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Terror der Zeichen Oder - Hochschule für bildende Künste Hamburg

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Zeit -<strong>Zeichen</strong>-<strong>Terror</strong><br />

Jean Baudrillard<br />

Dasjahr 2000 wird nicht<br />

stattfinden.<br />

Nach <strong>der</strong> Geschzchte: Herr.rchafl <strong>der</strong> Simulation?<br />

Als Motto möchte ich eine Hypothese<br />

von Canetti aufgreifen: "Eine peinigende<br />

Vorstellung: daß von einem bestimmten<br />

Zeitpunkt ab die Geschichte nicht<br />

mehr wirklich war. Ohne es zu merken,<br />

hätte die Menschheit insgesamt die<br />

Wirklichkeit plötzlich verlassen; alles,<br />

was seitdem geschehen sei, wäre gar<br />

nicht wahr; wir könnten es aber nicht<br />

merken. Unsere Aufgabe sei es nun, diesen<br />

Punkt zu finden, und so lange wir ihn<br />

nicht hätten, müßten wir in <strong>der</strong> jetzigen<br />

Zerstörung verharren." (1)<br />

Über ein solches Verschwinden <strong>der</strong> Geschichte<br />

gibt es verschiedene plausible Hypothesen.<br />

Die Worte Canettis, "die<br />

Menschheit hätte insgesamt die Wirklichkeit<br />

plötzlich verlassen", lösen in unserer<br />

durch die zeitgenössische Astrophysik geprägten<br />

Phantasie unumgänglich die Vorstellung<br />

einer Art "Befi-eiungsgeschwindigkeit''<br />

aus, einer Geschwindigkeit zur Loslösung,<br />

die ein Körper braucht, um <strong>der</strong><br />

Schwerkraft eines Gestirns o<strong>der</strong> eines Planeren<br />

zu entkommen. In diesem Bild verbleibend,<br />

läßt sich annehmen, die Beschleunigung<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, technisch,<br />

ereignishaft und vermittelt durch die Medien<br />

wie sie ist, die Beschleunigung aller<br />

ökonomischen, politischen und sexuellen<br />

Formen des Tausches - all das, was wir eigentlich<br />

als "Befreiung" bezeichnen, habe<br />

uns zu einer so hohen "Befreiungsgeschwindigkeit"<br />

gebracht, daß wir eines Tages<br />

<strong>der</strong> referentiellen Sphäre von Wirklichkeit<br />

und Geschichte entkommen sind (und<br />

hier kann man mit Canetti von einem "bestimmten"<br />

Zeitpunkt sprechen, wie man<br />

auch in <strong>der</strong> Physik den Zeitpunkt <strong>der</strong> "Befreiung",<br />

d.h. <strong>der</strong> Loslösung eines Körpers,<br />

ganz genau berechnen kann). Wir sind<br />

wahrhaft "befreit", in jedem Sinne des Wortes<br />

- so befreit, daß wir durch die Geschwindigkeit<br />

(die beschleunigte Verän<strong>der</strong>ung<br />

unserer Gesellschaften) einen gewisen<br />

Zeit-Raum und Horizont verlassen haben,<br />

in dem das Wirkliche möglich ist und<br />

Ereignisse möglich sind, weil die Schwerkraft<br />

noch ausreicht, damit die Dinge sich<br />

reflektieren, zu sich selbst kommen und so<br />

irgendeine Dauer und Folge haben können.<br />

Eine gewisse Langsamkeit (d.h. eine<br />

Geschwindigkeit, doch nicht zu viel), eine<br />

gewisse Distanz, doch nicht zu viel, und eine<br />

gewisse "Befreiung" (eine Kraft zu<br />

Bruch und Verän<strong>der</strong>ung), doch nicht zu<br />

viel, sind notwendig, damit sich jene Art<br />

von Kondensation und Kristallisation herstellt,<br />

die fur die Ereignisse bezeichnend ist,<br />

die man Geschichte nennt, und jeneArtzusammenhängen<strong>der</strong><br />

Entfaltung von Ursachen<br />

und Wirkungen, die man Wirklichkeit<br />

nennt.<br />

Sind die Körper erst einmal mit genügen<strong>der</strong><br />

Geschwindigkeit "befreit" und befinden<br />

siah jenseits <strong>der</strong> Schwerkraftwirkung,<br />

die sie auf einer Umlaufbahn von Bedeutung<br />

hält, so verlieren sich alle Sinnatome<br />

im Raum. Grenzenlos fliegt jedes in seii1e<br />

eigene Richtung davon und verliert sich<br />

im Raum. Dasselbe erleben wir eigentlich<br />

in unseren Gesellschaften, denen es darauf<br />

ankommt, alle Körper, alle Botschoflen und<br />

alle Prozesse in jeglicher Richtung zu beschleunigen;<br />

vor allem mit den mo<strong>der</strong>nen<br />

Medien wurde jedem Ereignis, je<strong>der</strong> Erzählung<br />

und jedem Bild ein Simulationsraum<br />

von grenzenloser Flugbahn geschaffen.<br />

Jedem Faktum, jedem politischen, historischen<br />

o<strong>der</strong> kulturellen Merkmal wird<br />

vermöge seiner Verbreitung durch die Medien<br />

eine kinetische Kraft verliehen, welche<br />

es seinem eigenen Raum fur immer entreißt<br />

und es in einen Hyperraum vorantreibt,<br />

worin es seine Richtungvöllig verliert, denn<br />

es wird nie daraus zurückkehren. Wir brauchen<br />

keine science ßction mehr: ab sofort,<br />

hier und jetzt, in unserer Gesellschaft, haben<br />

wir mit Medien und Informatik, mit<br />

Schaltkreisen und etzen, schon den Beschleunigungsgrad<br />

von Teilchen, <strong>der</strong> die<br />

referentielle Umlaufbahn <strong>der</strong> Dinge endgültig<br />

durchbrachen hat.<br />

Was nun die Geschichte betrifft, so muß<br />

man sich über die Folgen klar sein. Damit ist<br />

<strong>der</strong> "Recit", die Erzählung, unmöglich geworden,<br />

denn er stellt pard~fimtio"em (re-a~<br />

Ia/ton) das nachträgliche Abspulen einer<br />

Sinnsequenz dar. Heutzutage istjedes Faktumundjedes<br />

Ereignis überden Zwangzur<br />

Verbreitung, über das Gebot totaler Zirkulation<br />

und Kommunikation allein schon<br />

"befreit", schon losgelöst -jedes Faktum<br />

wird zum Atom und folgt seiner Flugbahn<br />

ins Leere. Um grenzenlos verbreitet zu<br />

werden, muß es wie ein Atomteilchen gespalten<br />

werden. Auf diese Weise kann es eine<br />

Geschwindigkeit erreichen, <strong>der</strong>en Richtung<br />

nicht umkehrbar ist und es endgültig<br />

von <strong>der</strong> Geschichte entfernt. Kein Ereignis<br />

hat mehr Folgen, denn es passiert zu<br />

schnell- zu schnell und zu weit wird es verbreitet,<br />

von den Kreisläufen verschluckt -<br />

nie mehr wird es zurückkehren, um von<br />

sich und sei nem Sinn Zeugnis abzulegen<br />

(<strong>der</strong> Sinn ist stets ein Zeugnis). Zudem muß<br />

je<strong>der</strong> ereignishafte und kulturelle Komplex<br />

aufgespalten und zerglie<strong>der</strong>t werden, um in<br />

die Kreisläufe eintreten zu können, mußjede<br />

Sprache sich in 0/ 1, in ein binäres Dispositiv,<br />

auflösen lassen, um nicht mehr in unserem,<br />

son<strong>der</strong>n auch im elektronischen<br />

und leuchtenden Gedächtnis <strong>der</strong> Computer<br />

zu zirkulieren. Keine menschliche Sprache<br />

verträgt Lichtgeschwindigkeit. Kein<br />

historisches Ereignis verträgt seine weltweite<br />

Verbreitung. Kein Sinn verträgt seine<br />

Beschleunigung. Keine Geschichte verträgt<br />

das Zentrifi.1gieren <strong>der</strong> Fakten um ihrer<br />

selbst willen und die Entgrenzung <strong>der</strong><br />

Zeit-Räume (und ich fuge hinzu: keine Sexualität<br />

verträgt ihre Befreiung, keine Kultur<br />

ihren massenhaften Absatz, keine<br />

Wahrheit ihre Verifizierung usw .... ).<br />

Genau das nenne ich Simulation. Aber<br />

ich muß hinzu fugen, daß Simulation etwas<br />

Zweischneidiges ist, und daß, was ich hier<br />

entwickle, nichts an<strong>der</strong>es als eine Simulationsübung<br />

ist. Ich bin nicht mehr imstande,<br />

etwas zu "reflektieren", ich kann meinerseits<br />

nur Hypothesen bis an ihre Grenzen<br />

vorantreiben, das heißt sie ihrer kritischen<br />

Referenzzone entreißen und einen<br />

Punkt überschreiten lassen, nach dem sie<br />

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