02.12.2014 Aufrufe

MitOstmagazin - MitOst e.V.

MitOstmagazin - MitOst e.V.

MitOstmagazin - MitOst e.V.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

MO NR.11|03_PDF VERSION 03.09.2003 12:55 Uhr Seite 26<br />

THEMA<br />

THEMA<br />

Gespräche verlaufen überschäumend, leidenschaftlich und ungebremst.<br />

Man hat manchmal den Eindruck, dass es nicht wichtig ist,<br />

selbst gehört und verstanden zu werden oder dem anderen zu<br />

lauschen. Entscheidend scheint eher zu sein, sich zu präsentieren, als<br />

Teil einer kommunizierenden Runde präsent zu sein. Lautstärke und<br />

Pathos ist alles, erregte gestische Ausgestaltung selbstverständlich;<br />

Inhalt ist sicher auch ganz nett, aber nicht so wesentlich.<br />

Verbotenes und Halbverbotenes<br />

Marc Sagnol, 1996 bis 2000 Direktor des Französischen<br />

Kulturzentrums in Kiew/Ukraine<br />

Ich bin ein großer Anhänger des Ostens und insofern sicherlich<br />

eine Ausnahme in Frankreich, wo man in der Regel wenig über<br />

Mittel- und Osteuropa weiß. Moral- und Wertvorstellungen sind<br />

natürlich etwas anders als bei uns im Westen. Was mir im Osten<br />

gefällt, sind die Beziehungen der Menschen zueinander. Es ist<br />

einfacher, bei einem Bekannten im Vorbeigehen zu klingeln, es<br />

ist leichter, Kontakt mit den Leuten aufzunehmen und die<br />

Beziehungen sind meistens nicht oberflächlich.<br />

Ich habe während meines Studiums ein Jahr in Ost-Berlin vor der<br />

Wende verbracht. Vor 1989 spürte man dort natürlich den starken<br />

Druck von oben, aber dadurch hielten die Menschen mehr zusammen<br />

und es entwickelte sich eine geistige Kultur des Verbotenen<br />

oder des Halbverbotenen, die sehr reizvoll war. Ein Buch von Kafka<br />

oder Anna Achmatowa zu finden, ein Stück von Heiner Müller oder<br />

Bulgakow zu sehen, war immer ein besonderes Erlebnis. Obwohl<br />

man heute alles bekommen kann, ist trotzdem ein höheres Gefühl<br />

für die geistigen Werte geblieben, auch für die klassische Literatur<br />

und Kunst.<br />

Ich habe vier Jahre in der Ukraine gelebt, dort sind die Menschen<br />

besonders freundlich und aufgeschlossen. In der Familie wird eine<br />

kranke Großmutter nicht allein gelassen oder ins Hospiz gebracht.<br />

Dadurch, dass die Menschen ärmer sind als bei uns, entsteht ein<br />

höheres Gefühl der Solidarität und Geld spielt eine weniger große<br />

Rolle. Trotz der schwierigen Lebensumstände, wird einem Gast<br />

immer alles, was zur Verfügung steht, angeboten.<br />

Was die Liebe betrifft, möchte ich hier nur sagen, dass die Frauen<br />

im Osten meist nicht so kompliziert sind wie in Frankreich. Bei den<br />

gebildeten Leuten ist die Emanzipation der Frau genau so weit fortgeschritten<br />

wie im Westen.<br />

Warum ich als Frau lieber im<br />

Westen leben will<br />

Susanne Hausner, 1994/95 Boschlektorin in Poznan/Polen,<br />

derzeit Lektorin an der Aichi University in Toyohashi/Japan<br />

Gemeinsam ist den Ländern Osteuropas oft eine gesellschaftlich<br />

niedrigere Stellung der Frauen im Vergleich zu den Männern. Die<br />

Ungleichbehandlung zeigt sich im Missbrauch der Frauen als<br />

Arbeitskräfte im nur wenig automatisierten Haushalt und meist<br />

schlecht bezahlter und körperlich harter Erwerbsarbeit, eine aus<br />

den sozialistischen Zeiten rührende scheinbare Gleichstellung der<br />

Frau in Männerberufen, die zwar den Frauen den Zugang zur<br />

Berufswelt ermöglichte, doch zu welchem Preis? Hilfe im Haushalt<br />

und bei der Kindererziehung ist von den Männern dort kaum zu<br />

erwarten, gleichzeitig ist das Unverheiratetsein – im Gegensatz zum<br />

Westen – ein gesellschaftlicher Makel. Kein Wunder also, dass viele<br />

Frauen die Ehe als das kleinere Übel betrachten und sich die<br />

Partnersuche einige Mühe kosten lassen. Ist dieses Ziel erreicht, ist<br />

es mit den Anstrengungen oft vorbei, was zum „Matronen- und<br />

Kittelsyndrom“ führen kann.<br />

Warum ist nun das Leben im Westen so viel angenehmer und einfacher<br />

für eine Frau? Es sind sicherlich auch die Männer, die sich<br />

nicht mehr alles erlauben dürfen, ihre Disziplinierung durch die<br />

Strukturen der westlichen, protestantisch geprägten Gesellschaft.<br />

Das Verhältnis zwischen Mann und Frau im Westen ist wohl nicht<br />

nur der Frauenbewegung des 20. Jahrhunderts geschuldet, die in<br />

Osteuropa in dieser Form nicht stattgefunden hat, sondern sicher<br />

auch der Marktwirtschaft, der Aufklärung und den höfischen<br />

Traditionen Europas. Letztere gingen in Osteuropa durch den<br />

Sozialismus zugrunde, der den Gentleman als reaktionär und höfliche<br />

Umgangsformen als bourgeois verachtete.<br />

Westliche Frauen haben in östlichen Ländern einen schweren<br />

Stand, stehen sie doch außerhalb der üblichen Rollenmuster zwischen<br />

den Geschlechtern, quasi als Neutrum, vor allem, wenn sie<br />

nicht verheiratet sind, alleine leben und gut verdienen. Diese<br />

Unabhängigkeit privilegiert sie zwar einerseits, macht sie aber auch<br />

zu Außenseitern in der bestehenden Ordnung, in der die<br />

Geschlechterrollen durch Äußerlichkeiten und Verhalten viel<br />

genauer definiert sind als im Westen.<br />

Haushaltsdebatte<br />

Jörg Kassner, Deutschlehrer in Tbilissi/Georgien<br />

Foto: Sören Urbansky<br />

Die deutsche Sprache kennt grauenhafte Wörter und erfindet<br />

immer noch neue hinzu. Schon länger im Gebrauch ist die<br />

zweifelhafte Formulierung „Gefühlshaushalt“. Sei es nun Trauer<br />

oder Freude, Glück oder Verzweiflung; alle Gefühle, von denen<br />

wir Menschen heimgesucht werden, bilden letztendlich eine<br />

runde Summe. Halten sie sich nicht, wenigstens annähernd, das<br />

Gleichgewicht, so kommen wir emotional ins Straucheln und<br />

sehen uns in Gefahr, entweder vertrocknete Misanthropen,<br />

Serienkiller oder schlimmstenfalls sogar Stammpublikum des<br />

„Musikantenstadel“ zu werden, inklusive des auf dem Gesicht<br />

festgefrorenen Dauergrinsens.<br />

Nun gelten wir Deutschen eher als Leute, die ihre Gefühle auf kleiner<br />

Flamme am Köcheln halten. Man ohrfeigt sich nicht auf offener<br />

Straße, übersteigt nicht zornschnaubend und ein Küchenmesser in<br />

der Hand Nachbars Ligusterhecke, küsst und liebt sich bei ausgeknipster<br />

Deckenbeleuchtung; ja selbst der Gipfel deutschen Frohsinns,<br />

der Kölner Karneval, erinnert weniger an ähnliche Festivitäten<br />

anderenorts als vielmehr an den Kindergeburtstag in der Familie<br />

eines Staatssekretärs im Finanzministerium.<br />

Wie anders die Georgier! Emotionalität ist hier der Treibstoff des<br />

täglichen Lebens. Das geht schon bei der Begrüßung und der Vorliebe<br />

für den Wangenkuss los: Hierzulande wird richtig geschmatzt,<br />

Händeschütteln dagegen gilt als unüblich. An der Intensität einer<br />

georgischen Begrüßung lässt sich, wenigstens für Uneingeweihte,<br />

keinesfalls der Grad der gegenseitigen Wertschätzung ermessen,<br />

man begegnet sich gleichermaßen herzlich, egal, ob man schon vor<br />

zwanzig Jahren gemeinsam Vater-Mutter-Kind gespielt oder sich vor<br />

zwei Tagen zum ersten Mal gesehen hat.<br />

Man kann über schlicht jedes Thema mit Inbrunst sprechen – sei es<br />

darüber, ob Keti gestern in der Oper eine blaue Hose und eine<br />

schwarze Bluse angehabt hat oder sei es über Gottes Wirken im<br />

Lauf der Welt. Schwierig für mich Außenstehenden ist es mitzubekommen,<br />

welche Einstellung die Sprechenden gegenüber Thema<br />

und Gesprächspartner haben – für mich klingt es fast immer so, als<br />

würden gleich die Pistolen gezogen.<br />

Schön finde ich, dass die Georgier wohl kein Volk sind, das nachtragend<br />

ist. Mit welch großem Ungestüm man auch einer Angelegenheit<br />

zugetan sein mag, in der Regel haben sich nach höchstens<br />

drei Tagen die Wogen wieder geglättet. Menschlich vielleicht angenehm,<br />

im Lehreralltag aber mitunter verwirrend, da es keine konsequenten<br />

Strafmaßnahmen gibt, die in einem nachvollziehbaren<br />

Verhältnis zum „Vergehen“ stehen und dann auch durchgesetzt werden.<br />

Der Schüler, der einen wassergefüllten Luftballon durchs<br />

Schulhaus segeln lässt und dabei das Pech hat, einen Lehrer zu treffen,<br />

wird erst mal standesrechtlich der Schule verwiesen und als<br />

Psychopath gebrandmarkt. Eine Woche später ist er wieder da und<br />

kann üben, vorsichtiger zu werfen.<br />

Verblüffend ist für mich, dass Themen, die wiederum in Deutschland<br />

mit dem uns zur Verfügung stehenden Maß an Leidenschaft<br />

debattiert werden, hier keinen hinterm Ofen hervor locken.<br />

Während in Berlin eine gute halbe Million Menschen gegen den drohenden<br />

Irak-Krieg protestierte, ging das an Georgien vorbei, so, als<br />

würde sich das Geschehen irgendwo weit jenseits des Andromedanebels<br />

zutragen.<br />

Frühstück im Kaukasus<br />

Kultur-, Abenteuer und Trekkingreisen<br />

www.kaukasus-reisen.de<br />

Frühstück im Kaukasus<br />

Kultur-, Abenteuer- und Trekkingreisen<br />

www.kaukasus-reisen.de<br />

Anzeige<br />

(Der Artikel erschien in der „Kaukasischen Post“, einer deutschsprachigen<br />

Zeitung in Tbilissi)<br />

26<br />

<strong>MitOst</strong> Nr. 11| Mai 2003<br />

<strong>MitOst</strong> Nr. 11| Mai 2003<br />

27

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!