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Terror der Zeichen Oder - Hochschule für bildende Künste Hamburg

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Heruntergekommene von einem<br />

Durchreisenden wie<strong>der</strong>erkannt,<br />

<strong>der</strong> wichtigtuerisch und breit die<br />

Geschichte des von seiner Frau<br />

verlassenen und dem Alkohol<br />

verfallenen ehemaligen Gutsbesitzers<br />

zum Besten gibt. Dieser<br />

Bericht, die unerwartete Spannung<br />

einer gierig aufgenommenen<br />

Erzählung, bildet den dramaturgischen<br />

Höhepunkt von<br />

Klaus Michael Grübers Inszenierung.<br />

Jetzt wird dem Elenden ein<br />

Hauch von Anteilnahme anstelle<br />

von blödem Gleichmut zuteil,<br />

man spendiert ihm Wodka, denn<br />

die an<strong>der</strong>en erkennen in ihm einen<br />

von Ihresgleichen und<br />

gleichzeitig den ehemaligen<br />

G utsbesitzer.<br />

Mit <strong>der</strong> berichteten Erinnerung<br />

an ein gewesenes und vergangenes<br />

Glück wird die willkürliche<br />

Ansammlung von Menschen<br />

zu einerstrukturierten Gemeinschaft,<br />

weil sie sich einen<br />

Rest von sozialer Anteilnahme<br />

und Respekt im Inneren bewahrt<br />

hat. -Den theatralischen Höhepunkt<br />

bietet die Konfrontation<br />

mit <strong>der</strong> untreuen Frau des Borzow<br />

(Libgart Schwarz). diezufällig<br />

wegen eines Achsenbruches<br />

am Wagen in <strong>der</strong> Schenke auftaucht,<br />

im eleganten weißen<br />

Kleid, eine falsche Heilige, die,<br />

sobald identifiziert, angefeindet<br />

und verachtet wird, und so ihrerseits<br />

zur Projektionsfigur allen<br />

Übels gerät. Vielleicht sogarverkörpert<br />

sie das Mondäne, das<br />

den hier Versammelten gänzlich<br />

und <strong>für</strong> immer fremd bleiben<br />

wird, und <strong>der</strong>en Gemeinschaft<br />

lediglich in <strong>der</strong>traurigen Erinnerung<br />

an eine verlorene Vergangenheit,<br />

<strong>für</strong> einen kurzen Moment,<br />

wie das flüchtige Geheimnis<br />

einer rituellen Beschwörung,<br />

erscheinen kann. - Nichts weist<br />

hier in die Zukunft.<br />

Diesen inneren Zusammenhang<br />

von Anton Tschechows<br />

früher und weitgehend unbekannter<br />

dramatischer Arbeit<br />

wird Grübers Inszenierung in ihrer<br />

Kargheit und Verhaltenheit<br />

gerecht. Nie fällt hier, von den<br />

erwähnten Ausnahmen abgesehen,<br />

ein lautes und gewichtiges<br />

Wort. Der Zuschauer hat auf<br />

sachte Weise Teil am Bühnengeschehen.<br />

ln dasselbe fahle Licht<br />

gesetzt und auf seinen Stühlen<br />

sich räkelnd die unwillkürlichen<br />

Bewegungen und Gesten <strong>der</strong><br />

Schauspieler wi<strong>der</strong>spiegelnd,<br />

hat er mit den zwar fremden Gestalten<br />

auf <strong>der</strong> Bühne doch gemeinsam,<br />

daß soziale Gemeinschaft<br />

und lebendige Gesell ­<br />

schaft zum Inhalt melancholischer<br />

Erinnerung zu verkommen<br />

drohen.<br />

Barbara Breysach_ Berlin<br />

Literatur<br />

"Kein schöner Landl.f<br />

Kein schöner Land"- so heißt <strong>der</strong> neue Roman des<br />

Schweizer Autors Silvio Blatter. Von Menschen und<br />

<strong>der</strong> Landschaft, in <strong>der</strong> sie leben, berichtet Blatter in<br />

seinem Roman vielperspektivisch durch ein lose verbundenes,<br />

mehrere Generationen umfassendes Figurenensemble.<br />

Der Autor erzählt in unterhaltsamen<br />

Episoden, mit Lust am Fabulieren, F~nmulieren. ~o<br />

heißt es denn auch in einer <strong>der</strong> wen1gen Rezensionen,<br />

d1e bisher in <strong>der</strong> BRD zu diesem Roman erschienen<br />

resümierend in <strong>der</strong> FAZ vom 22.11.1983,<br />

"daß das' Buch Schmökerqualität besitzt und einen<br />

zu unterhalten vermag". Mit einer solchen Wertung<br />

wird man dem Roman Blatters jedoch kaum gerecht.<br />

Silvio Blatter hat einen .. Heimat"<br />

-Roman geschrieben. Doch<br />

er weigert sich beharrlich, wie<br />

schon in seinem letzten Roman<br />

Zunehmendes Heimweh", uns<br />

::szenen aus dem Landleben",<br />

bissige Satiren zu bieten wie etwa<br />

ein an<strong>der</strong>er Schweizer Autor,<br />

Gerold Späth. Späths Romane<br />

sind zwar unterhaltsam, aber ei ­<br />

gentlich nur Ausdruck <strong>der</strong> Hoffnungslosigkeit<br />

gegenüber ei ­<br />

nem nur noch zynisch zu überwindenden<br />

Spießertum.<br />

Nein, Blatter erzählt auf sei ­<br />

ne mikroskopische, sehr aufs<br />

Detail bedachte Art, durch seine<br />

Figuren vom Leben und den Lebensmöglichkeiten<br />

im katholisch<br />

geprägten Freiamt, einem<br />

fruchtbaren Landstrich um die<br />

Stadt Bremgarten im Kanton Aarau<br />

. Und nur so gelingt es, die Arroganz<br />

<strong>der</strong>er ..., die nur noch<br />

hoffnungslos sind und kaltschnäuzig<br />

präzise zu fassen .<br />

Hoffnungslos und kaltschnäuzig<br />

.. Du kannst ja auswan<strong>der</strong>n",<br />

wie Rene Villiger.<br />

Drahtwerksbesitzer und Kan ­<br />

tonsrat auf Kritik seines Bru<strong>der</strong>s<br />

Hans, eines Geschichtslehrers,<br />

reagiert. Rene gerät ins Schwärmen,<br />

wenn er die Autobahn­<br />

Baupläne <strong>der</strong> Regierung<br />

studiert: .. Tausende Laufmeter<br />

Zaundraht müssen da rechts und<br />

links <strong>der</strong> Autobahn gezogen<br />

werden" und alle drei Meter<br />

steht ein Villiger Zaunpflock. Es<br />

ist im Kern ein Roman über das,<br />

was den .. Heimatliebenden" so<br />

teuer ist : Den Boden, die materielle<br />

Grundlage <strong>der</strong> Heimat, <strong>der</strong><br />

sich nicht vermehren läßt und<br />

dessen fruchtbarer Teil allmählich<br />

umgewandelt, vernichtet<br />

wird. Keine Szenen aus dem<br />

Landleben, weil die Protagonisten<br />

solcher Szenen, die Bauern,<br />

in ihrer Existenz bedroht sind.<br />

Die Städter drängen auf <strong>der</strong><br />

Suche nach Ruhe ins Dorf, und<br />

so wird es profitabel, Weideland<br />

in Bauland umzuwandeln. Als<br />

deshalb dem Bauern Stephan<br />

ein Stück Pachtland gekündigt<br />

wird, muß er auswan<strong>der</strong>n, da<br />

sich sein Hof nicht mehr bewirtschaften<br />

läßt. Und es ist mehr als<br />

böse Ironie, .,daß er von <strong>der</strong><br />

Neueinteilung, die ihn als Bauer<br />

ruinierte, nun als Verkäufer profitierte".<br />

Er verkauft seinen Hof<br />

einem Ortsfremden, <strong>der</strong> eine<br />

Gänsemast betreiben will, und<br />

rächt sich so an den ., Büromenschen",<br />

die seine Arbeitsmöglichkeit<br />

schon dadurch einschränkten,<br />

daß sie jede notwendige<br />

Wochenendarbeit <strong>der</strong><br />

Polizei anzeigten.<br />

Stephan steht nicht allein,<br />

und es ist bloßes Kalkül, daß eine<br />

<strong>der</strong> beteiligten Maklerfirmen ei ­<br />

nen Informationsabend organisiert<br />

<strong>für</strong> die Landwirte, die ihr<br />

Land verlassen wollen. ..Ihr<br />

Land? Den Hof, die in <strong>der</strong><br />

Schweiz verlorene Heimat." Voll<br />

ist <strong>der</strong> Saal von .,aufgebrachten,<br />

schimpfenden Bauern und<br />

Pächtern ..., die alle Kanada im<br />

Kopf hatten".<br />

Heimatvertriebene. Ohne<br />

Heimat und Orientierung, aber<br />

auch ohne eine reale Fluchtmöglichkeit<br />

sind die Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen<br />

im Roman. Die sech ­<br />

zehnjährige Jo zum Beispiel, ei ­<br />

ne Tochter Rene Villigers. Sie<br />

streitet sich heftig mit ihrem Va ­<br />

ter weil er <strong>für</strong> sie einer von dene~<br />

ist, die die Schweiz zu einem<br />

Schia raffenland <strong>für</strong> Schürf-und<br />

Baumaschinen" machen. Sie<br />

empfindet die Autobahnen als<br />

immer neue und engergezogene<br />

Grenzen im Land, .. schwerer zu<br />

überbrücken als ein Fluß", sinnlos,<br />

weil sie das fruchtbarste<br />

Land durchqueren, Wäl<strong>der</strong> teilen<br />

und Wiesen zerschneiden.<br />

Einsam und resigniert flüchtet<br />

sie nach dem Unfalltod des Va ­<br />

ters immer häufiger in einen<br />

Traum, in dem sie ein Mammut<br />

wegträgt .,in an<strong>der</strong>e Län<strong>der</strong>, in<br />

ein Land, wo Menschen, freund ­<br />

liche Menschen sie begrüßten."<br />

Eine .. schafft" es in dieser<br />

Umbruchstimmung. Flip, ein<br />

junger Automechaniker. Er erfindet<br />

in seiner Freizeit eine Sicherheitskette,<br />

fährt damit<br />

übers Land und bietet sie in den<br />

neuerichteten Wohnblocks an.<br />

Er zitiert aus Zeitungsartikeln<br />

über sich häufende Einbrüche<br />

und gute Geschäfte macht er<br />

insbeson<strong>der</strong>e dann, .. wenn es<br />

schneite und kalt war, wenn die<br />

Leute sich einschlossen in die<br />

Wohnungen und Häuser, wenn<br />

sie alles verriegelt und verwahrt<br />

wissen wollten ..." Nach dem ei ­<br />

nen Jahr, in dem .. Kein schöner<br />

Land" spielt, steht er stolz auf eigenem<br />

Grund und Boden und<br />

hat gute Aussichten in <strong>der</strong> zu ­<br />

kunftsträchtigen Sicherheitsbranche.<br />

Es ist schwer diesem Roman<br />

gerecht zu werden, weil er die<br />

Menschen in ihrem alltäglichen<br />

Handeln und Reflektieren zeigt<br />

und so mehrere Erzählungen<br />

enthält über Liebe und Liebesfeindlichkeit,<br />

Kindheit und Alter,<br />

über Arbeit und Mahlzeit.<br />

Die Stimmung aber ist beängstigend,<br />

wie immer da, wo<br />

Heimat-Gefühl-Demagogen<br />

Umweltzerstörung in Heimatliebe<br />

ummünzen können und <strong>der</strong><br />

Einfluß <strong>der</strong>er, die nicht daran<br />

denken, .. auf Heimat zu verzichten,<br />

den Ort und Begriff aufzugeben;<br />

auf Heimat beharren, auch<br />

wenn sie oftmals Hölle (Getto)<br />

ist", zu gering ist.<br />

Viktor Bö//, Köln<br />

Silvio Blatter: " Kein schöner<br />

Land". Roman Suhrkamp Verlag,<br />

Frankfurt am Main 1983,<br />

545 S.<br />

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