25 Jahre - Alsdorfer Stadtmagazin
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wir rannten in den Luftschutzkeller.<br />
Wir hörten die Flieger<br />
über uns, es krachte und durch<br />
ein kleines Fenster an der Kellertür<br />
sahen wir Flammen<br />
hochsteigen. Niemand wusste:<br />
»Wen hat es diesmal getroffen«.<br />
Die Unsicherheit, die<br />
Furcht lähmte uns. Als wir wieder<br />
nach draußen kamen, waren<br />
wir dankbar, dass es uns diesmal<br />
nicht getroffen hatte und traurig,<br />
weil Menschen aus unserem<br />
Umfeld alles verloren hatten. Wir<br />
kamen in unsere Wohnung, mein<br />
Vater schaute mich erschrocken an<br />
und meinte: »Was ich dir noch<br />
sagen wollte, du hast vorne eine<br />
total graue Haarsträhne!« »Ja, ja,<br />
deine Scherze kannst du dir sparen«,<br />
sagte ich lakonisch noch unter Schock.<br />
Doch als ich am Spiegel vorbei ging<br />
und hinein schaute, sah ich sie. Eine<br />
grau-weiße Strähne, 15 cm breit.<br />
Siebzehn <strong>Jahre</strong> alt und schon ergraut,<br />
ich fühlte mich alt und war traurig.<br />
Später habe ich sie durch eine ge -<br />
schickte Frisur unter meinen dunklen<br />
Haaren verborgen, noch viel später<br />
als meine persönliche Note akzeptiert<br />
und wurde sogar von anderen deshalb<br />
bewundert. »Welcher Friseur hat<br />
Ihnen diese wunderschöne Strähne<br />
ins Haar gefärbt«, wurde ich oft<br />
gefragt. Mit Mitte fünfzig färbte ich<br />
dann meine Haare, weil sie grau wurden.<br />
Nur mein Markenzeichen, die<br />
graue Strähne blieb. Und heute … ich<br />
sehe die Strähne nicht mehr, denn<br />
nun bin ich in Würde ergraut und<br />
stehe dazu.<br />
Der 4. November 1944 war für unsere<br />
Familie ein sehr trauriger Tag. Meine<br />
Mutter rief mich im Krankenhaus in<br />
Bad Oeynhausen an. Bevor sie etwas<br />
sagen konnte, plapperte ich gleich<br />
los: »Mama, ich komme am Wochenende<br />
zu euch. Ich brauche dringend<br />
ein paar warme Wintersachen.« Mit<br />
bedrückter Stimme antwortete meine<br />
Mutter:<br />
»Kind, das kannst du dir sparen. Diesmal<br />
hat es uns getroffen. Wir haben<br />
nichts mehr.« Mein Tagebuch, meine<br />
Kindersachen, Erinnerungsstücke an<br />
die Großeltern, meine Kleider, unsere<br />
Möbel … alles war weg, nichts ist<br />
uns geblieben. Was uns allerdings<br />
niemand nehmen konnte, waren die<br />
Erinnerungen an eine wunderschöne<br />
Kindheit und Jugendzeit bis zu dem<br />
Tag, als das Grauen begann. Zu<br />
Kriegsbeginn war ich 14 <strong>Jahre</strong>, bei<br />
Kriegsende 20 <strong>Jahre</strong> alt.<br />
Das Signal der Sirenen mehrmals am<br />
Tag, die Angst, die Ungewissheit, was<br />
alles passierte, und dies über sechs<br />
<strong>Jahre</strong> erlebt, veränderte uns. Das<br />
Lebensmotto meiner Eltern blieb:<br />
»Hinfallen darfst du, aber du musst<br />
wieder aufstehen und dein Leben in<br />
die Hand nehmen, dich neu orientieren<br />
und aktiv mitgestalten!« Und<br />
genau das machten sie dann auch. Im<br />
Auffanglager wurde ihnen bei einem<br />
Schinkenbrot mitgeteilt, sie hätten die<br />
Wahl, entweder ins Münsterland oder<br />
ins Sauerland zu gehen. Praktisch,<br />
wie meine Mutter war, fragte sie:<br />
»Woher sind die Schinkenbrote?« Ihr<br />
wurde mitgeteilt: »Aus dem Sauerland.«<br />
»Gut«, sagte sie bestimmt,<br />
»wir gehen ins Sauerland!«<br />
Im Mai 1945 war es dann endlich<br />
vorbei, der Krieg war beendet. Niedermaßberg,<br />
wo meine Eltern jetzt<br />
wohnten, wurde von den Amerikanern<br />
besetzt. Wenn ich meine Eltern<br />
besuchen wollte, musste ich jetzt eine<br />
Mammut-Tour von 128 km mit dem<br />
Fahrrad zurücklegen. Egal, ich hatte<br />
zwei Tage frei, ich hatte Sehnsucht<br />
nach meiner Familie und fragte meine<br />
Mutter, ob ich ihr etwas mitbringen<br />
könnte. „Och Kind, wenn du uns zwei<br />
Zahnbürsten besorgen kannst, das<br />
wäre wunderbar.“ Wie bescheiden<br />
wir doch damals waren. Wir freuten<br />
uns über Kleinigkeiten. Frohgemut<br />
besorgte ich also die Zahnbürsten,<br />
schwang mich auf mein Rad und<br />
radelte los. Am späten Nachmittag, es<br />
war Herbst und schon dunkel, hielt<br />
mich ein Mann an. Er war pechschwarz<br />
gekleidet, schaute mich mit<br />
starren Augen durchdringend an und<br />
sagte zunächst kein Wort. Mein Herz<br />
schlug bis zum Halse. »Jetzt hat mein<br />
letztes Stündlein geschlagen«, dachte<br />
ich. Doch erstens kam es anders und<br />
zweitens als ich dachte. Der schwarze<br />
Mann lächelte mich an und sagte zu<br />
mir in gebrochenem Deutsch: »Fräulein,<br />
ihre Augen sind wie Pistolen!«<br />
Mit diesen Worten winkte er mich<br />
weiter und ich fuhr erleichtert und<br />
beschwingt den Rest meines Weges.<br />
Meine Zeit im Krankenhaus war vorüber<br />
und ich ging nach Düsseldorf<br />
und studierte Gesang. Wie ich meinen<br />
Gesang ausdruckstärker präsentieren<br />
kann, wie ich mein persönliches<br />
Stimmmaterial verbessern kann, wie<br />
ich der Stimme Gefühl verleihe und<br />
die richtige Technik anwende, das<br />
wollte ich erfahren und umsetzen. Ich<br />
kannte alle Noten, mir waren die<br />
Tasten auf dem Klavier vertraut und<br />
ich konnte singen. Im Grunde war<br />
mein Traum, eines Tages auf der<br />
Bühne zu stehen, zu singen und<br />
meine Zuschauer zu begeistern.<br />
Dazu ist es allerdings nicht gekommen.<br />
Denn schon in den ersten Semestern<br />
lernte ich einen jungen Mann<br />
kennen. Er lebte im gleichen Haus<br />
wie ich und beäugte mich jeden Tag.<br />
Einmal kam ich nach Hause und die<br />
Haustür war verschlossen. ‚Nanu‘,<br />
dachte ist, ‚was ist denn hier los‘. Die<br />
Türe war normalerweise immer offen<br />
und daher hatte ich gar keinen<br />
Schlüssel für die Haustür mit. Die Vermieterin<br />
konnte mir nicht öffnen,<br />
denn sie war zur Arbeit. ‚Was tun?‘<br />
überlegte ich. Doch zu meiner Überraschung<br />
öffnete sich die Türe und vor<br />
mir stand ein junger Mann, der mich<br />
mit schelmischem Lächeln anschaute.<br />
Charmant lud er, der Retter in der<br />
Not, mich zu einer Tasse Kaffee in<br />
sein Zimmer ein. Was ich damals<br />
nicht wusste, besagter junger Mann<br />
hatte zuvor die Türe von innen verschlossen<br />
um mich abzufangen. Ich<br />
überlegte kurz, soll ich oder soll ich<br />
nicht mit dem mir Fremden in sein<br />
Zimmer gehen. Doch sein Nachsatz<br />
hat mich überzeugt, bei diesem<br />
wurde ich schwach, denn er bot mir<br />
selbstgebackenen Kuchen von seiner<br />
SPRACH-<br />
LOS ?<br />
LESEN ?<br />
SCHREIBEN ?<br />
SCHLAG-<br />
ANFALL ?<br />
STIMME<br />
WEG ?<br />
Praxis für Logopädie · therapieforum-alsdorf<br />
Iris Lützeler-Dreßen<br />
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September / Oktober / November 37<br />
ALSDORFER STADTMAGAZIN 4/2013