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MO NR.11|03_PDF VERSION 03.09.2003 12:55 Uhr Seite 24<br />
THEMA<br />
FEUILLETON<br />
CONTRA SPEM SPERO –<br />
Porträts ukrainischer Frauen<br />
In den ersten Märztagen des Jahres 2003<br />
trafen sich in Lviv/Ukraine 22 junge Frauen<br />
aus mehreren ukrainischen Städten und drei<br />
Boschlektorinnen, um sich eine Woche lang<br />
mit dem Thema „Frauen in der Ukraine“ zu beschäftigen.<br />
Ziel war es, ins Gespräch zu kommen<br />
– sowohl untereinander als auch mit<br />
Lviver Frauen, mit denen wir Interviews<br />
führten, um in Porträts ihre Lebenswirklichkeit<br />
in der heutigen Ukraine zu beschreiben. Es ist<br />
ein Buch entstanden: In diesem Land, wo in<br />
den letzten Jahren alte Denkmäler gegen neue,<br />
alte Helden gegen neue Helden eingetauscht<br />
wurden, haben wir die Heldinnen des Alltags<br />
zu Wort kommen lassen.<br />
Vielleicht ist es eine Besonderheit der Ukraine, dass man jede Frau,<br />
die einem zufällig über den Weg läuft, nach ihrer Lebensgeschichte<br />
fragen kann und immer interessante Biografien, Begebenheiten, oft<br />
aber auch Tragödien erfährt. Jede Lebensgeschichte ist es wert,<br />
niedergeschrieben und weitererzählt zu werden. Unser Buch reicht<br />
von Lebensläufen, die man so auch in Westeuropa finden könnte,<br />
über Biographien von Frauen, die irgendwie mit dem Leben in der<br />
heutigen Ukraine zurechtkommen und mit ungeheurer Kraft und<br />
Optimismus den Alltag meistern, bis hin zu Frauen, deren<br />
Schicksale es nicht geben dürfte. Jede der porträtierten Frauen hat<br />
in dem Land, in dem noch immer keine Normalität herrscht, doch<br />
ihre eigene gefunden, finden müssen, und auch ein bisschen Glück<br />
– ein Glück, das wir oft nicht verstehen, weil es sich im Überleben<br />
erfüllt.<br />
Die Geschichte jeder Frau spiegelt zugleich auch einen Teil der<br />
Manja Posselt,<br />
Boschlektorin in Lviv und Regionalkoordinatorin für die Ukraine<br />
Fotos: Kamila Mieszczak<br />
ukrainischen Gesellschaft wider. Oxana, 28jährige Marketing-Dozentin,<br />
schafft sich eine philosophisch-literarische Rückzugswelt,<br />
um Kraft für den täglichen Kampf in ihrer von Männern<br />
dominierten Welt zu finden. Die 1927 geborene Lubov hat ein<br />
beschwerliches Leben, das eng mit der Geschichte ihres Landes<br />
verwoben ist, hinter sich – als 16jährige wurde sie Mitglied der<br />
ukrainischen Widerstandsarmee UPA, 1946 dafür verurteilt, verbrachte<br />
sie zehn Jahre im Arbeitslager in Kasachstan und widmete<br />
die darauffolgenden Jahrzehnte der Pflege von Behinderten und<br />
Alkoholikern. Die Prostituierte Lisa, 19 Jahre alt, erzählt von ihrem<br />
Weg zu diesem Beruf, den ständigen Gefahren, ihrem Verhältnis zu<br />
Kolleginnen, ihren Hoffnungen und Träumen. Laryssa hängt als<br />
Politikerin und Schriftstellerin ebenso in den ukrainischen dynastischen<br />
Netzen von Abhängigkeiten und Gefälligkeiten wie ihre<br />
männlichen Kollegen und inszeniert sich selbst als moderne, patriotische<br />
Ukrainerin. Die 47jährige Halyna ist ein Beispiel dafür, dass<br />
oft gerade Akademikerinnen in der Ukraine nichts bleibt als der<br />
Handel mit Waren über die Grenze nach Polen und die Arbeit als<br />
Marktfrauen, um ihre Familie ernähren zu können. Natalja ist 19<br />
Jahre alt und Jura-Studentin, ihre Berichte vom Studium legen das<br />
von Korruption durchdrungene Hochschulsystem offen. Lidja, 35<br />
Jahre alt, Gattin eines Geschäftsmannes, Hausfrau und Mutter<br />
dreier Kinder, glücklich im goldenen Käfig, verkörpert exemplarisch<br />
die weibliche Hälfte der „neuen Ukrainer“. Lessja kennt als<br />
Galeristin und Künstler-„Mutter“ die Lviver Szene und weiß aus<br />
eigener Erfahrung, dass die Kunst ein Feld ist, in dem es Frauen<br />
besonders schwer haben. Erschreckend sind Irynas Berichte über<br />
die Zustände des ukrainischen Gesundheitswesens, den Umgang<br />
mit Schwangerschaftsabbruch und Verhütung. Oxana ist 47 Jahre<br />
alt und Ökologin. Sie klärt über die Spätfolgen von Tschernobyl auf,<br />
die in der Ukraine genauso verschwiegen werden wie neuere<br />
Umweltkatastrophen. Das tragischste Schicksal hat Olena, 28. Sie<br />
wurde von ihrem eigenen Mann ins Ausland gelockt und verkauft.<br />
Nach fünf Jahren Prostitution in Tschechien und der Schweiz,<br />
gelungener Flucht und Verurteilung wegen Besitzes gefälschter<br />
Dokumente versuchte sie, in der Ukraine wieder ein neues Leben<br />
zu beginnen.<br />
Die Ukrainerinnen wurden von Ukrainerinnen interviewt und<br />
porträtiert. So haben wir einen Zugang zu den Frauen gefunden,<br />
die es jahrzehntelang gewohnt waren, das Private als Flucht- und<br />
Schutzraum abzuschotten und die Öffentlichkeit fernzuhalten.<br />
Durch die drei deutschen Teilnehmerinnen wurde eine Sicht von<br />
außen eingebracht, die zu hinterfragen und Distanz zu wahren half.<br />
In der Ukraine wie auch in anderen osteuropäischen Staaten verstehen<br />
Frauen sich selbst weniger als Individuen, sondern eifern<br />
dem Ideal „Frau“ nach, das sich in der heutigen Ukraine in einer<br />
Mischung aus Traditionen sowie Bildern aus westlichen Zeitschriften<br />
konstituiert. Es drückt sich in strikter Wahrung der Rollen-<br />
Foto: Sören Urbansky<br />
Wir wohnen in einem souveränen, unabhängigen Staat. Stimmt das ?<br />
Das Leben in der Ukraine ist schwer: hohe Preise, winzige Löhne<br />
und Renten. Junge Leute finden oft keine Arbeit. Viele Menschen<br />
haben die Hoffnung auf normale Lebensbedingungen verloren. Ein<br />
Teufelskreis. Die Menschen suchen einen Ausweg und versuchen<br />
die Ukraine zu verlassen. Dazu gibt es mehrere Wege:<br />
Erstens, Arbeit in einem anderen Staat finden. Viele Ukrainer und<br />
Ukrainerinnen gehen nach Italien, Deutschland und in die Türkei.<br />
Ukrainerinnen arbeiten oft als Tellerwäscherinnen, Dienstmädchen<br />
oder Haushälterinnen. Viele Mädchen gehen in die Türkei, um als<br />
Tänzerin zu arbeiten und enden als Prostituierte. Sie wissen oft nicht,<br />
dass dieses Schicksal in einigen Staaten auf sie wartet. Sie suchen<br />
verteilung, Männerfixierung und hohem Stellenwert des Aussehens<br />
aus. Das Abwerfen alter Ideale und Mythen würde sie mit der<br />
Realität konfrontieren, nämlich, dass sie ausgenutzt und missachtet<br />
werden.<br />
In einer Gesellschaft, in der Kommunikation prinzipiell schwierig<br />
ist, vor allem die Kommunikation zwischen Männern und Frauen,<br />
sind Gespräche von Frau zu Frau wie in den Begegnungen dieser<br />
Projektwoche sehr wichtig. Oft waren wir so betroffen und aufgewühlt,<br />
dass wir bis spät in die Nacht diskutierten. Viele der<br />
Teilnehmerinnen wollen weiter dokumentieren, beobachten,<br />
schreiben. Das Buch erscheint im Sommer 2003.<br />
Weitere Informationen: Manja Posselt, mposselt@yahoo.com<br />
Internet: http://home.arcor.de/womenstudies_ukraine<br />
Tendenzen in der Ukraine – Ost oder West?<br />
Iryna Khomenko, Studentin und Bibliothekarin, Kirowograd/Ukraine<br />
ein normales Leben und bekommen die Hölle.<br />
Ein zweiter Weg für junge Frauen, ins Ausland zu gehen, ist, einen<br />
Mann in einem westeuropäischen Land zu finden und ihn zu heiraten.<br />
Es geht hier oft nicht um Liebe – sie suchen ein normales Leben.<br />
Dazu gibt es hier viele Heiratsagenturen, die für viel Geld einen<br />
Mann im Ausland finden helfen. Sind die Männer schon verkauft?<br />
Aber! Noch gibt es Leute, die die Ukraine lieben. Und das ist nicht<br />
nur ein Wort. Sie leben hier und wollen hier leben, sie wollen ihre<br />
Situation verändern. Vielleicht sind sie oft hilfslos, aber sie sind<br />
richtige „Heimatlieber“. Sie sagen : „Wir sollten unser Land demokratisieren.<br />
Wir sollten. Wir tun es, wenn es auch lange dauert. Wir<br />
werden es schaffen.“<br />
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<strong>MitOst</strong> Nr. 11| Mai 2003<br />
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