Z8 Wer darf ins Leben, wer muss hinaus?

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Erfahrungsbericht Spätabtreibung – mein Einstieg in die Hebammenausbildung Erfahrungen aus einer deutschen Uniklinik Antje S., Hebamme Eingeteilt zur Nalador- Einleitung, frage ich mich, was eine Nalador- Einleitung eigentlich ist Nalador wird eingesetzt, um zum Abbruch einer späten Schwangerschaft eine künstliche Totgeburt einzuleiten. Das Kind soll so im Mutterleib getöt werden. Foto: © Montage/Agentur PJI UG So sieht ein Kind 20 Wochen nach der Zeugung aus. Ich war im ersten Ausbildungsjahr und stand vor einem meiner ersten Einsätze im Kreißsaal. Geburtshilfe, die Königsdisziplin der Hebammenarbeit! Ich bin gespannt wie ein Bogen. Die Hierarchie dabei ist klar. Als Hebammenschülerin bin ich unten, ganz unten. Übergabe der Nachtschicht an den Frühdienst. Wir stehen im Flur vor den drei Kreißsälen. Universitätsklinik, 1 500 Geburten im Jahr, Hochrisikoschwangere, Pathologie, Frühchen, Intensivmedizin, Forschung, Lehre, Profilneurotiker, späte Abbrüche, IFT (intrauteriner Fruchttod), IVF (in-vitro-Fertilisation). Die Begrifflichkeiten sind mir nicht vertraut, und ich wage nicht zu fragen. Schülerinnen im 1. Ausbildungsjahr dürfen nicht fragen, sie sollen tun, was man ihnen aufträgt. Zum Beispiel die Kugellager der Kreißbetträder mit der Zahnbürste von altem Blut befreien. Ich werde von einer Hebamme eingeteilt: „Du gehst zu der Nalador-Einleitung.“ Ich bin also eingeteilt, und während ich in Richtung Kreißsaal gehe, frage ich mich, was eine Nalador-Einleitung ist. Mir begegnet das Wort zum ersten Mal. Im Kreißbett eine völlig erstarrte Frau. Sie regt sich kaum, als ich mich vorstelle und sie und ihren offensichtlich unglücklichen Mann begrüße. Mich überkommt große Unsicherheit und Verlorenheit. Was ist hier los? Bestandsaufnahme: Die Frau hat einen venösen Zugang über Tropfenzähler, wahrscheinlich das mir unbekannte Nalador. Ich vermute ein Wehenmittel. Offensichtlich liegt eine Peridural-Anästhesie (Teilnarkose) vor; ich erkenne den kleinen Plas- 28 Z für Zukunft © by Zukunft Europa e.V. www.ZfürZukunft.de
Erfahrungsbericht tikschlauch, der vom Rücken kommend über ihrer Schulter liegt. Das kenne ich schon. Der Bauch ist sehr klein. Viel zu klein für eine ausgetragene Schwangerschaft. Es läuft kein CTG (Herzton- und Wehenüberwachung). Das CTG ist ein Muss bei jeder Geburt. Ich beginne vorsichtig ein Gespräch mit dem Paar, um das mir vorliegende Rätsel zu lösen. Das Paar ist sehr wortkarg und bedrückt, und mithilfe des Partogramms (Geburtsbericht) beginne ich zu begreifen. Diese Schwangerschaft wird künstlich beendet - mit einem sehr starken Wehenmittel, das dazu dienen soll, dass das Kind möglichst nicht lebend zur Welt kommt. Die Hebamme rauscht herein, redet nicht viel, untersucht die Frau vaginal und sagt, dass „es“ nicht mehr lange dauere. Sie erklärt, dass das Kind sowieso nicht überlebensfähig sei, da ein Anenzephalus diagnostiziert sei. Das Kind hat keine Schädelknochen. Alle Schülerinnen erleben das: Anweisung – funktionieren – Sprachlosigkeit. Das ist ein Teil der tausend Aufgaben, die wir während unserer Ausbildung bewältigen müssen. Es gibt so viele „emergency room“-Momente, so viel Adrenalinausschüttungen, dass keine Zeit für Tränen bleibt. Und am Ende des dritten Ausbildungsjahres kann ich diese Abgestumpftheit, diese Sprachlosigkeit, diese Distanz der Hebammen verstehen. Damals bin ich selbst so geworden, weil es mein Überleben in dieser unmenschlichen Maschinerie gesichert hat. Wenig später breitet die Hebamme ein steriles Tuch über den Oberschenkeln der Gebärenden aus. Sie beginnt, zwischen den Beinen zu hantieren. Ich soll eine Nierenschale holen. Es fällt kein Wort. Schweigen, leises Stöhnen, Hantieren – ich fühle mich wie eine Aufziehpuppe. Dann legt mir die Hebamme das kleine, dunkelblaue, zarte Wesen in die Nierenschale. Es schnappt nach Luft und bewegt sich ganz sanft. Ich soll die Nierenschale in der Spüle abstellen. Hier reinigen wir unsere Instrumente. Ich funktioniere, abgeschnitten von mir selbst, Roboter, nicht verstehend, voller Angst, etwas falsch zu machen in diesem mir unbegreiflichen Prozedere, in das ich vor etwa drei Stunden hineingeworfen wurde. Ich wasche die Frau, bette sie neu und über allem liegt eine Decke des Schweigens. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nicht einmal, was hier gerade passiert ist. Die Hebamme signalisiert mir weiterhin keine Gesprächsbereitschaft. Später gehe ich noch einmal an die Spüle. Das Kind ist inzwischen in der kalten Nierenschale unter Neonlicht ganz alleine gestorben. Und ich bin ein Teil von diesem unwürdigen Tod! Die fehlende Schädeldecke schockt mich nicht. Dieses Wesen sieht einzigartig aus. Ich betrachte es lange. – Dann bekomme ich die Anweisung, die Nierenschale in den Kühlschrank zu stellen – für die Pathologie. Foto: © Daniel Rennen Seit meinem Examen 1990 konnte ich keinen Fuß mehr in die Universitätsklinik setzen und habe seit dem keine Nalador-Einleitungen mehr betreut – ich kann es nicht mehr. Wie wunderbar es sich anfühlt, als Hebamme zu arbeiten, das habe ich erst nach meinem Examen gespürt und erlebe es immer noch. „Spätabtreibungen sind eine besonders grausame Abtreibungsart. Die Opfer sind außerhalb des Mutterleibes bereits lebensfähige Kinder. Da wird uns vollends klar, dass bei jeder Abtreibung tatsächlich ein Mensch stirbt, dass jeder Mensch, wenn auch noch so winzig, ganz Mensch ist von Anfang an!“ Johanna Gräfin von Westphalen Dieses Werte-Magazin ist Teil eines gemeinnützigen Projekts. Wenn Sie die Vermittlung dieser Inhalte unterstützenswert halten, sind wir über Spenden sehr dankbar. Zukunft Europa e.V. Konto-Nr. 490 155 68, BLZ 610 50000, KSK GP. SWIFT: GOPS DE 6G IBAN: DE26 6105 0000 0049 0155 68 Z für Zukunft 29
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