziehung (Progressive Education)<br />

längst zur zentralen, wenn auch<br />

umstrittenen Gestalt in <strong>der</strong> Bildungsgeschichte<br />

unserer Zeit geworden. Er spiegelt<br />

die Zerrissenheit des mo<strong>der</strong>nen<br />

Menschen und versucht zugleich, aus<br />

seinen negativen Erfahrungen in <strong>der</strong><br />

Gesellschaft heraus, neue Grundlagen<br />

einer menschenwürdigen Erziehung für<br />

die Zukunft zu gewinnen, die in <strong>der</strong> Interpretation<br />

von Hermann Röhrs darüber<br />

hinaus zur Einheit eines persönlichen<br />

Lebensgefühls zu führen vermögen.<br />

Es ist eine kühne und bedeutende<br />

Studie, die trotz ihres Erfolges und ihrer<br />

Aktualität in <strong>der</strong> offiziellen Bildungspolitik<br />

zu wenig beachtet wird.<br />

Die Gründung <strong>der</strong> „Gesamtschule<br />

als Friedensschule“ in<br />

Heidelberg<br />

Hermann Röhrs’ stiller Stolz gilt <strong>der</strong><br />

„Internationalen Gesamtschule Heidelberg<br />

als Friedensschule", die er als Verantwortlicher<br />

im Planungsausschuß<br />

mitbegründet hat (1974). Sie hat 2001<br />

ihr 25jähriges Jubiläum gefeiert und ist<br />

als Unesco-Projektschule anerkannt. Sie<br />

umfaßt die Schulformen von <strong>der</strong> Grundschule<br />

bis zur gymnasialen Oberstufe<br />

und ist eine <strong>der</strong> wenigen Gesamtschulen,<br />

die in Baden-Württemberg nicht<br />

nur erfolgreich überlebten, son<strong>der</strong>n zu<br />

einem Renommierfall für das Land geworden<br />

sind. Ihre Schüler stammen aus<br />

50 Nationen und erlernen Deutsch in gemischten<br />

Vorbildungsklassen in einer<br />

Atmosphäre von Freundschaft, gegenseitiger<br />

Hilfsbereitschaft zusammen mit<br />

Frühunterricht in englischer Sprache. Es<br />

hat als umkämpftes Wagnis begonnen<br />

und sich überzeugend durchgesetzt. Das<br />

angestrebte Ziel <strong>der</strong> Internationalität ist<br />

eine harte Prüfung sowohl für die Friedenserziehung<br />

wie die Verständigung<br />

insgesamt. Sie funktioniert, weil sie in<br />

aller Offenheit sich den Problemen aller<br />

Beteiligten stellt und die Lösungen im<br />

Unterricht gemeinschaftlich erarbeitet.<br />

Die Eltern werden dabei in einem höheren<br />

Maße als üblich über die Schule in<br />

die Lebenswelt <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> miteinbezogen.<br />

Die verschiedenen nationalen Lebensweisen<br />

sind wie ihre hiesigen Probleme<br />

lebendige Teile des Unterrichts.<br />

Der Englischunterricht dient dabei als<br />

gemeinsamer neutraler Boden. Das Eintauchen<br />

in die erlebte Kommunikation<br />

geschieht wie selbstverständlich auf <strong>der</strong><br />

spielerischen Basis gemeinsamer Projekte<br />

und in <strong>der</strong> sprachlichen Reflexion<br />

von Sprüchen, Bil<strong>der</strong>n und Lie<strong>der</strong>n. Die<br />

Schule verfügt über gut ausgestattete<br />

Werkräume. Sie ist ein Gemeinschaftsprojekt<br />

aller Beteiligten und beteiligt<br />

sich an sozialen Einrichtungen <strong>der</strong><br />

Gemeinde. Sie verfügt inzwischen dank<br />

ihrer Lehrer über eine Tradition eingespielter<br />

Erfahrungsweisen, über Rituale<br />

gemeinsamer Erlebnisse, Feiern <strong>der</strong> Besinnung<br />

in „meditativen Haltepunkten“,<br />

auf die großer Wert gelegt wird.<br />

Solches galt früher als elitäres Erbe bedeuten<strong>der</strong><br />

privater Heimschulen. Sie haben<br />

sich hier als reformpädagogische<br />

Elemente zu Lebensformen verfestigt. In<br />

unserer PISA-gebeutelten Nation ist eine<br />

solche Schule durch ihren Bildungswert<br />

und persönliche Hingabe ein Lichtblick<br />

und eine Hoffnung für die Zukunft.<br />

Hermann Röhrs hat viele Ehrungen, national<br />

und vor allem auch übernational,<br />

erhalten. Seine Lehren sind in seinem<br />

Heimatland dennoch verhältnismäßig<br />

wenig in die Bildungspraxis <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

umgesetzt worden, die ihrer<br />

dringend bedürfte. Es gibt hier noch sehr<br />

viel zu entdecken und zu tun. In diesem<br />

Sinne gelten die Wünsche seiner Gratulanten<br />

nicht nur dem Lebensabend eines<br />

großen Gelehrten, son<strong>der</strong>n auch den<br />

Hoffnungen auf die Reformen <strong>der</strong> geistigen<br />

Bildung, denen er sein Leben gewidmet<br />

hat.<br />

■<br />

Professor Dr. Kurt Otten, Heidelberg<br />

24 <strong>fdw</strong> 4/<strong>2006</strong>

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