fdw Nr. 4 Dezember 2006 - Bund Freiheit der Wissenschaft eV
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nicht fehlen. Seit einem runden halben<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t liegt mit dem Standardwerk<br />
„Die Konservative Revolution in<br />
Deutschland 1918–1932“ ein auf dem<br />
deutschen Buchmarkt beinahe einzigartiges<br />
Handbuch vor. Der Grund dafür<br />
ist wohl weniger in <strong>der</strong> gleichwohl profunden<br />
Darstellung des historiographischen<br />
Gegenstandes durch den gebürtigen<br />
Schweizer Politologen zu suchen<br />
als in <strong>der</strong> literarischen Fundgrube im<br />
zweiten Teil <strong>der</strong> in jedwe<strong>der</strong> Hinsicht<br />
grundlegenden Studie. Der Interessent<br />
findet dort eine große Fülle an<br />
Personen, Büchern (zeitgenössischen<br />
wie gegenwärtigen), Organisationen,<br />
Ideen, Strömungen usw. des ungemein<br />
reichen ideengeschichtlichen bzw. allgemeinhistorischen<br />
Phänomens versammelt.<br />
Beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> biobibliograhische<br />
Teil des im wahrsten Sinn des<br />
Wortes bahnbrechenden Werkes macht<br />
die Abhandlung – beson<strong>der</strong>s nach <strong>der</strong>en<br />
Überarbeitung – zu einem auch in<br />
Zukunft kaum auszuschöpfenden Arbeitsmittel.<br />
Auch Mohler wußte, daß ein Handbuch<br />
immer auf dem neuesten Stand<br />
<strong>der</strong> Forschung sein muß. Deshalb legte<br />
er vor seinem Tod 2003 die notwendigen<br />
Verän<strong>der</strong>ungen in die Hände von<br />
Karlheinz Weissmann, einem <strong>der</strong> bekanntesten<br />
Historiker <strong>der</strong> mittleren Generation,<br />
von dem er annehmen durfte,<br />
daß jener sich mit dem Gegenstand seiner<br />
Arbeiten hinreichend identifizieren<br />
konnte. Weissmann hat es geschafft,<br />
die komplexe Glie<strong>der</strong>ung des von<br />
Mohler mehrfach überarbeiteten Klassikers,<br />
insbeson<strong>der</strong>e im Handbuchteil,<br />
im wesentlichen beizubehalten und den<br />
bewährten Duktus mit neuerer und<br />
neuester Literatur anzureichern. So<br />
vereinigt <strong>der</strong> überarbeitete Band alte<br />
wie neue Gedankengänge.<br />
Epochenspezifische Erscheinung<br />
Obwohl die Konservative Revolution<br />
eine epochenspezifische Erscheinung<br />
war, die nur im Europa (vor allem im<br />
Deutschland) <strong>der</strong> Zwischenkriegszeit<br />
stärkere Verbreitung finden konnte,<br />
läßt sie Vorläufer erkennen. Weissmann<br />
arbeitet zwei frühe Strömungen<br />
des Konservatismus heraus: Die eine<br />
Richtung wollte die societas christiana<br />
gegen intellektuelle Neuerer und gegen<br />
rationalistische Tendenzen des Absolutismus<br />
verteidigen, die an<strong>der</strong>e wirkte<br />
aufklärungskritisch mit Mitteln <strong>der</strong><br />
Aufklärung, stellte sich also auf den<br />
Boden jener Strömung, die sie bekämpfen<br />
wollte. Wichtiger jedoch für die<br />
Entwicklung des „deutschen Son<strong>der</strong>bewußtseins“<br />
im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t waren<br />
die „Vorboten“ <strong>der</strong> „kulturrevolutionären<br />
Epoche“, für die Namen wie<br />
Lagarde, Wagner o<strong>der</strong> Treitschke stehen.<br />
Eine beson<strong>der</strong>e Stellung nimmt<br />
Nietzsche ein. Einflußreiche Phänomene<br />
um die Jahrhun<strong>der</strong>twende, etwa Lebensreform,<br />
Jugendbewegung o<strong>der</strong> diverse<br />
völkische wie nationalistische<br />
Bewegungen, konnten sich auf die genannten<br />
Vordenker berufen.<br />
Erst die Umwälzungen im Vorfeld<br />
(„Ideen von 1914“!), während und nach<br />
dem Ersten Weltkrieg bewirkten die<br />
Voraussetzungen für die „verkehrte<br />
Welt“ nach 1918: Für die Neu- o<strong>der</strong><br />
Jungkonservativen, die alles an<strong>der</strong>e als<br />
Reaktionäre waren, mußten erst jene<br />
Verhältnisse geschaffen werden, die zu<br />
erhalten lohnte. Auf diese Weise entstand<br />
<strong>der</strong> Wurzelboden für jenes kaum<br />
übersehbare Gedankengebäude, dessen<br />
Paradoxien bereits Zeitgenossen wie<br />
Thomas Mann o<strong>der</strong> Hugo von Hoffmannsthal<br />
mit <strong>der</strong> Bezeichnung „Konservative<br />
Revolution“ ausdrückten. Es<br />
behielt auch nach 1945 seine Faszination,<br />
gerade deshalb, weil spätere Zeiten<br />
keine Anknüpfungsmöglichkeiten mehr<br />
hatten.<br />
Bandbreite <strong>der</strong> Konservativen<br />
Revolution<br />
Welche Bandbreite die Konservative<br />
Revolution umfaßte, belegt die bunte,<br />
schier unabsehbare Schar ihrer Vertreter.<br />
Bis heute ist in vielen Fällen die<br />
Frage kaum zu klären: Wer gehörte zu<br />
ihr und wer nicht? Ernst Niekisch, Nationalist<br />
wie Bolschewist, sah das Heil<br />
Deutschlands in Moskau. Er wirkte<br />
nach 1945 zeitweise in <strong>der</strong> SED. Ein<br />
an<strong>der</strong>er, einflußreicherer Teil <strong>der</strong> Protagonisten<br />
<strong>der</strong> Konservativen Revolution<br />
optierte nach 1933 für die neuen<br />
Machthaber. Exemplarisch stehen dafür<br />
Intellektuelle wie Ernst Krieck o<strong>der</strong> Alfred<br />
Bäumler. Die meisten Angehörigen<br />
dieser Richtung verblieben indes –<br />
trotz aller generationellen und biographischen<br />
Affinitäten – in kritischer Distanz<br />
zum Nationalsozialismus. Ernst<br />
Jünger steht stellvertretend für viele an<strong>der</strong>e.<br />
Manche fanden sogar den Weg in<br />
den aktiven Wi<strong>der</strong>stand. Franz von Papens<br />
Redenschreiber Edgar Jung war<br />
eines <strong>der</strong> frühen Opfer aus den Reihen<br />
<strong>der</strong> Jungkonservativen.<br />
Eine ausführlichere Besprechung für<br />
sich allein verdienten die umfangreichen<br />
bibliographischen Passagen <strong>der</strong><br />
Abhandlung. Der erste Teil dieser Abschnitte<br />
präsentiert die „Literatur über<br />
die Konservative Revolution“. Die eher<br />
harmlos klingende Überschrift umfaßt<br />
detaillierte Angaben über Darstellungen<br />
zu zahlreichen Themen im Umfeld<br />
<strong>der</strong> Strömung (Imperialismus, Kolonialismus,<br />
„Ideen von 1914“, Massenpolitik,<br />
Lebensreform etc.), aber auch Hinweise<br />
auf ihre europäische Bedeutung<br />
und führende Vertreter (Spengler,<br />
Mann, Schmitt, Blüher, die Gebrü<strong>der</strong><br />
Jünger). Jungkonservatives und nationalrevolutionäres<br />
Gedankengut sowie<br />
<strong>der</strong>en Protagonisten werden genau beschrieben.<br />
Ausführliche Berücksichtigung<br />
findet die bündische Bewegung.<br />
Unübersehbare „Eigenliteratur“<br />
Der zweite Teil <strong>der</strong> Bibliographie beschäftigt<br />
sich mit <strong>der</strong> unübersehbaren<br />
„Eigenliteratur <strong>der</strong> Konservativen Revolution“.<br />
Sammelwerke, Buchreihen,<br />
Zeitschriften und an<strong>der</strong>e Periodica werden<br />
mit großer Sorgfalt vorgestellt,<br />
weiterhin die „Philosophen im Umkreis“,<br />
die ein breites Spektrum einschließen,<br />
das von Max Scheler bis<br />
Erwin Liek reicht. Gleiches gilt für die<br />
„Dichter im Umkreis“ sowie die „herausragenden<br />
kategoriensprengenden<br />
Autoren“. Die Fülle an – heute meist<br />
vergessenen – völkischen, jungkonservativen<br />
und bündischen Autoren sowie<br />
die Überläufer zum Nationalsozialismus<br />
vermitteln einen Eindruck von <strong>der</strong><br />
Komplexität <strong>der</strong> deutschen „Weltalternative“<br />
(Armin Mohler). Es ist nachvollziehbar,<br />
wenn gelegentlich nur<br />
Auswahlbibliographien vorgelegt werden<br />
konnten.<br />
Mit Recht weist Weissmann jedwede<br />
Verbindung des großen ideengeschichtlichen<br />
Komplexes <strong>der</strong> Konservativen<br />
Revolution mit <strong>der</strong> Tagespolitik als eine<br />
Methode zur Desavouierung des politischen<br />
Gegners zurück – ein Vorgehen,<br />
wie es in einseitigen Publikationen<br />
Armin Pfahl-Traugbers o<strong>der</strong> Friedbert<br />
Pflügers beobachtet werden kann. Unbestritten<br />
ist jedoch auch: Die Kritik an<br />
fehlerhaften Mechanismen und Strukturen<br />
demokratischer Systeme schafft<br />
immer wie<strong>der</strong> einen Bedarf an geistesgeschichtlichen<br />
Wi<strong>der</strong>lagern und Alternativen,<br />
zu denen auch jene Strömung<br />
gehört, <strong>der</strong>en epochale Relevanz über<br />
70 Jahre zurückliegt.<br />
4/<strong>2006</strong> <strong>fdw</strong> 33