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Editorial 07_08 - Zm-online

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10 Gastkommentar<br />

Sozialpolitik ohne<br />

Perspektive<br />

Die große Koalition hat Monate gebraucht,<br />

um der Reform der Pflegeversicherung eine<br />

Mehrheit zu sichern. Die von der Regierung<br />

vorgesehenen Leistungsverbesserungen<br />

wurden aufgestockt. Gestritten wurde<br />

lange über die von Ministerin Schmidt vorgesehenen<br />

Pflegestützpunkte. Dafür sollen<br />

nun die Länder zuständig sein. Dieser Kompromiss<br />

wird nicht verhindern, dass es zum<br />

Aufbau einer neuen Sozialbürokratie<br />

kommt, die viel kosten, aber den Pflegebedürftigen<br />

nur wenig helfen wird.<br />

Zum ersten Mal seit 1995 werden schrittweise<br />

die Leistungen in der Mehrzahl der<br />

Pflegestufen angehoben; Vorrang wird<br />

der ambulanten Pflege eingeräumt. Zu<br />

begrüßen ist auch, dass Demenzkranke<br />

mehr Unterstützung als bisher erhalten<br />

werden. Hier wird ein Fehler korrigiert,<br />

der bei der Einführung der Pflegeversicherung<br />

vor 13 Jahren bewusst hingenommen<br />

worden war, um die Prognose<br />

zu stützen, nach der ein Beitrag von 1,7<br />

Prozent langfristig ausreiche. Unter Einbeziehung<br />

der Demenzkranken hätte<br />

man schon damals einen Satz von etwa<br />

zwei Prozent gebraucht.<br />

Jetzt wird der Beitragssatz von 1,7 auf<br />

1,95 Prozent des beitragspflichtigen<br />

Einkommens erhöht. Das kaschiert, dass die<br />

Mehrzahl der Versicherten, nämlich die Kinderlosen,<br />

mit 2,2 Prozent deutlich höher<br />

belastet werden. Die Mehreinnahmen dürften<br />

ausreichen, die Leistungsverbesserungen<br />

zu finanzieren und zu verhindern, dass<br />

es in den nächsten vier, fünf Jahren zu<br />

neuen Defiziten in der Pflegeversicherung<br />

kommt.<br />

Die Politik gerät damit jedoch ins Dilemma:<br />

Sie versucht, im Rahmen des Systems das<br />

Foto: zm-Archiv<br />

Die Leistungen im Pflegefall<br />

werden verbessert. Das ist<br />

unabweisbar. Doch es fehlt<br />

das Konzept für die finanzielle<br />

Absicherung dieses<br />

Sozialsystems. Die Rentenformel<br />

wird außer Kraft<br />

gesetzt, um die Renten um<br />

1,1 statt um 0,5 Prozent<br />

erhöhen zu können. Sozialpolitik<br />

nach politischer<br />

Opportunität.<br />

Walter Kannengießer<br />

Sozialpolitik-Journalist<br />

Leistungsangebot zu verbessern,<br />

trägt damit aber<br />

dazu bei, dass das System<br />

wegen der Alterung<br />

der Gesellschaft nach<br />

2020 in wachsende<br />

Schwierigkeiten geraten<br />

und langfristig nicht durchzuhalten sein<br />

wird. Den Jüngeren werden immer höhere<br />

Beiträge aufgebürdet; sie können aber nicht<br />

damit rechnen, später einmal ausreichende<br />

Pflegeleistungen zu erhalten. Die Verbesserung<br />

der Leistungen und die damit verbundene<br />

Beitragserhöhung wäre nur zu vertreten<br />

gewesen, wenn zugleich ein Konzept<br />

zur langfristigen finanziellen Sicherung der<br />

Pflegeversicherung beschlossen worden<br />

wäre. Dieser schwierigen Aufgabe hat sich<br />

die große Koalition entzogen. Sie spielt auf<br />

Zeit. Das Pflegesystem wird dem politischen<br />

Kalkül geopfert.<br />

Nachdem sich die Politik in den Neunzigerjahren<br />

für ein durch Beitragsumlagen finanziertes<br />

System entschieden hat, ist es heute<br />

nicht mehr möglich, die Finanzierung des<br />

Pflegesystems auf ein kapitalgedecktes und<br />

damit weniger demografieanfälliges System<br />

umzustellen. Damit würden die beiden<br />

nächsten Generationen überfordert. Sie<br />

hätten nicht nur die Pflegelast der jeweils<br />

älteren Generation zu tragen, sondern auch<br />

das Kapital für die Absicherung des eigenen<br />

Pflegefalls anzusparen. Grotesk<br />

ist die Vorstellung mancher<br />

Ratgeber, die Anwartschaften<br />

der heute älteren<br />

Generation zusammenstreichen<br />

zu können, weil diese<br />

ja nur 15 Jahre Beiträge entrichtet<br />

habe.<br />

Politisch tragfähig kann nur<br />

ein Kompromiss sein, der<br />

dem „Riesterkonzept“ für die<br />

Rentenversicherung folgt.<br />

Die über Beiträge zu finanzierenden<br />

Pflegeleistungen<br />

sind in ihrer Dynamik eng zu<br />

begrenzen. Jedermann ist dazu anzuhalten,<br />

für sich eine ergänzende kapitalgedeckte<br />

Versicherung abzuschließen. Dies kann aus<br />

Steuermitteln nach sozialen Kriterien gefördert<br />

werden.<br />

Wenn die große Koalition jetzt in die<br />

Rentenformel eingreift, um eine marginal<br />

höhere Rentenerhöhung zu bieten, so vergrößert<br />

sie die künftigen Finanzierungsprobleme.<br />

Viel schlimmer ist: Die Rente wird<br />

politisch beliebig manipulierbar. ■<br />

Foto: pixtal<br />

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.<br />

zm 98, Nr. 7, 1. 4. 20<strong>08</strong>, (898)

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