Z8 Wer darf ins Leben, wer muss hinaus?
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Erfahrungsbericht<br />
Foto: © Rebecca Kiessling<br />
Mit 19 Jahren lernte<br />
Rebecca Kiessling ihre<br />
leibliche Mutter<br />
kennen.<br />
„Meine liebste Rebecca,<br />
ich hoffe, dass Du den Schock über die Einzelheiten<br />
Deiner Geburt inzwischen verkraftet hast. Denn all<br />
das war wirklich kein Grund, etwas so Schönes wie<br />
Dich aufzugeben – etwas so Kostbares wie ein Baby!<br />
Meistens fällt man nach neun Monaten Schwangerschaft<br />
nach der Geburt in ein Loch und denkt, niemand<br />
liebt einen, aber Du warst so vollkommen und<br />
hübsch.<br />
All die Jahre hatte ich nichts von Dir, kein Foto,<br />
nichts, was mir sagte, dass Du ein Teil von mir bist.<br />
Nur die Erinnerung an eine Schwangerschaft mit einem<br />
Baby, von dem ich hoffte, dass es eines Tages<br />
seine wirkliche Mutter suchen würde, so wie auch<br />
ich mein Baby kennenlernen wollte. In meinem Herzen<br />
habe ich Dich immer geliebt. Du warst immer in<br />
meinen Gedanken, vor allem jedes Jahr im Juli ...<br />
Es scheint eine Ewigkeit her zu sein, ich weiß.<br />
Als ich vor zwei Jahren krank war, fragte ich mich,<br />
würde ich mein kleines Mädchen jemals kennenlernen?<br />
... Das waren lange drei Wochen. Ich freue<br />
mich so sehr auf unser Treffen. Es ist großartig – so<br />
wahnsinnig schön! Das war immer mein Traum. Ich<br />
weine vor Glück! Eine Liebe, die mich neunzehn Jahre<br />
nicht losgelassen hat, und jetzt endlich lerne ich<br />
meine Tochter kennen.<br />
In Liebe, Deine Mutter Joanne.“<br />
Ich fühlte mich so bestätigt – bis wir über Abtreibung<br />
sprachen. Mit Grauen hörte ich, dass sie<br />
mich abgetrieben hätte, wenn das damals im<br />
Herbst 1968 schon legal gewesen wäre. Aber es<br />
war nicht legal. Gut für sie und gut für mich. Später<br />
gab sie zu, dass sie doch zu zwei Hinterhof-Engelmachern<br />
gegangen war und ich beinahe abgetrieben<br />
worden wäre.<br />
Wie die meisten anderen Frauen damals<br />
schreckte auch meine Mutter vor der ersten Abtreibung<br />
zurück, weil es im „Hinterhof“ so unhygienisch<br />
zuging und weil es verboten war. Den nächtlichen<br />
Termin bei dem zweiten Engelmacher hatte<br />
der Berater arrangiert, den ihr die Polizei empfohlen<br />
hatte. Sie sollte in der Nähe des „Detroit Institute<br />
of Art“ warten. Jemand würde sich ihr nähern,<br />
ihren Namen nennen, ihr die Augen verbinden, sie<br />
auf den Rücksitz eines Autos verfrachten. Dieses<br />
Auto würde sie zu dem Engelmacher bringen und<br />
dort könnte sie mich abtreiben lassen. Danach, wieder<br />
mit verbunden Augen, ginge es zum Kunstmuseum<br />
zurück. Sie hatte immer noch Angst um ihre<br />
eigene Sicherheit, aber sie war entschlossen, es<br />
durchzuziehen.<br />
Meine Tante sollte sie zu dem Treffpunkt fahren.<br />
Aber an jenem Morgen setzte einer der schlimmsten<br />
Schneestürme des Jahrhunderts in der Region<br />
ein. Es schneite tagelang und die Straßen waren<br />
blockiert. Das war‘s dann. Die ersten drei Monate<br />
der Schwangerschaft waren vorbei und sie konnte<br />
nicht mehr abtreiben. Wenn ich das erzähle, sagen<br />
einige Leute doch tatsächlich zu mir: „Es ist einfach<br />
schrecklich, dass Ihre leibliche Mutter all das durchmachen<br />
<strong>muss</strong>te, um Sie abtreiben zu können!“ Soll<br />
das etwa mitfühlend sein? Aus meiner Sicht ist das<br />
ziemlich gedankenlos und hartherzig!<br />
Immerhin habe ich es nur<br />
gerade so <strong>ins</strong> <strong>Leben</strong> geschafft.<br />
Der Verhandlungstermin in Sachen Roe gegen<br />
Wade fiel auf meinen ersten Geburtstag, und genau<br />
dreieinhalb Jahre nach meiner Geburt, am 22. Januar<br />
1973, fällte der U.S. Supreme Court sein Urteil.<br />
Auf den Tag genau, denn ich wurde am 22. Juli 1969<br />
geboren. Inzwischen bin ich Familienanwältin und<br />
wenn ich Frauen vertrete, die zur Abtreibung genötigt<br />
wurden, tue ich das sehr gerne kostenlos. Vier<br />
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