CIMA 54.pdf
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Der ‘Filocolo’<br />
Der gräzisierende Titel wird im allgemeinen mit einem Fehler erklärt: Boccaccio habe sich<br />
beim zweiten Bestandteil des Worts verlesen und -colo statt -pono verstanden. Ein<br />
venezianischer Druck des Jahres 1527 korrigiert auch tatsächlich den Titel in diesem Sinne.<br />
Er bedeutet, wie vom Protagonisten am Ende des dritten Buchs selbst erläutert wird,<br />
„Liebesmühe―, also wohl als „den sich verzweifelt abmühenden Liebenden― zu verstehen.<br />
Florio wählt selbst diesen Namen unmittelbar vor den sich dramatisch zuspitzenden<br />
Ereignissen, und erst gegen Ende des Werks wird er wieder mit seinem eigentlichen Namen<br />
bezeichnet. Es heißt dort:<br />
„Filocolo è da due greci nomi composto, da 'philos' e da 'colon': e 'philos in greco<br />
tanto viene a dire in nostra lingua quanto 'amore' e 'colon' in greco similmente<br />
tanto in nostra lingua risulta quanto 'fatica': onde congiunti insieme, si può dire,<br />
trasponendo le parti, ‘fatica d'amore’.― (III,75)<br />
Was Boccaccios Vorlage oder Vorlagen waren, ist noch weitgehend ungeklärt. Es scheint<br />
sich jedoch um eine recht freie Bearbeitung oder Nacherzählung zu handeln, für die er<br />
möglicherweise auch eine toskanische Bearbeitung in Ottavarima benutzt hat. Man geht<br />
dazu von einer verlorengegangenen franko-italienischen Fassung der ‘version populaire’ aus,<br />
sowie von mündlicher Überlieferung. Es ist jedoch mehr als naheliegend, betrachtet man<br />
Boccaccios Kenntnis der französischen höfischen Literatur, daß ihm auch die<br />
Originalfassung in der Bibliothek zu Neapel zur Verfügung gestanden hat, vielleicht sogar<br />
auch die ‘version aristocratique’.<br />
Die Kritik hat sich bis heute wenig Mühe um den ‘Filocolo’ gegeben. Man hält ihn für<br />
geschwätzig, weitschweifig, ohne straffe Komposition, unterstellt Boccaccio, seine<br />
beachtlichen Kenntnisse der griechischen und römischen Literatur und der höfischchristlichen<br />
Traditionen als Lesefrüchte wahllos über das Werk gestreut zu haben. Am<br />
stärksten wiegt das Verdikt, sich noch nicht, anders als im fast gleichzeitig entstandenen<br />
‘Filostrato’, vom mittelalterlichen Menschenbild losgelöst zu haben. Der Mensch sei hier<br />
noch nicht das nur seinen eigenen Empfindungen und dem eigenen Willen unterworfene<br />
Individuum, sondern noch immer der Willkür der Götter unterstellt. Dieses Urteil müßte<br />
wohl bei einer Untersuchung seines hier schon zentralen fortuna-Begriffs revidiert werden,<br />
doch ist es unbestreitbar, daß, anders als beim ‘Decamerone’, ein neuzeitlicher Leser nur<br />
schwer Gefallen an diesem Werk finden kann.<br />
Boccaccios eigenwillige Konstruktion wird nicht nur an seiner metaphernreichen Sprache,<br />
seiner gewiß den Publikumswünschen entgegenkommenden Fabulierlust, seinen zahlreichen<br />
klassischen und modernen literarischen Anleihen und seiner besonderen Akzentuierung der<br />
Geschichte erkennbar, sondern auch in einem durchaus innovativen Versuch der<br />
Psychologisierung seiner Helden. Wollte man diesem Werk gerecht werden, sollte man nicht<br />
nur die Distanz oder, seltener, Nähe zum ‘Decamerone’ benennen, sondern den ‘Filocolo’