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Terror der Zeichen Oder - Hochschule für bildende Künste Hamburg

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langweiliges Ghetto. Diese Welt war bereits<br />

an <strong>der</strong> Straßenecke unseres Hauses zu<br />

Ende. In <strong>der</strong> angrenzenden Leipziger Straße<br />

wohnten fast ausschließlich Arbeiterfamilien<br />

in teilweise sehr ärmlichen Verhältnissen,<br />

so auch mein kleiner Freund Gottfried.<br />

Alle Spiele in <strong>der</strong> 'verbotenen' Straße<br />

waren fur mich von Lust und Grauen begleitet<br />

und ihre Welt von unwi<strong>der</strong>stehlicher<br />

Anziehungskraft. Die Villen <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong>zeit<br />

hingegen, wie auch das 1890 erbaute<br />

Haus <strong>der</strong> Großeltern, stehen am inneren<br />

Stadtrand und waren daher enger mit dem<br />

städtischen Leben verbunden. Heute wohnen<br />

in den alten Villen mehrere Parteien.<br />

Im Haus <strong>der</strong> Großeltern besuchte ich das<br />

ehemalige Dienstmädchen, die heute über<br />

80 Jahre alte Hilde und ihre Schwester. Sie<br />

wohnen in <strong>der</strong> alten Pracht in bescheidenen<br />

Verhältnissen und freuen sich über den<br />

unverhofften Besuch aus <strong>der</strong> alten Zeit, zu<br />

reden gibt es wenig.<br />

Zum Zentrum <strong>der</strong> Begegnungvon Vergangenheit<br />

und Gegenwartwurde furmich<br />

Foto: Hetdemane Hagen<br />

<strong>der</strong> alte Frauenfriedhof mit dem Familien­<br />

Erbbegräbnis meiner Großeltern. Ich habe<br />

zum ersten Mal mit Bewußtsein die lebensgroße<br />

Bronzeplastik des Großvaters wahrgenommen<br />

und dabei festgestellt, daß dieses<br />

Denkmal aus <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong>zeit sehr gut<br />

in den Fortschrittsglauben des sozialistischen<br />

Realismus paßt. Der Großvater steht<br />

in Arbeitskluft mit Werkzeug und Konstruktionsskizze<br />

neben sich; eine Hand vor<br />

die Augen haltend blickt er in die ferne Zukunft,<br />

darunter steht <strong>der</strong> Spruch: "Es<br />

kommt die Nacht, da niemand wirken<br />

kann". Im Schutze des Friedhofs hat dieses<br />

Zeugnis frühkapitalistischen Unternehmergeistes<br />

die Systemwende überlebt.<br />

Zwischen den Friedhof! gräbern wuchern<br />

nicht nur nkraut, son<strong>der</strong>n auch sehr 'ungleichzeitige'<br />

Gedanken, die sich in Heimlichkeit<br />

mit den Toten verbinden. Während<br />

ich noch die Grabplatte von Ruß, Efeu<br />

und Erde säubere, steht plötzlich eine<br />

schwarzgekleidete Frau neben mir und<br />

sagt zum bronzenen Großvater gewendet:<br />

"Das ist mein lieber Schmied, ich besuche<br />

ihn jeden Tag, wenn ich hierher komme."<br />

Als ich ihr sage, daß ich die Enkelin bin,<br />

fangt sie an zu weinen. Dann schimpft sie<br />

über den Ruß aus den benachbarten Kohlebergwerken<br />

von Hirschfelde und über das<br />

kleinstädtische Muckerturn <strong>der</strong> Leute. Aus<br />

Andeutungen entnehme ich, daß sie meine<br />

Familie kannte und frage sie daher nach ihrem<br />

amen. Diese Frage überhört sie jedoch,<br />

und ich begreife ziemlich schnell, daß<br />

diese Offenheit nur unter dem Schutz <strong>der</strong><br />

Anonymität gewagt wird.<br />

Die Friedhofsverwaltung verwaltet in<br />

dieser Situation nicht nur die Grabstätten,<br />

son<strong>der</strong>n auch den Rest nicht ausgelöschter<br />

Erinnerungen. Eine an<strong>der</strong>e bleiche Frau<br />

entpuppt sich als ehemalige Klassenkameradin<br />

meiner Schwester und macht dunkle<br />

Andeutungen, daß man sich in <strong>der</strong> BDM­<br />

Zeit nur vom Sehen her kannte, weil man<br />

sich "in getrennten Lagern befand- es war<br />

eben auch eine ganz an<strong>der</strong>e Zeit ... " Welch<br />

ein langer Weg von <strong>der</strong> Hitlerjugend zur<br />

SED-Friedhofsverwaltung, er endet zwischen<br />

den Welten!<br />

Es wäre aber falsch, das Hier undjetzt<br />

von <strong>der</strong> Erinnerung abzuschneiden. Vielmehr<br />

müßte es gelingen, nicht nur über das<br />

Verlorene zu klagen, son<strong>der</strong>n das Gegenwärtige<br />

daraufhin zu betrachten, was an<br />

Vergangenern in ihm bewahrt werden<br />

kann und, was sich än<strong>der</strong>n muß. Spätestens<br />

an dieser Stelle merke ich jedoch, daß ich<br />

von dieser Entwicklung völlig abgeschnitten<br />

bin. Ob beispielsweise die Zittauer Bimmelbahn<br />

aus Gründen <strong>der</strong> Umweltverschmutzung<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Rationalisierung abgeschaßt<br />

wird - bei uns gibt es <strong>der</strong>artige<br />

Relikte ohnehin nur noch im Museum- ob<br />

Olbersdorf den Kohlehalden von Hirschfelde<br />

weichen muß, und die Bäume desZittauer<br />

Gebirges weiter sterben. Dies alles<br />

könnte erst dann zu einem gemeinsamen<br />

Problem von Ost und West werden, wenn<br />

Ökologie wichtiger wird als <strong>der</strong> ideologische<br />

Gegensatz.<br />

Zittau ist fur mich nicht weniger geworden,<br />

seit ich es in seiner alten, rußigen Gestalt<br />

im sozialistischen Gewand gesehen<br />

habe. Ich war zu Hause und dabei zugleich<br />

zu Besuch in einem fremden Land.<br />

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