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Dr. Matthias Burchardt, Bildungsphilosoph, Universität zu Köln <strong>LEUCHTTURM</strong> Bildungsreform und Verwertungsdruck Pisa, VERA, McKinsey und die Demokratie. Ein Abend mit Matthias Buchardt Dr. Josef Kaufhold Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um den Bestand der Demokratie. Dabei handelt es sich noch nicht einmal um das berühmte Gespenst, das herumgeht in Europa. Nein. Die Bedrohung ist mit den Händen zu fassen, sie ist klar und offen erkennbar und doch nicht dingfest zu machen. Sie kommt nicht aus dem Umfeld linker Sektierer, rechter Gewalttäter oder religiös Verblendeter. Mitnichten. Diese Gruppierungen, obwohl sie ernst genommen werden müssen, sind es nicht. Es gibt auch diese Gefahr. Unbestritten. Doch ihr Potenzial, ihr Wirkungsvermögen ist (bislang) so gering, dass von einer Gefährdung der Demokratie nicht die Rede sein kann. Die Rede ist von so genannten „Kommerzialisierung öffentlicher Leistungen“ (Crouch, C., 2008, S. 101 ff) oder dem „New Public Management“ (Münch, R.: 2009 S. 18 ff). Begriffe, werden jetzt viele denken, mehr nicht. Klar. Es hat in den letzten Jahren eine Flut von Begriffen gegeben – Exzellenz, Kompetenz, Qualitätssicherung, Zielvereinbarung, SMART-Formulierung und, und, und ... Begriffe, die darauf hinweisen, dass ein neues Denken Einzug gehalten hat - zum Wohle unserer Bildung, unserer Gesellschaft, unseres Staates und Europas und überhaupt. Angeblich. Die Veränderung ist deutlich spürbar. Sie hat Folgen und sie wirkt in alle Bereiche, auch und gerade in die Angelegenheiten von Erziehung und Bildung. Es ist ein System entstanden, das eingreift, Setzungen vornimmt, Bedingungen schafft - ohne die Legitimation demokra- tischer Prozesse. Gut. Zweifel sind angebracht, dass das überhaupt geht. Wir haben eine wehrhafte Demokratie, heißt es, die sich zu schützen weiß. Aber – wer fragt nach, ob sie das überhaupt will? Eine harte, geradezu unglaubliche Geschichte. Immerhin kamen im April dieses Jahres über vierzig Pädagoginnen, Pädagogen und Interessierte im Pelzerhaus in Emden zusammen, um sich über „Kinder und Jugendliche als Spielball der Wirtschaft. Die Bildungsreform an Kitas, Schule, und Hochschulen unter Verwertungsdruck“ durch Dr. Matthias Burchardt, Humanwissenschaftliche Fakultät der Universität Köln, informieren zu lassen. Ein eigentlich zu dröger Titel, um einen interessanten Abend zu erwarten. Doch schnell war klar, dass der Verwertungsdruck, der in allen Bereichen von Bildung und Erziehung seit einigen Jahren spürbar ist, Bestandteil des oben geschilderten System ist. Kritische Wissenschaftlicher, so stellte es der Referent dar, beschäftigen sich seit längerer Zeit mit einer Analyse der Ursachen und Wirkungen. Fest- 12 gestellt werden kann, dass demokratische Grundsätze aus angeblich gesicherten Gründen über Bord geworfen werden. Die Gesellschaft, so beschreibt es der britische Politikwissenschaftlicher Colin Crouch, gerät in eine Phase der „Postdemokratie“ (Crouch, C.: 2008), eine Phase des Verlustes an Mitwirkung, Mitsprache und Mehrheitenbildung. Natürlich hat die Demokratie Sicherungsmechanismen. Doch die waren und sind, das hat die Entwicklung der letzten Zeit gezeigt, leicht zu umgehen. Es genügt die Behauptung, dass die demokratisch gewählten Verantwortlichen, der Staat und sein öffentlicher Dienst nicht in der Lage sind, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Weiter wird behauptet: Effektiver, sparsamer, an den Zielen Europas und sogar der Welt orientiert, können es nur Wirtschaftseinrichtungen, die Beratungsfunktionen übernehmen, Entscheidungen vorbereiten und Rahmen setzen. Ein in unserer Geschichte einmaliger Vorgang. Tatsache. Politische Gremien lassen sich den Prozess der Entscheidungsfindung abnehmen, ohne kriti- Dr. Matthias Burchardt,am 18.04.12 im Pelzerhaus in Emden
13 <strong>LEUCHTTURM</strong> nichts ist notwendiger als das. Es heißt, kritische Stimmen nachzulesen. Unter diesem Aspekt wurde die Gesellschaft für Bildung und Wissen gegründet (http://bildung-wissen.eu/). Und es heißt zuhören und nachfragen! Jede gewerkschaftliche Regionaleinrichtung sollte die Möglichkeit schaffen. Ein Abend mit Matthias Buchardt lohnt sich – im Interesse unserer Demokratie! Literatur: sches Hinterfragen und grundlegende Information. Noch nicht einmal die Legitimation der vorgetragenen Entscheidungen wird geprüft. Wer beweist, dass die Messinstrumente PISA, VERA und Co Sinn machen, dass die Ergebnisse gesichert sind? Wer belegt, dass die Exzellenz- und Qualitätsstrategien zu real messbaren Verbesserungen führen? Wer erhebt die Meinungen zu den Veränderungen im Bildungsbereich – in Elternvertretungen, Gesamtkonferenzen, Personalvertretungen und, und, und? Kein kritisches Hinterfragen? Selten, weil meist keine Zeit. Am Besten, so die Strategie, gelingt ein Umsetzen von „Reformen“ unter Zeitdruck. Jetzt sofort, es muss reagiert werden, ohne Verzug, Verluste vermeiden, zügig voran, Gefahren abwehren, weil, weil, weil ... Eine „Schockstrategie“, wie es die Bestseller-Autorin Naomi Klein (Klein, N.: 2009) an Beispielen belegt, die selbstverständliche Kontrollmechanismen einer Demokratie absolut außer Funktion setzt, sehr zum Nachteil aller. Und die Politik – machtlos? Fast. Fühlen sich Politikerinnen und Politiker übergangen, dann reagieren sie empfindlich. Warnungen gibt es, eindringliche Stimmen – zwei davon: Gerhard Baum warnt vor dem Verlust von Grundrechten (Baum, G.: 2007), Hildegard Hamm-Brücher benennt Verluste in den demokratischen Prozessen (Hamm-Brücher, H.: 2006). Weitere Beispiele lassen sich benennen. Dennoch. Spürbar reagiert kaum eine Partei, ein Gremium, eine Institution - und es entsteht der Eindruck, dass das offensichtlich auch gar nicht gewollt ist. Der Eindruck kommt nicht von ungefähr. Die wirtschaftlichen Berater haben für jeden Fall des Widerstandes durch die Politik ihre Lösungen parat. Die „Kunst des Reformierens“ und ihre konzeptionellen „Überlegungen zu einer erfolgreichen Regierungsstrategie“ (Rüb, W., Alnor, K.; Spohr, F.: 2009), veröffentlicht durch die Bertelsmann Stiftung, sind sogar ganz offen im Internet nachlesbar. Die Bertelsmann Stiftung berät, versorgt mit Materialien und gestaltet – die Politik, den Öffentlichen Dienst, ja sogar die Kirchen. Matthias Burchardt machte nachdrücklich klar: Die Bertelsmann-Stiftung setzt alles in die Ökonomisierung der Gesellschaft. Gegenwirken können Gewerkschaften und Politische Institutionen nur, wenn die Menschen, die darin wirken, sich informieren. Und Baum, Gerhart: Rettet die Grundrechte. Bürgerfreiheit contra Sicherheitswahn. Kiepenheuer & Witsch, 2009 Crouch, Colin: Postdemokratie. Edition Suhrkamp, 2008 Hamm-Brücher, Hildegard: In guter Verfassung? Über die Demokratie in Deutschland. Beck, 2006 Klein, Naomi: Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus. Fischer Taschenbücher Allgemeine Reihe, 2009 Hervorragende Zusammenfassung unter: http:// de.wikipedia.org/wiki/Die_Schock-Strategie Münch, Richard: Globale Eliten, lokale Autoritäten. Bildung und Wissenschaft unter dem Regime von PISA, McKinsey & Co. Edition Suhrkamp, 2009 Rüb, Friedbert W.; Alnor, Karen und Spohr, Florian: Die Kunst des Reformierens Konzeptionelle Überlegungen zu einer erfolgreichen Regierungsstrategie. Beiträge für eine gestaltungsfähige Politik · 3/2009 Bertelsmann-Stifung pdf-Format unter: http://www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/ xcms_bst_dms_30519_30520_2.pdf Dr. Josef Kaufhold bedankt sich bei Dr. Matthias Burchardt,
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