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MO NR.11|03_PDF VERSION 03.09.2003 12:55 Uhr Seite 20<br />

THEMA<br />

THEMA<br />

dies weniger als Ausdruck eines gestiegenen Demokratieverständnisses<br />

zu werten, sondern vielmehr als ein Zugeständnis an den<br />

Westen. Die Abschaffung des Paragraphen 121.1 war Voraussetzung,<br />

einen Sitz im Europarat zu erlangen. Auch die Zwangspsychiatrisierung<br />

wurde abgeschafft. Die Praxis hat sich seitdem zwar<br />

außerhalb der Metropolen kaum verändert – Lesbisch sein wird<br />

meist weiterhin als Persönlichkeitsstörung diagnostiziert und Zwangseinweisungen<br />

bleiben an der Tagesordnung – aber immerhin kann<br />

man gegen Missbrauch rechtlich vorgehen.<br />

Die meisten der oben genannten Organisationen bestehen heute<br />

nicht mehr. Erste Zerfallserscheinungen zeigten sich bereits nach<br />

der Abschaffung des § 121.1. Dafür gibt es wohl mehrere Gründe:<br />

Zum einen wurden die Erwartungen vieler Aktivisten und Aktivistinnen<br />

hinsichtlich der Geschwindigkeit des Demokratisierungsprozesses<br />

in Russland enttäuscht. Zum anderen können die meisten<br />

nichtstaatlichen Organisationen in Russland ohne Hilfe aus<br />

dem Ausland nur schwer bestehen. Finanzielle Unterstützung westlicher<br />

Stiftungen ist jedoch an strenge Vorgaben gebunden, die<br />

häufig an der Realität lesbisch-schwulen Lebens vorbeigehen. An<br />

erster Stelle steht für diese nämlich, Treffs zu organisieren. Diese<br />

sind auch deshalb so wichtig, weil viele in Kommunalwohnungen<br />

oder bei den Eltern leben, wo sie gezwungen sind, eine heterosexuelle<br />

Scheinexistenz aufrechtzuerhalten. Bis heute scheint vielen<br />

Lesben und Schwulen das Risiko eines öffentlichen Outings, das<br />

mit politischer Organisierung verbunden ist, zu hoch.<br />

„Warme Brüder“ ins kalte Sibirien?<br />

In Osteuropa ist Homosexualität immer noch ein Tabu<br />

Nadine Reimer, Studentin, Forschungsarbeiten über Homosexualität in Russland, Universität Bremen<br />

20<br />

Zumindest in St. Petersburg und Moskau können sich Lesben<br />

und Schwule, die auch Rosane (rozavye) und Himmelblaue (golubye)<br />

genannt werden, seit Mitte der 90er Jahre in eigenen<br />

Clubs und Cafes treffen. Längst kennen diese Treffpunkte nicht<br />

nur „Insider“, auch viele junge Heterosexuelle finden diese Clubs<br />

mittlerweile chic. Goldene Zeiten also für Lesben und Schwule<br />

in Russland?<br />

Mitnichten, aber die Situation hat sich seit 1993 verbessert. In<br />

diesem Jahr wurde der Strafrechtsartikel 121.1 („Mannlager“) abgeschafft,<br />

der in den dreißiger Jahren unter Stalin eingeführt worden<br />

war. Homosexualität konnte bis dahin mit bis zu fünf Jahren<br />

Lagerhaft bestraft werden. Dort mussten die Männer unter schwersten<br />

Repressionen leiden. Lesben waren zwar nicht Gegenstand<br />

des Strafgesetzbuches, mussten aber Zwangspsychiatrisierung<br />

befürchten. Diagnostiziert wurden bei ihnen Schizophrenie und<br />

ähnlich schwere psychische Krankheiten. Häufig zog dies auch den<br />

Verlust des Arbeitsplatzes und bei Lesben mit Kindern den Entzug<br />

des Sorgerechts nach sich.<br />

Gesellschaftlich lag lange Zeit über den sowjetischen Lesben und<br />

Schwulen ein Mantel des Schweigens. Sie existierten schlichtweg<br />

nicht in der Öffentlichkeit. Erst durch den unter Gorbačev (1985–<br />

1991) eingeleiteten Demokratisierungsprozess konnte das gesellschaftliche<br />

Tabu „Homosexualität“ gebrochen werden.<br />

Seit Anfang der 90er Jahre häufen sich die Artikel über Lesben und<br />

Schwule in den russischen Massenmedien. Zwar waren und sind die<br />

<strong>MitOst</strong> Nr. 11| Mai 2003<br />

Foto: Sören Urbansky<br />

Rosarot und Himmelblau:<br />

Lesben und Schwule in Russland<br />

Inga Karbstein, Magister Osteuropa-Studien, Politikwissenschaften und Soziologie, Berlin<br />

meisten Berichte sensationslüstern und dienen wohl eher der Auflagensteigerung<br />

als der Aufklärung. Trotzdem kann das Aufbrechen des jahrzehntelangen<br />

Schweigens nicht hoch genug eingeschätzt werden.<br />

Neben reißerischen Artikeln über behaarte Mannweiber, kreischende<br />

Tunten und pädophile Schwule gibt es auch Berichte von Lesben und<br />

Schwulen, die ihre Stigmatisierung und gesellschaftliche Isolierung beschreiben.<br />

Doch auch wenn die Diskussion oft in homophoben Klischees<br />

verhaftet bleibt, wird zumindest über Homosexualität gesprochen.<br />

Lesben und Schwule nutzten ihrerseits die durch die Perestrojka<br />

neu gewonnenen politischen Spielräume. Bereits im Jahr 1989<br />

gründete die Dissidentin Evgenija Debranskaja zusammen mit Roman<br />

Kalinin die Moskauer Assoziation für sexuelle Minderheiten. In<br />

den darauffolgenden Jahren formierten sich unterschiedliche<br />

Gruppierungen, die sich für die Rechte von sexuellen Minderheiten<br />

einsetzten. MOLLI (Moskauer Bündnis für lesbische Literatur und<br />

Kunst) wurde 1991 ins Leben gerufen. Im Jahr darauf wurde die<br />

ArgoRiskVereinigung (Vereinigung für gleiche Rechte von Homosexuellen)<br />

in Moskau offiziell registriert. Später nahm ein schwul-lesbisches<br />

Archiv seine Arbeit auf, das auch von Journalisten und Wissenschaftlern<br />

genutzt wird. In Petersburg gründeten sich der<br />

Caikovskij-Fond, Kryl’ja sowie der Club der unabhängigen Frauen,<br />

der Lesben in der Provinz miteinander vernetzt. Mitte der 90er<br />

Jahre folgte die Gründung der Lesbenorganisation Labrys, die bis<br />

heute aktiv ist.<br />

Schließlich schaffte die Jelcin-Regierung (1991-1999) Anfang der<br />

neunziger Jahre den Strafrechtsparagraphen 121.1 ab. Allerdings ist<br />

„All the things she said“ – so schallt es derzeit aus allen Radios.<br />

Das Popduo „t.A.T.u.“ sorgt mit ihrem Lolita- und Lesben-Stil<br />

weltweit für Aufsehen. Die Moskowiterinnen geben sich von<br />

Interview zu Interview mal als Paar aus, mal stellen sie dies in<br />

Frage, dann wieder wollen sie normale Familien und Kinder. Die<br />

meisten halten das Auftreten der beiden eher für eine geschickte<br />

Verkaufsstrategie. Aber ob nun homosexuell oder nicht,<br />

entscheidend sind die Reaktionen, die von Entsetzen über<br />

Zensur bis hin zu Verboten reichen. In Großbritannien beispielsweise<br />

wurde die Kuss-Szene der beiden Mädchen aus dem<br />

Video „All the things she said“ herausgeschnitten.<br />

Doch nicht nur die englische Gesellschaft scheint in Bezug auf das<br />

Thema Homosexualität nicht gerade aufgeschlossen. In Russland<br />

versuchten im letzten Jahr einige Duma-Abgeordnete Gesetze<br />

einzubringen, die homosexuelle Handlungen wieder unter Strafe<br />

stellen. Ein ähnliches Gesetz gab es bereits zu sowjetischen Zeiten,<br />

als man Homosexuelle noch nach Sibirien verbannte, ins Gefängnis<br />

oder in die Psychiatrie steckte. Das Vorhaben erfährt durchaus<br />

Rückhalt in der russischen Bevölkerung. Und auch in anderen<br />

Ländern des ehemaligen Ostblocks sind Vorurteile gegen<br />

Homosexuelle allgegenwärtig. So berichtete das Amnesty-<br />

International-Journal vor einigen Monaten in einem Artikel von der<br />

Diskriminierung Schwuler und Lesben in Osteuropa. Bei einem<br />

„Christopher Street Day“ in Belgrad vor zwei Jahren wurde eine<br />

Gruppe Homosexueller von rechten Jugendlichen angegriffen,<br />

weder Polizei noch Passanten griffen ein. In Lettland hatte ein<br />

großes Verlagshaus mit dem Titel „Lettland ohne Homosexualität“<br />

zu einem Literaturwettbewerb aufgerufen, der nicht einmal von der<br />

Menschenrechtskommission des lettischen Parlaments kritisiert<br />

wurde.<br />

Umfragen zeigen, dass rund 90 Prozent der Polen Homosexualität<br />

als etwas Unnatürliches betrachten, in Rumänien wollen 90, in<br />

Litauen 70 Prozent der Befragten nicht in der Nähe von Homosexuellen<br />

wohnen. Mit dem Tabuthema Homosexualität möchte keiner<br />

in Verbindung gebracht werden. Sobald sich jemand damit beschäftigt,<br />

stößt er auf Unverständnis und wird zumeist als Betroffene/r<br />

eingestuft. Viele reagieren mit Schweigen, sind kaum<br />

aufgeklärt über das Thema oder haben keine Meinung dazu.<br />

„t.A.T.u.“ hingegen nutzen dieses Verhalten, indem sie mit diesen<br />

Vorurteilen spielen und provozieren. Im Lied „Ja sošla s uma“ (ich<br />

bin verrückt geworden) heißt es „oni govorjat nado srotšno lečit“<br />

(sie sagen, man müsse mich dringend heilen) und genau so denkt<br />

ein Großteil der russischen Bevölkerung noch immer. Dagegen<br />

anzukämpfen versuchen seit der Perestrojka solche Organisationen<br />

wie der „Caikovskij Fond“ oder „Kryl’ja“ in St. Petersburg. Leider<br />

sind diese Gruppen eine Seltenheit. Zum einen ist die Gründung<br />

solcher Verbände rein rechtlich zwar erlaubt, wird von den<br />

Behörden jedoch auf verschiedene Weisen verhindert. Zum anderen<br />

ist der Wille zur Gründung von Gruppen, die Einzelinteressen<br />

vertreten, in Russland noch immer wenig ausgeprägt. Hinzu kommt,<br />

dass die Gründer oder Vorsitzenden der Organisationen zum Teil<br />

radikale Ansichten vertraten. So forderte der damalige Herausgeber<br />

der homosexuellen Zeitschrift „Tema“, Roman Kalinin, unter<br />

anderem eine Legalisierung von Sex mit Kindern, mit Leichen oder<br />

mit Tieren. Derartige Aussagen bleiben, im Gegensatz zu solchen<br />

der gemäßigteren Vertreter, eher in den Köpfen der Menschen<br />

haften, wodurch ein verzerrtes Bild über Homosexuelle entsteht.<br />

Die Betroffenen selbst zeigen ihre sexuelle Orientierung nur selten<br />

in der Öffentlichkeit. Einerseits ist das berufliche und persönliche<br />

Risiko sehr hoch (Entlassung, Diskriminierung, körperliche und<br />

seelische Angriffe). Zum anderen sehen die meisten es als ihre<br />

Privatsache an, die niemanden etwas angeht. Somit scheint es in<br />

Osteuropa weitaus weniger Homosexuelle zu geben als in anderen<br />

Ländern, was sicher nicht den Tatsachen entspricht.<br />

Vereinzelt versuchen Künstler wie der ukrainische Regisseur Viktjuk<br />

oder der russische Schriftsteller Sorokin solche Tabuthemen anzuschneiden,<br />

erreichen damit jedoch nur einen geringen Teil der<br />

Bevölkerung.<br />

Erschwerend für die Lage der Homosexuellen kommt der Faktor<br />

AIDS hinzu, der in den östlichen Ländern noch immer als die<br />

Krankheit der Schwulen und Lesben gilt. Dieses Vorurteil war auch<br />

das Hauptargument jener Duma-Abgeordneten, die eine Rekriminalisierung<br />

homosexueller Handlungen anstrebten.<br />

Vielleicht erreichen Jugendliche wie „t.A.T.u.“ bei ihrer Generation<br />

eine tolerantere Einstellung zu Homosexuellen, damit<br />

diese in Osteuropa in Zukunft ohne Diskriminierung leben können.

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