CIMA 54.pdf
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Die Traumvisionen haben auf dieser Ebene des Bildgeschehens die Aufgabe, die<br />
Entscheidungen der handelnden Personen „sichtbar― zu lenken und ihre Erkenntnis und<br />
Einsicht für die Wirkung ihres Tuns und Lassens zu fördern, indem sie von göttlichen<br />
Mächten (la diuina potentia Bl. 12 vb ) – sei es des hl. Jacobus, Venus oder des Christengottes<br />
selbst – inspirierte Botschaften vermitteln. Die Szenen der Traumvisionen sind Sinnbilder<br />
der intellektuellen Antriebskräfte und Tugenden der Handelnden und haben die Funktion<br />
von warnenden oder ermutigenden Prophezeiungen. (Bild Nr. 5, 33, 58, 101, 117, 138, 145,<br />
184, 202, 205). Auffallend ist vor allem Biancifiores Traumvision von der Weltherrschaft<br />
(Bild Nr. 184), die Florios Vision fortführt, die gewissermaßen das Fundament bildete (Bild<br />
Nr. 145).<br />
Für die Interpretation dieser Bilder mit Göttergestalten im Strahlenkranz oder mit Flügeln<br />
ausgestattet und den Traumerscheinungen als Darstellung metaphysischer Mächte wäre es<br />
notwendig, die Beziehung zwischen Text und Bild sorgfältig zu untersuchen. Dabei wäre<br />
überhaupt die Verwendung abstrakter Begriffe im Text zu beachten, vorzüglich der zentrale<br />
Begriff der anima, und deren bildliche Umsetzung. Gegenstand der Geschichte um die<br />
beiden jugendlichen Liebenden Florio und Biancifiore ist nach der Angabe im Prolog die<br />
Erinnerung an die Unbeirrbarkeit, Beständigkeit und Kraft ihrer Seelen la memoria delli<br />
amorosi giouani pensando alla grande constantia de loro animi ... (Bl. 2 va ). Wenn Florio seine geliebte<br />
Biancifiore anspricht Oime dolce anima mia (Bl. 30 vb , 31 va ), so sollte dies nicht im modernen<br />
Sinn als leere Floskel betrachtet werden. Die Liebesgeschichte mit allen Irrwegen und der<br />
beständigen Suche nach dem vollkommenen Glück und dem ewigen Heil der Seele und im<br />
nie aufhörenden Kampf darum – nach dem Schema der Liebes- und Aventiurenromane<br />
konstruiert – könnte insgesamt Sinnbild des höfischen Menschen sein und seiner<br />
Seelenreise zum ewigen Leben nach den Grundsätzen des christlichen Glaubens. 27<br />
In zyklischer Form ins Bild gesetzt werden sowohl die narrative als auch die allegorische<br />
Ebene des Geschehens. Die Bilder mit mythologischen Gestalten ebenso wie die<br />
Traumvisionen inszenieren abstrakte und metaphysische Kräfte als personifizierte<br />
Handlungsmotive, deren lebendige Sinn-Bilder für Tapferkeit und Mut und Liebe sie sind,<br />
und sie sind gleichzeitig im Verborgenen Abbild göttlichen Wesens und Wirkens. Die<br />
Bildkomposition ermöglicht den simultanen Ausdruck realer und irrealer, konkreter und<br />
abstrakter Vorgänge, die im Text nacheinander und umständlicher erzählt werden. Auch die<br />
symbolische Bedeutung einzelner Bildelemente ist zu bedenken. In der christlichen<br />
Ikonographie ist zum Beispiel die Schiffsreise mit Sturm und Schiffbruch ein Sinnbild für<br />
einen Teil der Lebensreise (Bild Nr. 129), und das Schiff symbolisiert im christlichen<br />
Kontext die Kirche, eine Deutung, die sicher eine Rolle spielt für das Bild, das Philocolos<br />
Traumvision darstellt (Bild Nr. 145). Auch Tiere in verschiedenen Darstellungsformen, wie<br />
der bei der Jagd verwundete Hirsch (Bild Nr. 9), der Adler als Florios Helmzier (Bild Nr.<br />
61ff.), oder die Greifen-, Löwen-, Adler- und Lamm-Skulpturen in Biancifiores Vision der<br />
Weltherrschaft (Bild Nr. 184) verweisen auf die symbolhafte Erzählebene der Bilder.<br />
Während der Text die Handlung in einer weit zurückliegenden Zeit ansiedelt,<br />
vergegenwärtigt der Bilderzyklus die handelnden Figuren für den Betrachter, indem sie in