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Terror der Zeichen Oder - Hochschule für bildende Künste Hamburg

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Rezensionen<br />

1984 ist an<strong>der</strong>s<br />

.,Personenaussparung, Personenausdünnung, Negative<br />

Schattenbil<strong>der</strong>, Personales Vakuum, Personenreste,<br />

Personenbeschreibung ... "<br />

Stichworte <strong>für</strong> die Durchleuchtung, die Segmentierung<br />

<strong>der</strong> Person. Stichworte <strong>für</strong> ein Bild: Auf die abwaschbaren<br />

Kunststeinplatten einer Wand fällt <strong>der</strong><br />

weiße Schatten eines fliehenden Menschen. Eine automatische<br />

Kamera verfolgt seine Bewegungen.<br />

Assoziationsmaterial zu einem<br />

Projekt des <strong>Hamburg</strong>er Fotografen<br />

Hans-Peter Dimke: .. 1984<br />

ist an<strong>der</strong>s - die begrenzte Anwendbarkeit<br />

<strong>der</strong> Fotografie". Erschienen<br />

ist <strong>der</strong> Band im Göttinger<br />

Fotografie-Verlag, <strong>der</strong> seit<br />

1978 die Zeitschrift Fotografie<br />

herausgibt. 1984 ist<br />

an<strong>der</strong>s .. . aber wie?<br />

.. Es war ein klarer, kalter Tag<br />

im April, und die Uhren schlugen<br />

gerade dreizehn, als Winston<br />

Smith, das Kinn an die Brust gepreßt,<br />

um dem rauhen Wind zu<br />

entgehen, rasch durch die Glastüren<br />

eines <strong>der</strong> Häuser des Victory-Biocks<br />

schlüpfte, wenn<br />

auch nicht rasch genug, als daß<br />

nichtzugleich mit ihm ein Wirbel<br />

griesigen Staubs eingedrungen<br />

wäre.<br />

Im Flur roch es nach gekochtem<br />

Kohl und feuchten Fußmatten.<br />

An <strong>der</strong> Rückwand war ein<br />

grellfarbiges Plakat, das <strong>für</strong> ei ­<br />

nen Innenraum eigentlich zu<br />

groß war, mit Reißnägeln an <strong>der</strong><br />

Wand befestigt. Es stellte nurein<br />

riesiges Gesicht von mehr als ei ­<br />

nem Meter Breite dar: das Gesicht<br />

eines Mannes von etwa<br />

fünfundvierzig Jahren, mit dikkem<br />

schwarzen Schnauzbart<br />

und ansprechenden, wenn auch<br />

<strong>der</strong>ben Zügen. Winston ging die<br />

Treppe hinaus. Es hatte keinen<br />

Zweck es mit dem Aufzug zu versuchen.<br />

Sogar zu den günstigsten<br />

Stunden des Tages funktionierte<br />

er nur selten, und zur Zeit<br />

war tagsüber <strong>der</strong> elektrische abgestellt.<br />

Das gehörte zu den<br />

wirtschaftlichen Maßnahmen<br />

<strong>der</strong> in Vorbereitung befindlichen<br />

Haß-Woche. Die Wohnung lag<br />

sieben Treppen hoch, und <strong>der</strong><br />

neununddreißigjährige Winston,<br />

<strong>der</strong> über dem rechten Fußknöchel<br />

dicke Krampfa<strong>der</strong>knoten<br />

hatte, ging sehr langsam und<br />

ruhte sich mehrmals unterwegs<br />

aus. Auf jedem Treppenabsatz<br />

starrte ihn gegenüber dem Liftschacht<br />

das Plakat mit dem riesigen<br />

Gesicht an. Es gehörte zu<br />

den Bildnissen, die so gemalt<br />

sind, daß einen die Augen überallhin<br />

verfolgen. 'Der große Bru<strong>der</strong><br />

sieht dich an!' lautete die<br />

Schlagzeile darunter ..."<br />

64<br />

Der Beginn des vielzitierten<br />

Werkes liest sich noch wie eine<br />

Ansichtspostkarte aus Stalins<br />

Sowjetunion, nicht 1984 son<strong>der</strong>n<br />

in <strong>der</strong> Tat 1948. Das Buch<br />

von Orwell in <strong>der</strong> Hand, so erweckt<br />

Dimke den Eindruck, unternimmt<br />

er seinen fotografi ­<br />

schen Streifzug durch Sicherheit<br />

und Ordnung unseres Landes.<br />

Die Fotografien, Aufzeichnungen<br />

nennt Dimke sie, sind<br />

dennoch nicht bloß fotografi ­<br />

sche Notizen. Sie gehorchen<br />

durchaus den ästhetischen Kon ­<br />

ventionen des bürgerlichen Tafelbildes,<br />

Symmetrie, Rhytmus,<br />

Proportionen, Zentrierung und<br />

Perspektive <strong>der</strong> gestochen<br />

scharfen Aufnahmen sind alles<br />

an<strong>der</strong>e als Zufallsprodukte, als<br />

flüchtige Eindrücke. Erst im Zu ­<br />

sammenhang <strong>der</strong> eingeschobenen<br />

Orweii- Lektüre, erst recht<br />

des ganzen Buches, stellt sich so<br />

etwas her, wie eine offene Form,<br />

die Brechung verschiedener<br />

Wahrnehmungsweisen und Medien<br />

auf die und durch die hindurch<br />

<strong>der</strong> Betrachter und Leser<br />

sich seinen eigenen Reim machen<br />

kann.<br />

Skizzen, Bil<strong>der</strong> und Texte,<br />

auf die Dimke während <strong>der</strong> Arbeit<br />

an .. 1984 ist an<strong>der</strong>s" stieß,<br />

Reaktionen an<strong>der</strong>er Künstler auf<br />

das bisher zustandegebrachte<br />

ermöglichen die Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

mit dem Produktionsprozeß<br />

selber, initiieren Assoziationsketten,<br />

provozieren die<br />

Kommunikation mit Bil<strong>der</strong>n und<br />

Texten, die nicht einseitig bleibt,<br />

den Benutzer des Buches als<br />

Subjekt akzeptiert. Ein Gebrauchsbuch<br />

<strong>für</strong> immer noch<br />

nicht Entmutigte in einer Gesellschaft,<br />

in <strong>der</strong>, wie Dimke<br />

schreibt .. die Verdatung <strong>der</strong> Bürger<br />

und die überwachende und<br />

somit profitable Aufrasterung in<br />

fast allen Lebensbereichen aus<br />

<strong>der</strong> Utopie herausgetreten ist.<br />

Wir sollten zusammen nach<br />

Möglichkeiten forschen, um uns<br />

dem 'Großen Bru<strong>der</strong>' zu entziehen."<br />

Kommunikation, die die<br />

elektronische Codierung und Erfassung<br />

umgeht, dazu gibt die<br />

Umschlagrückseie gleich praktischen<br />

Anreiz. Vier Bil<strong>der</strong> als<br />

Postkarten zum ausschneiden .. .<br />

Aber nun ist die Post ja auch<br />

nicht gerade <strong>der</strong> freieste Weg<br />

sich auszutauschen. Nicht zuletzt<br />

in diesem Bereich wird<br />

längst mit dem Gedanken gespielt<br />

dem reduzierten Code <strong>der</strong><br />

elektronischen <strong>Zeichen</strong> das Feld<br />

zu räumen und den Briefverkehr<br />

auf Computer umzustellen. ln<br />

England wird schon begonnen<br />

solche Konzepte in die Tat umzusetzen.<br />

Nicht Cod ierung an<br />

sich ist das Problem. Natürlich<br />

bedient sich jede kommunikative<br />

Äußerung, die wir tun, eines<br />

Codes, einer auch an<strong>der</strong>en verständlichen<br />

Sprache. Und so<br />

geht mit dem Erwerb <strong>der</strong> Fähigkeit,<br />

sich an<strong>der</strong>en mitzuteilen,<br />

immer auch mit dem Verlust ei ­<br />

nes unreglementierten, unbegrenzten<br />

Ausdrucks einher.<br />

Kommunikation bedeutet von<br />

selbst auch Entfremdung. Um so<br />

unbegrenzter allerdings ein Co ­<br />

de angewendet werden soll, um<br />

so größer <strong>der</strong> Zwang zur Vereinheitlichung<br />

und Abstraktion, um<br />

so größer wird auch <strong>der</strong> Zugriff<br />

des Codes auf das, was durch ihn<br />

sich mitteilen will.<br />

Und hiergenau wird deutlich<br />

welche Verarmung <strong>der</strong> Sinne<br />

uns von <strong>der</strong> Computerweit aufoktroyiert<br />

wird. Differenzierte<br />

persönliche, emotionale und<br />

ästhetische Codes werden<br />

durch ein reduzieres Vokabular<br />

elektronischer <strong>Zeichen</strong> ersetzt,<br />

das zentral kontrollierbar wird.<br />

Menschliche Äußerungen, die in<br />

diesem Code nicht ausgedrückt<br />

werden können, verlieren an Re ­<br />

levanz, werden verdrängt. Der<br />

Mensch wird ·operationalisierbar.<br />

Auch davon zeugen die Bil<strong>der</strong>:<br />

Kunstsein, glatt und abwaschbar,<br />

monoton aufgerasterte<br />

Häuserflächen, die zarte<br />

Versuchung einerneuen Eiskreme,<br />

Beton als Metapher und als<br />

Realität bezeichnen eine<br />

Sprachlosigkeit, gegen die es<br />

nur noch hilflose Gesten gibt.<br />

Graffiti und Parolen, Kunst am<br />

Bau und die Steine von Beuys in<br />

Kassel. Wenn uns die Sprache<br />

enteignet wird, bleibt uns nur<br />

noch die Sprachlosigkeit <strong>der</strong> an ­<br />

<strong>der</strong>en, um uns gegen unsere ei ­<br />

gene zu wehren.<br />

.. Die enorme tägliche Bil<strong>der</strong>flut<br />

<strong>der</strong> Medien hat uns eingelullt,<br />

träge und schläfrig gemacht.<br />

Wir reagieren nur noch<br />

auf die uns zugeteilten kurzlebi ­<br />

gen Reize <strong>der</strong> journalistischen<br />

Aufmacherfotos des werblichen<br />

Fotodesigns o<strong>der</strong> <strong>der</strong> fotogra ­<br />

fisch-effektvollen/ modischen<br />

Reiseberichterstattung schwerer<br />

Kodachrome-Farben z.B. Unsere<br />

Industriegesellschaft ist auf<br />

dem Wege eine Informationsgesellschaft<br />

zu werden, - Kommunikation<br />

aus zweiter und dritter<br />

o<strong>der</strong> elektronischer Hand ist<br />

aber nicht mehr die menschliche<br />

Kommunikation, die sich auf alle<br />

unsere Sinnesorgane begründet:<br />

Sehen und sich zeigen, Hören<br />

und Sprechen, Riechen,<br />

Schmecken, Tasten, Fühlen<br />

usw."<br />

Herausgegeben von Hans­<br />

Peter Dimke: Die begrenzte Anwendbarkeit<br />

<strong>der</strong> Fotografie- Fotografie<br />

Verlag Göttingen 1982.<br />

Hanno Loewy, Frankfurt

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