Die <strong>Sono</strong>-liste Sie meinen, Musiker über 50 hätten in Rock und Jazz nichts Neues mehr zu sagen? Hier sind ein Dutzend Gegenbeweise. Von Hans-Jürgen Schaal Illustration: Fornfest 20
1. Adrian Belew „Side One“ In den 80ern kannte man von dem Mann aus Kentucky vor allem exquisite Gastauftritte, bizarre Gitarrensounds und schräge Songs über Nashörner. Manches Skurrile brachte er in die Band King Crimson ein, aber er hat sich umgekehrt von dort auch einiges geholt: verzwickte Gitarrenstrukturen, massive Soundwände, einen dröhnenden Rockbeat. Mit dem Soloalbum von 2004 – da war er 54 – hievte sich Adrian Belew auf ein neues Niveau. (Sanctuary) 2. Ry Cooder „Chávez Ravine“ Ob Blues, TexMex oder Country: Der Kalifornier war immer ein kreativer Roots-Verwerter und Weltmusik-Pionier. Sein größter Erfolg kam 1997 mit „Buena Vista Social Club“, wozu Cooder musikalisch allerdings wenig beitrug. Wesentlich origineller verfuhr er 2006 – nun 59-jährig – beim atmosphärischen Porträt eines ehemaligen Latino-Viertels in L.A. namens Chávez Ravine: eine mutig verfremdete Hör- Baustelle aus Mambo, Mariachi, Blues und Jazz. (Nonesuch) 4. Deborah Harry (Blondie) „The Curse Of Blondie“ Nicht nur sind frühe Songs der New-Wave-Band ins Jazz-Repertoire eingegangen, Sängerin Harry selbst hat zwischendurch als Jazzvokalistin und Schauspielerin geglänzt. Das hört man ihrer Stimme an, ohne dass sie das Burschikose oder Sirenenhafte verloren hätte. Auf dem zweiten Studioalbum (2003) ihrer wiedergeborenen Band finden sich neue Attitüden, elektronische Beimischungen, überraschende Tonfälle. Das hat nichts mehr von Retro. (Epic) 5. Dave Holland „What Goes Around“ Miles Davis holte den Engländer einst nach Amerika, weil er auch E-Bass spielen konnte wie ein Rockmusiker. Einige Jahre später war Holland eine lebende Jazzbass-Legende und ein echter New Yorker. Mit 57 Jahren – 2002 – kam er auf die Idee, die verschränkten Linien seiner Quintettmusik ins totgesagte Bigband-Format zu übersetzen – und schuf damit eine völlig neue Ästhetik des Jazz-Orchesters. Das Album brachte ihm seinen ersten Grammy. (ECM) 7. Joe Jackson „Rain“ Mal Rock, mal Jazz, mal Klassik: Es ist schwer, all den stilistischen Kehrtwendungen zu folgen, die der maßlos talentierte, aber völlig unberechenbare Brite im Lauf seiner Karriere hingelegt hat. Auch 2008 – mit 54 Jahren – war der Wahl-Berliner noch lange nicht an seinem Ziel angekommen, aber wieder einmal um eine Station weiter. Eigenwillig beispiellose Songs zwischen den Genres, nur von Klavier, Bass und Drums begleitet. (Warner) 8. Rolf Kühn „Rollercoaster“ Mit 25 Jahren der „beste Jazzklarinettist Europas“, dann eine Bigband-Karriere in den USA, Pionier des europäischen Freejazz und Jazzrock, Orchesterleiter, Filmkomponist ... Schon vor langer Zeit hätte sich Rolf Kühn zurücklehnen und auf seinen Lorbeeren ausruhen können. Stattdessen gründet er mit 79 (!) Jahren ein junges, freches Berliner Jazzquartett und macht die aufregendste Musik seines Lebens. Erstes Stück auf dem Album: „What A F ... Day“. (Jazzwerkstatt) 10. Gary Moore „Close As You Get“ Bei bekannten Bands war er immer nur kurzzeitig engagiert, dafür kreuzte er bei allen möglichen All-Star-, Konzept- und Kollegenprojekten als Gaststar auf. Der Rockgitarren-Virtuose aus Nordirland wurde zu seiner eigenen Marke: Mehr als 25 Soloalben hat er gemacht und zum Schluss alles auf die zwölftaktige Form reduziert, den Blues. Denn es kam auf das Wie an, nicht das Was: Die Gitarre war der Star – je später, desto mehr. (Eagle Rock) 11. Robert Plant „Mighty Rearranger“ Irgendwie steckte alles schon damals bei Led Zeppelin drin, aber erst im neuen Jahrtausend lässt er es richtig heraus. Der Mann mit der heiseren Stimme, dessen „Stairway To Heaven“ nicht totzukriegen ist, hat sich zum Dompteur der Weltmusiken gewandelt, kreuzt afrikanische Trommeln mit Rockriffs, orientalische Streichermusik mit Bluesformen, Folk-Gitarren mit jazzy Rhythmen. Dagegen wirken Jimmy Pages Hardrock-Wiederholungen senil. (Sanctuary) 3. Steve Hackett „To Watch The Storms“ Schon bei den frühen Genesis (1971–1977) wirkte der Londoner seltsam intellektuell und eigenbrötlerisch, völlig versunken in seine Gitarre, die er grundsätzlich im Sitzen spielte. Bald nach seinem Ausscheiden startete er eine Solokarriere und scheint über die Jahre immer weiter zu wachsen: Das Album von 2003 war das etwa 18. Solowerk des damals 53-Jährigen. Hypnotische Melodien, verwirrende Gitarrenkunst, Ergreifendes zwischen Melancholie und Abgrund. (Camino) 6. Annette Humpe (Ich + Ich) „Vom selben Stern“ Ihre coolen Erfolge mit der NDW- Band Ideal („Berlin“, „Blaue Augen“) schienen einst ein kurzlebiges Modephänomen. Doch 2004 überarbeitete Annette (früher: Anete) Humpe mit dem fast 30 Jahre jüngeren Sänger Adel Tawil ihr Rezept für deutschsprachigen Pop – und erstürmte 2007 mit dem zweiten Album von Ich + Ich die Charts. Auch für Max Raabe schreibt sie schlaue Songs für die Ewigkeit. (Universal) 9. Joni Mitchell „Shine“ Mit 60 Jahren wollte sich die Grandma der Singer/Songwriter-Szene eigentlich für immer von der Musik verabschieden. Aber es kam anders: 2007 veröffentlichte Joni Mitchell dieses Album mit neuen Songs, frisch erschüttert von der „Dummheit unserer Spezies“. Ja, sie hat immer noch etwas zu sagen – auch in der Art, wie sie es sagt. Nach Jazz-Experimenten und Orchesteraufwand genügen ihr jetzt ein paar billige digitale Sounds zur Begleitung des Wesentlichen. (Hear Music) 12. Tom Waits „Real Gone“ Der ehemalige Folksänger aus Kalifornien hat sich in jedem Jahrzehnt immer wieder neu erfunden – immer verstörender, immer radikaler. Auf diesem sehr politischen Album aus dem Jahr 2004 – mit 54 Jahren – klang er manchmal, als wuchtete er mit den eigenen Händen diese massiven Soundwände über den Asphalt und müsste sich mit der Stimme selbst dabei anfeuern. Ein letzter Gerechter gegen den Lärm der Welt: Sinnfälliger als hier hat Tom Waits das niemals vorgeführt. (Anti) 21